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Kapitel 36.
Vereinzelte Bemerkungen zur Aesthetik der bildenden Künste.

Dieses Kapitel bezieht sich auf §§. 44 50 des ersten Bandes.

In der Skulptur sind Schönheit und Grazie die Hauptsache: in der Malerei aber erhalten Ausdruck, Leidenschaft, Charakter das Uebergewicht; daher von der Forderung der Schönheit eben so viel nachgelassen werden muß. Denn eine durchgängige Schönheit aller Gestalten, wie die Skulptur sie fordert, würde dem Charakteristischen Abbruch thun, auch durch die Monotonie ermüden. Demnach darf die Malerei auch häßliche Gesichter und abgezehrte Gestalten darstellen: die Skulptur hingegen verlangt Schönheit, wenn auch nicht stets vollkommene, durchaus aber Kraft und Fülle der Gestalten. Folglich ist ein magerer Christus am Kreuz, ein von Alter und Krankheit abgezehrter, sterbender heiliger Hieronymus, wie das Meisterstück Domenichino's, ein für die Malerei passender Gegenstand: hingegen der durch Fasten auf Haut und Knochen reducirte Johannes der Täufer, in Marmor, von Donatello, auf der Gallerie zu Florenz, wirkt, trotz der meisterhaften Ausführung, widerlich. – Von diesem Gesichtspunkt aus scheint die Skulptur der Bejahung, die Malerei der Verneinung des Willens zum Leben angemessen, und hieraus ließe sich erklären, warum die Skulptur die Kunst der Alten, die Malerei die der christlichen Zeiten gewesen ist. –

Bei der §. 45 des ersten Bandes gegebenen Auseinandersetzung, daß das Herausfinden, Erkennen und Feststellen des Typus der menschlichen Schönheit auf einer gewissen Anticipation derselben beruht und daher zum Theil a priori begründet ist, finde ich noch hervorzuheben, daß diese Anticipation dennoch der Erfahrung bedarf, um durch sie angeregt zu werden; analog dem Instinkt der Thiere, welcher, obwohl das Handeln a priori leitend, dennoch in den Einzelheiten desselben der Bestimmung durch Motive bedarf. Die Erfahrung und Wirklichkeit nämlich hält dem Intellekt des Künstlers menschliche Gestalten vor, welche, im einen oder andern Theil, der Natur mehr oder minder gelungen sind, ihn gleichsam um sein Urtheil darüber befragend, und ruft so, nach Sokratischer Methode, aus jener dunkeln Anticipation die deutliche und bestimmte Erkenntniß des Ideals hervor. Dieserhalb leistete es den Griechischen Bildhauern allerdings großen Vorschub, daß Klima und Sitte des Landes ihnen den ganzen Tag Gelegenheit gaben, halb nackte Gestalten, und in den Gymnasien auch ganz nackte zu sehen. Dabei forderte jedes Glied ihren plastischen Sinn auf zur Beurtheilung und zur Vergleichung desselben mit dem Ideal, welches unentwickelt in ihrem Bewußtseyn lag. So übten sie beständig ihr Urtheil an allen Formen und Gliedern, bis zu den feinsten Nüancen derselben herab; wodurch denn allmälig ihre ursprünglich nur dumpfe Anticipation des Ideals menschlicher Schönheit zu solcher Deutlichkeit des Bewußtseyns erhoben werden konnte, daß sie fähig wurden, dasselbe im Kunstwerk zu objektiviren. – Auf ganz analoge Weise ist dem Dichter, zur Darstellung der Charaktere, eigene Erfahrung nützlich und nöthig. Denn obgleich er nicht nach der Erfahrung und empirischen Notizen arbeitet, sondern nach dem klaren Bewußtseyn des Wesens der Menschheit, wie er solches in seinem eigenen Innern findet; so dient doch diesem Bewußtseyn die Erfahrung zum Schema, giebt ihm Anregung und Uebung. Sonach erhält seine Erkenntniß der menschlichen Natur und ihrer Verschiedenheiten, obwohl sie in der Hauptsache a priori und anticipirend verfährt, doch erst durch die Erfahrung Leben, Bestimmtheit und Umfang. – Dem so bewundrungswürdigen Schönheitssinn der Griechen aber, welcher sie allein, unter allen Völkern der Erde, befähigte, den wahren Normaltypus der menschlichen Gestalt herauszufinden und demnach die Musterbilder der Schönheit und Grazie für alle Zeiten zur Nachahmung aufzustellen, können wir, auf unser voriges Buch und Kapitel 44 im folgenden uns stützend, noch tiefer auf den Grund gehen, und sagen: Das Selbe, was, wenn es vom Willen unzertrennt bleibt, Geschlechtstrieb mit fein sichtender Auswahl, d. i. Geschlechtsliebe (die bei den Griechen bekanntlich großen Verirrungen unterworfen war), giebt; eben Dieses wird, wenn es, durch das Vorhandenseyn eines abnorm überwiegenden Intellekts, sich vom Willen ablöst und doch thätig bleibt, zum objektiven Schönheitssinn für menschliche Gestalt, welcher nun zunächst sich zeigt als urtheilender Kunstsinn, sich aber steigern kann, bis zur Auffindung und Darstellung der Norm aller Theile und Proportionen; wie dies der Fall war im Phidias, Praxiteles, Skopas u. s. w. – Alsdann geht in Erfüllung, was Goethe den Künstler sagen läßt:

Daß ich mit Göttersinn
Und Menschenhand
Vermöge zu bilden,
Was bei meinem Weib'
Ich animalisch kann und muß.

Und auch hier abermals analog, wird im Dichter eben Das, was, wenn es vom Willen unzertrennt bliebe, bloße Weltklugheit gäbe, wenn es, durch das abnorme Ueberwiegen des Intellekts, sich vom Willen sondert, zur Fähigkeit objektiver, dramatischer Darstellung. –

Die moderne Skulptur ist, was immer sie auch leisten mag, doch der modernen lateinischen Poesie analog und, wie diese, ein Kind der Nachahmung, aus Reminiscenzen entsprungen. Läßt sie sich beigehen, originell seyn zu wollen; so geräth sie alsbald auf Abwege, namentlich auf den schlimmen, nach der vorgefundenen Natur, statt nach den Proportionen der Alten zu formen. Canova, Thorwaldsen u. a. m. sind dem Johannes Secundus und Owenus zu vergleichen. Mit der Architektur verhält es sich eben so: allein da ist es in der Kunst selbst gegründet, deren rein ästhetischer Theil von geringem Umfange ist und von den Alten bereits erschöpft wurde; daher der moderne Baumeister nur in der weisen Anwendung desselben sich hervorthun kann; und soll er wissen, daß er stets so weit vom guten Geschmack sich entfernt, als er vom Stil und Vorbild der Griechen abgeht. –

Die Kunst des Malers, bloß betrachtet sofern sie den Schein der Wirklichkeit hervorzubringen bezweckt, ist im letzten Grunde darauf zurückzuführen, daß er Das, was beim Sehen die bloße Empfindung ist, also die Affektion der Retina, d. i. die allein unmittelbar gegebene Wirkung, rein zu sondern versteht von ihrer Ursache, d. i. den Objekten der Außenwelt, deren Anschauung im Verstande allererst daraus entsteht; wodurch er, wenn die Technik hinzukommt, im Stande ist, die selbe Wirkung im Auge durch eine ganz andere Ursache, nämlich aufgetragene Farbenflecke, hervorzubringen, woraus dann im Verstande des Betrachters, durch die unausbleibliche Zurückführung auf die gewöhnliche Ursache, die nämliche Anschauung wieder entsteht. –

Wenn man betrachtet, wie in jedem Menschengesicht etwas so ganz Ursprüngliches, so durchaus Originelles liegt und dasselbe eine Ganzheit zeigt, welche nur einer aus lauter nothwendigen Theilen bestehenden Einheit zukommen kann, vermöge welcher wir ein bekanntes Individuum, aus so vielen Tausenden, selbst nach langen Jahren wiedererkennen, obgleich die möglichen Verschiedenheiten menschlicher Gesichtszüge, zumal einer Rasse, innerhalb äußerst enger Grenzen liegen; so muß man bezweifeln, daß etwas von so wesentlicher Einheit und so großer Ursprünglichkeit je aus einer andern Quelle hervorgehen könne, als aus den geheimnißvollen Tiefen des Innern der Natur: daraus aber würde folgen, daß kein Künstler fähig seyn könne, die ursprüngliche Eigentümlichkeit eines Menschengesichtes wirklich zu ersinnen, noch auch nur, sie aus Reminiscenzen naturgemäß zusammenzusetzen. Was er demnach in dieser Art zu Stande brächte, würde immer nur eine halbwahre, ja vielleicht eine unmögliche Zusammensetzung seyn: denn wie sollte er eine wirkliche physiognomische Einheit zusammensetzen, da ihm doch das Princip dieser Einheit eigentlich unbekannt ist? Danach muß man bei jedem von einem Künstler bloß ersonnenen Gesicht zweifeln, ob es in der That ein mögliches sei, und ob nicht die Natur, als Meister aller Meister, es für eine Pfuscherei erklären würde, indem sie völlige Widersprüche darin nachwiese. Das würde allerdings zu dem Grundsatz führen, daß auf historischen Bildern immer nur Porträtte figuriren dürften, welche dann freilich mit der größten Sorgfalt auszuwählen und in etwas zu idealisiren wären. Bekanntlich haben große Künstler immer gern nach lebenden Modellen gemalt und viele Porträtte angebracht. –

Obgleich, wie im Text ausgeführt, der eigentliche Zweck der Malerei, wie der Kunst überhaupt, ist, uns die Auffassung der (Platonischen) Ideen der Wesen dieser Welt zu erleichtern, wobei wir zugleich in den Zustand des reinen, d. i. willenlosen, Erkennens versetzt werden; so kommt ihr außerdem noch eine davon unabhängige und für sich gehende Schönheit zu, welche hervorgebracht wird durch die bloße Harmonie der Farben, das Wohlgefällige der Gruppirung, die günstige Vertheilung des Lichts und Schattens und den Ton des ganzen Bildes. Diese ihr beigegebene, untergeordnete Art der Schönheit befördert den Zustand des reinen Erkennens und ist in der Malerei Das, was in der Poesie die Diktion, das Metrum und der Reim ist: Beide nämlich sind nicht das Wesentliche, aber das zuerst und unmittelbar Wirkende. –

Zu meinem, im ersten Bande §. 50, über die Unstatthaftigkeit der Allegorie in der Malerei abgegebenen Urtheil bringe ich noch einige Belege bei. Im Palast Borghese, zu Rom, befindet sich folgendes Bild von Michael Angelo Caravaggio: Jesus, als Kind von etwan zehn Jahren, tritt einer Schlange auf den Kopf, aber ganz ohne Furcht und mit größter Gelassenheit, und eben so gleichgültig bleibt dabei seine ihn begleitende Mutter: daneben steht die heilige Elisabeth, feierlich und tragisch zum Himmel blickend. Was möchte wohl bei dieser kyriologischen Hieroglyphe ein Mensch denken, der nie etwas vernommen hätte vom Samen des Weibes, welcher der Schlange den Kopf zertreten soll? – Zu Florenz, im Bibliotheksaal des Palastes Riccardi, finden wir auf dem von Luca Giordano gemalten Plafond folgende Allegorie, welche besagen soll, daß die Wissenschaft den Verstand aus den Banden der Unwissenheit befreit: der Verstand ist ein starker Mann, von Stricken umwunden, die eben abfallen: eine Nymphe hält ihm einen Spiegel vor, eine andere reicht ihm einen abgelösten großen Flügel: darüber sitzt die Wissenschaft auf einer Kugel und, mit einer Kugel in der Hand, neben ihr die nackte Wahrheit. – Zu Ludwigsburg bei Stuttgart zeigt uns ein Bild die Zeit, als Saturn, mit einer Scheere dem Amor die Flügel beschneidend: wenn das besagen soll, daß wann wir altern, der Unbestand in der Liebe sich schon giebt; so wird es hiemit wohl seine Richtigkeit haben. –

Meine Lösung des Problems, warum der Laokoon nicht schreit, zu bekräftigen, diene noch Folgendes. Von der verfehlten Wirkung der Darstellung des Schreiens durch die Werke der bildenden, wesentlich stummen Künste, kann man sich faktisch überzeugen an einem auf der Kunstakademie zu Bologna befindlichen Bethlehemitischen Kindermord von Guido Reni, auf welchem dieser große Künstler den Mißgriff begangen hat, sechs schreiende Mundaufreißer zu malen. – Wer es noch deutlicher haben will, denke sich eine pantomimische Darstellung auf der Bühne, und in irgend einer Scene derselben einen dringenden Anlaß zum Schreien einer der Personen: wollte nun der diese darstellende Tänzer das Geschrei dadurch ausdrücken, daß er eine Weile mit weit aufgesperrtem Munde dastände; so würde das laute Gelächter des ganzen Hauses die Abgeschmacktheit der Sache bezeugen. – Da nun demnach aus Gründen, welche nicht im darzustellenden Gegenstande, sondern im Wesen der darstellenden Kunst liegen, das Schreien der Laokoon unterbleiben mußte; so entstand hieraus dem Künstler die Aufgabe, eben dieses Nicht-Schreien zu motiviren, um es uns plausibel zu machen, daß ein Mensch in solcher Lage nicht schreie. Diese Aufgabe hat er dadurch gelöst, daß er den Schlangenbiß nicht als schon erfolgt, auch nicht als noch drohend, sondern als gerade jetzt und zwar in die Seite geschehend darstellte: denn dadurch wird der Unterleib eingezogen, das Schreien daher unmöglich gemacht. Diesen nächsten, eigentlich aber nur sekundären und untergeordneten Grund der Sache hat Goethe richtig herausgefunden und ihn dargelegt am Ende des elften Buches seiner Selbstbiographie, wie auch im Aufsatz über den Laokoon im ersten Heft der Propyläen; aber der entferntere, primäre, jenen bedingende Grund ist der von mir dargelegte. Ich kann die Bemerkung nicht unterdrücken, daß ich hier zu Goethen wieder im selben Verhältniß stehe, wie hinsichtlich der Theorie der Farbe. – In der Sammlung des Herzogs von Aremberg zu Brüssel befindet sich ein antiker Kopf des Laokoon, welcher später aufgefunden worden. Der Kopf in der weltberühmten Gruppe ist aber kein restaurirter, wie auch aus Goethe's specieller Tafel aller Restaurationen dieser Gruppe, welche sich am Ende des ersten Bandes der Propyläen befindet, hervorgeht und zudem dadurch bestätigt wird, daß der später gefundene Kopf dem der Gruppe höchst ähnlich ist. Wir müssen also annehmen, daß noch eine andere antike Repetition der Gruppe existirt hat, welcher der Arembergische Kopf angehörte. Derselbe übertrifft, meiner Meinung nach, sowohl an Schönheit als an Ausdruck den der Gruppe: den Mund hat er bedeutend weiter offen, als dieser, jedoch nicht bis zum eigentlichen Schreien.

 


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