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Es war den Seinen aufgefallen, daß Tom auch in allen körperlichen Übungen Leistungen aufwies, die über den Durchschnitt hinausgingen. Wie er ein tüchtiger Turner und Schwimmer war, so machte er jetzt auch im Reit- und Fechtunterricht gute Fortschritte.
Eigentlich war er physisch nicht ganz so kräftig wie seine beiden älteren Brüder, von denen namentlich Detlev ein wahrer Athlet zu werden versprach; seine Kraft war sensibler, und daher vielleicht nicht ganz so gleichmäßig; doch sobald er bei solchen Gelegenheiten erst mal Lehrgeld bezahlt hatte, erwachte sein Ehrgeiz. Sie hatten z. B. im Turnen eine Übung, bei der sich zwei Gegner zwischen zwei Stäben gegenüberstanden, wobei jeder die Stäbe bei einem Ende fest anpackte und dann dergestalt mit dem anderen rang, daß der eine möglichst weit zurückgedrängt oder zum Straucheln gebracht und niedergeworfen wurde. Es war aber jener Ehrgeiz gewesen, der Tom angespornt hatte, sich gelegentlich einer solchen Übung mit einem Gegner zu messen, der ihm an robuster Kraft nicht unbedeutend überlegen war. Er hatte einen recht schweren Stand gehabt, bis plötzlich der entschiedene Wille in ihm erwacht war, den anderen zu besiegen. Und zu aller Erstaunen hatte der schlankere Tom den massiveren Gegner zum Straucheln gebracht und geworfen. Es war für ihn eine ziemlich sauere Anstrengung gewesen. Er hatte nach dem Kampf für ein paar Sekunden, von einem Schwindelanfall befallen, dagestanden und erst wieder zu sich kommen müssen; doch war ihm davon nichts anzumerken gewesen.
Durch den Reit- und Fechtunterricht kam er jetzt in einen ausgedehnteren und recht munteren Verkehr mit jungen Leuten, von denen viele schon jetzt den Ehrgeiz hatten, später mal tüchtige Sportsleute zu werden, die aber ihrer Kraft und ihrer Munterkeit auch mit allerlei ausgelassenen Streichen Luft machten.
Tom führte in dieser Zeit eine Art von Doppelleben. Er machte diesen Verkehr, und zwar nicht ohne eine wirklich interessiertere Anteilnahme, mit, zugleich aber hielt er sich nach wie vor mit seinem eigentlichsten Innenleben für sich. Noch immer liebte er seine einsamen Märsche, auf denen er sich seinem Gedankenleben hingab. In Geldangelegenheiten – Vater gab ihm kein besonders großes, aber doch ganz anständiges Taschengeld, zu dem auch Großmama ihr Teil hinzufügte – war er nicht peinlich, verschwendete gelegentlich sogar, so daß er mit seinen »Mitteln« in Verlegenheit kommen konnte, doch niemals die Selbstkontrolle verlor. Im allgemeinen hatte er, wohl von Mutter ererbt, einen Hang zum Haushälterischen, zum mindesten zur Ordnung in seinen Angelegenheiten.
Zu einem seiner Fechtbodenkameraden war er in eine nähere, freundschaftlichere Beziehung gekommen. Er hieß Ralph Sorau und saß noch immer, obgleich schon achtzehn Jahre alt, in der Untersekunda des städtischen Realgymnasiums. Er war der Sohn eines Großkaufmannes.
Ralph Sorau war über seine Jahre hinaus entwickelt. Von gleicher Größe wie Tom, hoch von Statur, besaß er Bärenkräfte und einen wahren Herkuleskörper, dessen mächtige Muskulatur sich durch einen dunkelblauen, mit lichtblauen Längsstreifen durchschossenen Jackettanzug hindurchzeichnete. Der Anzug war aus bestem englischen Tuch, wirkte aber nach so etwas wie schäbiger Eleganz, weil Ralph mit ihm gelegentlich seiner oft schon arg verwegenen Streiche durch Dick und Dünn ging. Aber gerade deshalb liebte er seinen »alten Jottfried«, wie er ihn nannte; auch nahm er sich mit seiner prächtigen Gestalt in ihm stets nach etwas Besonderem aus. Auf einem eher kurzen Hals hatte er einen wohlgeformten Kopf sitzen, der aber auf seinem Riesenkörper zu klein wirkte. Er hatte reiches, schlicht von einem Mittelscheitel nach beiden Seiten gekämmtes schwarzes Haar, kleine, gut geformte Ohren und unter niedriger, breiter Stirn eine ebenmäßige, schmalrückige Adlernase und unternehmungslustige, sehr lebhafte, braune Blitzeaugen. Sie zeigten einen fast mandelförmigen Schnitt und gaben im Verein mit den schwarzen, scharfgezeichneten Brauen, die erst regelmäßig wagrecht gingen, um dann gegen die Schläfen hin sich aufwärts zu biegen, seinem gesund gebräunten Gesicht einen tigermäßigen Ausdruck, der aber durch einen Schalk um den kleinen Mund, der pralle, gesund rote Lippen hatte, und um das breite, feste Grübchenkinn herum gemildert wurde. Seine Füße waren klein, fest, wohlgeformt; auch seine muskelharten, gebräunten, haarigen Hände, die verhältnismäßig feine Gelenke hatten, waren klein.
Seine nähere Bekanntschaft hatte Tom bei einer Gelegenheit gemacht, die insofern eine ungewöhnliche war, als sie eine große Gefahr für Tom bedeutet hatte. Sie waren auf dem Paukboden beim Rapierfechten gewesen. Es hatte eine Pause stattgefunden. Man hatte beieinandergestanden und eine so angeregte Unterhaltung geführt, daß Tom, als man wieder antrat, im Eifer vergessen hatte, den Paukkorb aufzusetzen, und das auch niemand bemerkt hatte. Auch seinem Partner, der diesmal Ralph Sorau war, und der seinerseits den Paukkorb aufhatte, war es nicht aufgefallen. Sie hatten dann zu pauken angefangen, und Tom hatte sich einige Gänge hindurch gegen Ralph, einen der vorzüglichsten und kräftigsten Fechter, so gut gehalten, daß der ihm nicht angekommen war. Beim nächsten Gang aber hatte sich's dann ereignet, daß er Ralph angekommen war und ihm eine Hochterz übergezogen hatte. Dabei hatte sich nun die Spitze seines Rapieres hinten in dem Drahtgeflecht von Ralphs Korb verfangen, und der Korb war Ralph mit einem so kräftigen Schwung vom Kopf geflogen, daß er auf Terzseite eine ganze Strecke über die Holzdielen des Fußbodens hingerasselt war.
Ralph hatte zuerst gelacht; als er dann aber wahrgenommen, daß Tom ohne Korb war, war er ernst geworden.
»Donnerwetter! Sie haben ja ohne Korb gefochten. Körber? Haben Sie das mit Absicht getan? Na, à la bonne heure! Aber eigentlich 'ne etwas riskante Chose gewesen!«
»Mit Absicht? – Wie denn? Ich habe keinen Korb?« hatte Tom gerufen und sich nach dem Kopf gefaßt. »Wahrhaftig! Ich bin ja ohne Korb! – Nein, ich hab's nicht gewußt.«
»Na, dann gratulier' ich!« hatte Ralph gelacht. »Wirklich, alles Mögliche! – Aber doch ein Zufall! Denn es hätte sicher gut sein können, daß ich Ihnen angekommen wäre, und dann hätte die Sache für Sie eklig ablaufen können.«
Tom war ernst geworden und erbleicht. Freilich hätte es, und zwar sehr, schlimm ablaufen können. Denn die vorn stumpfen und übrigens meist mit Staub und Rost bedeckten Paukbodenrapiere machen viel bösere Wunden als die scharfgeschliffenen, tadellos sauberen Mensurklingen, so daß eine Blutvergiftung nichts weniger als unwahrscheinlich gewesen wäre; und außerdem hätte es auch ohnedies bei Ralphs ungeheuerer Kraft eine sehr schlimme Sache werden können. Für einen Moment war Tom ein kalter Schauer den Rücken hinabgelaufen. Vielleicht hatte er wieder mal dicht vor einer Todesgefahr gestanden. Aber das Seltsame, daß er Ralph gerade den Korb hatte vom Kopf herunterholen müssen.
Sie hatten dann einen Händedruck gewechselt und waren nachher auf dem Nachhauseweg in ein interessierteres Gespräch miteinander gekommen, dessen weitere Folge ein häufigerer Verkehr und der Abschluß einer Duzfreundschaft gewesen war. Allerdings hatte der Verkehr noch dadurch eine besondere Gelegenheit bekommen sich zu entwickeln, daß eine Anzahl der Paukbodenkameraden sich zu einer Art von Klub zusammengetan hatten, der hinter der Schule herum im Hinterzimmer einer kleinen Kneipe der Innenstadt an bestimmten Abenden zusammenkam, und dem auch Ralph und Tom angehörten. Es wurde geraucht, gezecht und Skat gespielt.
Ralph Sorau hatte keinerlei »geistige Interessen«, doch seine Kraft, seine Gesundheit, sein ganz und gar eigenständiges und mutterwitziges Wesen, seine »Anständigkeit« und unternehmungslustige Unruhe, eine Art von abenteuerlichem Wandertrieb, der sich in der »Zwangsjacke der Schule« und des elterlichen Hauses herzhaft unglücklich fühlte, hatten es Tom angetan. Dieser wunderte sich, verwandte Eigenschaften seines eigenen Wesens erwachen zu fühlen, die ihm bisher noch kaum je so zum Bewußtsein gelangt waren. Es kam vor, daß Ralph gelegentlich mal für eine ganze Zeit aus der Schule und seiner Familie irgendwohin verschwand. Er hatte sogar schon Abstecher auf eigene Faust nach Amsterdam, Kopenhagen und Christiania gemacht. Wenn er zurückkam, setzte es zu Hause natürlich eine gehörige Szene, die er aber von sich abprallen ließ. Es stand fest, daß er auf dem Ansprung war, eines Tages überhaupt für immer zu verschwinden.
Solche Geschichten machte Tom nun zwar nicht mit, aber eines Tages war er mit Ralph übereingekommen, daß sie in den Pfingstferien eine mehrtägige Fußwanderung unternehmen wollten, die von vornherein als ein Abenteuer gedacht war.
Ralph, der am entgegengesetzten Ende der Stadt in der Stromgegend wohnte, sollte am bestimmten Tage früh acht Uhr Tom abholen kommen, da die Villa Körber am Wege lag.
Zur rechten Zeit stellte er sich denn auch ein. Und zwar, ganz nach seiner Gewohnheit, ›ohne weiteren Apparat‹, in seinem dunkelblauen Anzug, ein formloses, rehfarbenes Lodenhütchen auf. Tom sah ihn durch den Vorgarten »dahergetölpelt« kommen – ein Ausdruck aus Ralphs »Lexikon« –, die eine Hand in der Hosentasche, während die andere mit nicht allzu großer Eile eine halbaufgerauchte Zigarette beiseite warf.
Tom nahm ihn in Empfang und führte ihn in das zu ebener Erde gelegene Wohnzimmer, wo sich gerade Mutter befand.
Ralph begrüßte sie mit ein paar etwas originellen Bücklingen, die ebensogut Selbstpersiflage, Befangenheit oder freches Selbstbewußtsein besagen konnten.
Mutter erwiderte den Gruß nicht gerade unfreundlich, jedoch mit etwas mißtrauischer, zugleich belustigter Zurückhaltung.
»Einen Marsch wollen Sie miteinander machen?« sagte sie. »Aber Sie sind nicht gerade marschmäßig ausgestattet?«
»Wohl, gnäd'ge Frau!« Ralph machte abermals eine kurze Verbeugung, wobei er aber rot geworden war und mit der Hand auf eine sonderbare Art irgendwohin hieb. »Wie der Wandsbecker Bote: ›Omnia sua secum portans‹.«
»Aber das ist Latein, das versteh' ich nicht«, lachte Mutter.
»Oh, auf deutsch also« – er beschrieb abermals die sonderbare Handbewegung – »›alles da‹, wie jener Berliner Schusterjunge sagte.«
»So! – Na ja!« lachte Mutter. »Du kommst wohl noch mal in die Küche, Tom, und holst dir deine Sachen. – Also, ich wünsche viel Vergnügen!« wandte sie sich im Hinausgehen noch einmal zu Ralph.
»Oh, ich danke, gnäd'ge Frau!« antwortete der und machte für den Abschied noch eine Verbeugung.
»Hoffentlich behalten Sie aber gutes Wetter«, sagte Mutter dann noch. »Es ist warm. – Möglich, daß es, vielleicht sogar heute noch, ein gehöriges Gewitter gibt.«
Sie nickte ihm noch einmal, nicht unfreundlich, zu und begab sich mit Tom in die Küche. Tom war mit seinem Lodenanzug angetan und hatte auch einen gutgefüllten Tabaksbeutel in der Tasche und eine gute Shagpfeife mit Büffelhornmundstück und Silberbeschlag, die ihm Vater zu seinem letzten Geburtstag geschenkt hatte.
»Was hast du denn da für ein Büffelkalb mitgebracht?« erkundigte sich Mutter, als sie in der Küche waren, mit Humor, doch nicht ganz ohne Mißtrauen, während sie ihm Rotwein in die Umhängeflasche goß.
»Rau!« Tom lachte.
»Wie? Rauh?«
»Nein ›Rau‹, ohne h, Mama! Ralph Sorau heißt er ja. – Aber ich nenne ihn so, und er nennt mich schlechtweg ›Korb‹, für Körber ›Korb‹.«
»Ach so. – Du hast ihn wohl beim Fechten kennengelernt?«
»Ja.«
»So, na! – Ich würde mich an deiner Stelle aber nicht zuviel mit ihm einlassen; ich glaube, er taugt nicht gerade viel.«
»Wie denn? Meinst du, daß er falsch ist zu mir?«
»Nein, aber ich traue ihm zu, daß er Streiche macht, bei denen du am Ende doch lieber nicht mittust.«
»O ja, das trau' ich ihm auch zu«, lachte Tom.
»Na, hast du alles?« erkundigte sich Mutter pressiert.
»Noch einen ordentlichen dicken Block Schokolade könntest du mir mitgeben, Ma', dann ist alles in Ordnung.«
Mutter gab ihm das Gewünschte, und er steckte es in die Tasche.
»Adieu, Mama!«
Da er für ein paar Tage fortzubleiben gedachte, tauschte er mit Mutter noch einen Abschiedskuß.
»Also, macht keine Streiche!«
»Nein, nein! Aber doch sicher nicht, Ma'!« rief Tom, halb schon draußen, lachend nochmal zurück.
Im Hausflur nahm er dann seine Sportmütze von der Garderobe, ergriff seinen Wanderstock, rief Ralph in das Wohnzimmer hinein zu, daß er bereit sei, und sie brachen auf.