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Von da an blieb er der Küche fern. Dafür kam er aber wieder regelmäßig zu Großmama hinüber.
Besonders liebte er's, diese Nachmittage, die man jetzt hatte, bei ihr zuzubringen.
Es war Mitte November, und ein Witterungsumschlag hatte Nebel gebracht. Die weiß verhüllte, stille Nebelstimmung draußen mit ihren abgedämpften Lauten und Geräuschen, die das warme Zimmer noch gemütlicher in sich abschloß, die Vorweihnachtsstimmung hatten es von selbst mit sich gebracht, daß Großmama ihm Geschichten und Märchen erzählte, und er war versessen darauf, ihr zuzuhören.
Ihr eigenes Behagen an diesen Stunden, ihre zum Romantischen und Phantastischen neigende Gemütsart, ihre Liebe zu dem Kleinen und die unsagbare Freude, sein vor Hingabe erglühtes Gesichtchen mit der Unschuld seiner innigst mitlebenden Augen unverwandt zu sich emporgerichtet zu sehen, wie er mit beiden Ärmchen ihr auf dem Schoß lag, machten sie zu einer unermüdlichen Erzählerin.
Nie vergessene Seligkeit solcher Kindheitsstunden!
Es war das immergleiche. Die unverwüstlichen, lieben alten Volksmärchen der Grimm, die von »Tausendundeiner Nacht«, »Lederstrumpf«, »Robinson«. Doch waren es auch Erzählungen von Reisen in den fremden, tropischen Ländern, Meerfahrten und Kolonisationen. Und es waren besonders die letzteren, die der Kleine mit Vorliebe hörte.
Vornehmlich lebte er sich in eine dieser Erzählungen ein, die ihm dann auch mit all ihren Einzelheiten und ganz mit der unbeschreiblich wundersamen Stimmung, mit der das Kind dergleichen in sich aufnimmt, ein für allemal in unvergeßlicher Erinnerung blieb und sich vielleicht dann tiefer in ihm auswirkte.
Es handelte sich um das Schicksal eines kleinen Ansiedlertrupps, die Entstehung einer Siedlung im amerikanischen Urwald. Ein erstes Anheben, ein Voran und neues Werden, durch das sich ein Sicheres, Bestimmtes mühevoll Schritt für Schritt aus dem Ungewissen, dem Dunkel von hundert Gefahren und Beschwernissen, aber unbeirrt, hervorringt. Das alte Vaterland hat die kleine Schar nicht mehr geduldet, sie selbst hat es im alten Bereich nicht mehr geduldet, auf eigene Faust suchen sie sich ihre eigene Welt im Rauhen und Unwirtlichen und eine Heimat. Nichts in aller Welt hat sie mehr außer sich selbst, ihrem Trieb und Wagemut.
Deutsche Bauern fahren hin im Zwischendeck eines großen Segelschiffes – denn Dampfer gab es damals noch nicht – über den großen wilden Ozean mit seinen Orkanen und grauslichen Wogen, über den schrecklichen Abgrund hin mit seinen Geheimnissen, Wundern, Schrecken, die keines lebenden Menschen Auge je erblicken darf.
»Siehst du, in so einem Zwischendeck ist es nicht gerade angenehm, Tom! Nein, gar nicht. – Wenn du erst größer bist, wirst du auch solch groß' Schiff und solch Zwischendeck zu sehen bekommen, und wirst dann verstehen, was die armen Auswanderer da alles auszustehen hatten auf der langen Fahrt über das wilde Weltmeer, wo überall nur Himmel und Wasser ist und die schrecklichen großen Wellen krachen. Denn damals dauerte das ja viel länger nach Amerika hinüber als heute mit den großen Dampfschiffen.«
Aber endlich kamen sie ja an, hatten Sturm und Wogen und Zwischendeck überstanden. Denn sie müssen ja doch hinkommen; wie denn sonst sollten sie den Urwald lichten und eine Ansiedlung gründen können? Mit allen möglichen Dingen und Geräten, die sie brauchen, haben sie sich aber auch Blumensamen aus der alten Heimat mitgebracht. Sie haben dort zwar nachher vielleicht noch viel schönere Blumen, aber sie wollen sich doch zur Erinnerung auch ein Gärtchen mit den lieben, alten deutschen Blumen anlegen. Die Hauptsache ist freilich aber, daß sie sich erst mal noch andere notwendige Dinge einkaufen. Zuerst große Wagen mit Segeltuchplanen drüber und Pferde oder Maultiere dazu. Dann Äxte, Beile, Sägen und was alles. Auch Bowiemesser und Gewehre und viel Pulver und Blei. Sie werden sie zwar hauptsächlich für die Jagd auf die wilden Tiere gebrauchen und damit sie Wildbret bekommen: manchmal werden sie sich nun doch aber auch gegen böse Menschen und die wilden Indianer wehren müssen.
Aber da war Großmama plötzlich von Tom unterbrochen worden. Er hatte den Arm zu ihr hinaufgehalten und hatte gerufen:
»Großmama, sieh mal: meine Handgelenke werden jetzt anders.«
Überrascht hatte sie ihre Erzählung unterbrochen und ihre Aufmerksamkeit seinem bloßen Handgelenk zugewandt. Es war wieder eine von seinen, oft bis zum direkten Erschrecken klugen und unmittelbaren Äußerungen gewesen. Unwillkürlich wandte sie ihre Aufmerksamkeit von seinem Handgelenk auf sein Jäckchen ab. Es war, wie immer, von oben bis unten zugeknöpft. Auch das war eine seltsame Eigenheit von ihm, auf die er ganz von selbst gekommen war. Man hatte es zwar bemerkt und ihn angehalten, das Jäckchen aufgeknöpft zu tragen, doch ohne Erfolg. Ganz unwillkürlich knöpfte er es wieder zu, war davon, obgleich er ja nicht zu Ungehorsam neigte, nicht abzubringen gewesen. Er achtete also auch auf seinen Körper und sein Wachstum; es war ihm aufgefallen, daß mit seinen anfänglich runden, dicken Handgelenken eine Veränderung vor sich gegangen war.
»Ja, mein Tomchen«, sagte Großmama, »deine Handgelenke werden ja jetzt magrer, weil du doch kein so dickes, kleines Baby mehr bist, sondern ein großer Junge wirst mit richtigen festen Knochen und kräftigen Muskeln. Du wächst ja jetzt, wirst immer größer, bis du einen Schnurrbart kriegst und Soldat wirst.«
Tom nickte. Doch drängte er jetzt eifrig nach der Fortsetzung der Erzählung, und die alte Dame dachte, es sei gar nicht unwahrscheinlich, daß er seine Äußerung aus deren Zusammenhang heraus getan.
Wenn die Ansiedler nun aber alle Einkäufe besorgt haben, dann machen sie sich von den großen Städten aus, in deren Häfen sie gelandet sind, auf zur Fahrt nach dem Südwesten mit seinen wilden Gebirgen, Prärien und Urwäldern. Ja, durch rauhe, himmelhohe Gebirge müssen sie, durch große, reißende Ströme und Flüsse, über die endlosen Prärien und durch öde, steinige Wüsten, wo den ganzen Tag die Sonne auf sie niederbrennt, und durch hundert Gefahren. Immer, immer fahren sie mit ihren Wagen so vorwärts, immer weiter und weiter vorwärts. Aber – Großmama lächelte – getrost: sie haben guten Mut und rauchen dabei ihr Pfeifchen. Denn es versteht sich, daß sie sich auch Tabak gekauft haben, weil sie doch unterwegs einen kleinen Zeitvertreib haben wollen.
Endlich aber kommen sie an. Eines Tages, so stellte Tom sich's vor, und so behielt er's sein Leben lang in der Erinnerung, kommen sie zwischen zwei langen, sehr hohen, dunkelgrünen Heckenwänden hindurch, die nahe beieinander sind, und es ist Abend und wird schon dunkel. Dann aber kommen sie um die Ecke der einen Heckenwand herum auf eine große Waldlichtung, und ringsum starrt in der Einöde schwarz und schaurig der himmelhohe, fremde Urwald, und die wilden Tiere knurren drin, fauchen, ächzen, brüllen und heulen, und hoch darüber ist der Himmel mit seinen vielen Sternen, so daß in der Dunkelheit doch auch ein bißchen Licht ist. Die einen spannen nun die Pferde aus und rücken die Wagen in einen Kreis zusammen, der die Wagenburg ist, hinter der sie sich gegen die wilden Tiere, Indianer und Räuber verteidigen können, andere aber schlagen in der Wagenburg die Zelte auf, in denen sie die Nacht durch schlafen. So haben sie doch schon einen ersten Schutz und ein Zuhause. Dann brennen sie große Feuer an, an denen sie sich ein Abendessen bereiten können, und vor dem sich auch die wilden Tiere fürchten. Wenn sie aber gegessen haben, legen sie sich in den Zelten schlafen. Zum erstenmal gehen sie in der neuen Heimat, die sie nun haben, schlafen. Welche aber stehen mit ihren geladenen Flinten vor der Wagenburg bei den Feuern, die der wilden Tiere wegen immer brennen bleiben müssen, Wache.
Und dann kommt der erste Morgen in der neuen Heimat. Die Wipfel der mächtigen alten Bäume sind hoch oben rot von der Morgensonne. Ihre Stämme aber stehen unten noch in grauem Dämmerlicht, und die Waldtiefe dazwischen ist noch schwarz. Aber das Licht oben sieht so schön und feierlich aus und wird immer heller, und leise braust der Morgenwind in den lichten Baumkronen. Drin im Wald aber, wo das schreckliche Geknurr, Gefauche, Geheul und Gebrüll der wilden Tiere jetzt verstummt ist, singen all die neuen, fremden Vögel ihr Morgenlied. Einer von ihnen aber singt am allerschönsten, so hell, klar, tief wie eine schöne Glocke. Das ist die Nachtigall der neuen Heimat. Sie singt noch viel schöner als die Nachtigall der alten, deutschen.
Die Sonne aber steigt immer höher am Himmel herauf, und immer lichter und herrlicher wird der Wald. Lange Schlinggewächse winden sich an den mächtigen Baumstämmen hinauf, bis hoch in die breiten Kronen hinein, und man kann die schönen, großen Blumenkelche mit ihren leuchtend bunten Farben sehen, die daran hängen. Und in den Büschen und im hohen Grase leuchtet es von herrlichen, fremden, bunten Blumen. Auch sieht man schöne, bunte Vögel hin und her fliegen, und allerlei seltsames Getier läuft, hüpft und kriecht zwischen Büschen und Gräsern und springt in den Bäumen umher.
Was es alles für neue, sonderbare Bäume gibt! Da sind die riesigen Sandelholzbäume, die so hoch sind wie der Turm eines Domes, und durch die man unten eine Fahrstraße hauen kann. Draußen aber auf der Prärie ragen die mächtigen, unbeschreiblich herrlichen Patriarchenbäume, die mit ihrem bis auf den Erdboden herabreichenden Laubdach sich ausnehmen wie Berge aus gleißendem Silber. Und dann gibt es die großen Baobabs, auf denen Brote wachsen, so daß sie auch Brotbäume genannt werden.
Die Ansiedler aber, die frisch und guten Mutes aufgewacht sind, haben nicht viel Zeit, das alles zu bewundern. Denn die Hauptsache ist, daß sie an die Arbeit gehen. Erst machen sie sich aber, um sich zu stärken, ihr Frühstück zurecht. Dann aber müssen sie gleich mit den Arten in den Wald hinein und Holz fällen. Denn sie müssen sich ja so schnell wie möglich Blockhäuser bauen und auch einen festen Wall von Palisaden ringsherum, damit sie ihre Sachen unterbringen können und erst mal eine sichere Wohnung haben, in der sie vor den wilden Tieren und Menschen und auch vor den schrecklichen Unwettern Schutz finden, die's hier gibt. Dann aber sind endlich die ersten Blockhäuser und der Wall fertig. Auch ein Herd ist darin und Feuer drauf; und nun sind sie erst recht zu Hause, und irgendein Seelchen kann sich am warmen Herde sicher und zu Hause fühlen.
Noch aber sind an den Türen nicht die Riegel und Schlösser angebracht; wenn Gefahr käme, könnten sie doch noch nicht richtig abschließen. Doch endlich sind auch die da. Und jetzt können die Indianer kommen. Und die kommen denn auch. Aber hinter ihrem Wall brauchen sich die Ansiedler nicht zu fürchten und schießen tapfer auf sie los, und jeder trifft, versteht sich, seinen Mann.
Dann gehen und kommen die Tage in harter Arbeit, und es ist ein rauhes, saueres, aber freies, frisches Leben, das ihnen zusagt und das sie bedürfen. Trotz Unwettern, Stürmen, Überschwemmungen entstehen Äcker, Wiesen, Gärten, und der schreckliche Wald lichtet sich immer mehr. Auch gewinnen sie Anschluß an andere Siedler. Und schließlich wird die Ansiedlung immer größer und größer, und sie bauen sich dann auch richtige Steinhäuser und eine Kirche. Auch ihre Freuden und Zerstreuungen machen sie sich. Wie ist es schön, wenn sie zum Feierabend oder Sonntags oder zu den Festen die Ziehharmonika oder auf der Maultrommel spielen und dazu singen und tanzen!
Doch sie sprach zu Tom, oder in seiner Gegenwart, auch von anderen Dingen. Sie konnte, wenn sie den Kleinen still ansah und beobachtete, manchmal die fast mystische Empfindung haben, daß er tatsächlich die neue Verkörperung ihrer so vom Unglück verfolgten Familie war. Und es war ihr, nicht bloß so in einem bildlichen Sinne, als ob ihr aus seinen gescheiten, grauen Augen unter dem dunklen Kraushaar vor ein tieferer, geheimnisvoller Lebenswille all derer, die je die Ihren und ihr lieb und teuer gewesen, entgegenblickte, als frage er sie nach ihrem innersten Leid und wolle es zu seiner Erlösung bringen und einer neuen, besonderen, schöneren Lebenserfüllung entgegen fördern.
Während der Kleine sich in ihrer Nähe mit einem Spiel beschäftigte oder zeichnete, oder tuschte – auch darauf verstand er sich schon –, oder in einem Buche buchstabierte, das er sich aus dem Bücherschrank hervorgezogen hatte, konnte es geschehen, daß sie, von diesem Anblick überwältigt, still vor sich hin weinte. Sobald der kleine Tom das aber merkte – und er nahm alles wahr –, kam er eilig zu ihr hin, schmiegte sich an sie und fragte dringlich, ob er artig sei? Dann zog sie ihn wohl auf den Schoß, liebkoste und küßte ihn, und das Kind freute sich, erwiderte diese Liebkosungen, sah Großmama aber mit großen, betroffen forschenden Augen an. Bis sie dann mit einemmal heiter und ganz munter wurde, mit ihm scherzte und lachte, spielte, oder plötzlich kichernd und sich behaglich die Hände reibend, aufsprang, durchs Zimmer huschte und ihm und sich etwas Gutes zu essen oder zu trinken holte.
Ernster und mit mehr Haltung, ja mit Stolz und einer gewissen Herbheit aber sprach sie zu anderer Zeit zu ihm von hohen Lebenszielen, Mannheit und Opfermut, ganzer Einsetzung des Lebens und Ehrgefühl, von Gott und Göttlichem und hohem, edlem Sinn. Oder sie half ihm bei seinen kleinen Arbeiten, erteilte ihm Unterweisungen, half ihm seine durch erste Lektüre angeregte Gedankenwelt ordnen. Auch hielt sie ernstlich darauf, daß er auf sein Benehmen achtete, und brachte ihm die Erziehung der Lebenskreise bei, denen sie entstammte.
Zu dieser Erziehung gehörte es auch, daß sie anfing, mit dem Kleinen Französisch zu sprechen. Sie hatte dabei den Ehrgeiz, daß er's so geläufig wie die Muttersprache sprechen lernen sollte. Sie hatte gewisse Tage und Stunden bestimmt, wo sie ihm diesen Unterricht erteilte und nach Möglichkeit und seinem derzeitigen Vermögen angemessen, nur Französisch mit ihm sprach. Auch hier durfte sie bei ihm, den Umständen nach, leichte Auffassung und gute Fortschritte feststellen.
Doch sollten diese Übungen zu einem ersten heftigen Auftritt zwischen dem Kleinen und Lise führen.
Tom hatte gelegentlich in der Kinderstube Detlev und Karl gegenüber, die nun schon beide die Schule besuchten, mit seinen neuen Kenntnissen ausgekramt. Sie waren zuerst sehr erstaunt gewesen, hatten ihn dann aber ausgelacht. Nun mochte er wohl gemeint haben, daß, wenn Großmama, auch Mutter mit ihm Französisch sprechen könnte; und so hatte er, als er eines Nachmittags bei ihr im Wohnzimmer war, auch ihr gegenüber mit seinen Kenntnissen ausgelegt.
»O sieh, was Kuckuck!« hatte Mutter da aber aufgelacht. »Bist du mit einemmal ein Franzos geworden? Nun wird das freilich die höchste Zeit! Bist ja all über fünf Jahre! Snakst mit Großmutter wohl rein bloß noch Französisch, wie?«
Diesmal hatte ihr Verhalten aber eine andere Folge als im Fall von Detlev und Karl; denn Tom hatte aus Mutters Worten gar wohl herausgehört, daß sie auf Großmama bös war. Er hatte mit einemmal aufgeschrien, dann sich aber auf den Fußboden geworfen, geschrien und mit Händen und Füßen um sich geschlagen.
Mutter war zuerst ganz entsetzt aufgesprungen, weil sie gemeint hatte, er hätte einen Krampfanfall bekommen; dann aber hatte sie gemerkt, daß es sich um eine bis dahin noch nicht zum Vorschein gekommene Anlage zum Jähzorn handelte, und unter einem gereizten Lachen hatte sie gerufen:
»O sieh! Was ist denn das. Söhnchen? – I, du böser Schlingel, du kommst Mutter so? Du – Franzos, du?«
Und sie hatte ihn zu fassen gekriegt und ihm eine empfindliche Tracht Prügel verabfolgt.
»Nun, wirst du dir das merken, Jungchen? – Noch einmal untersteh' dich so was, dann kannst du was von Vater erfahren! Verstehst du?«
Darauf hatte sie das Zimmer verlassen und heftig die Tür hinter sich zugeschlagen.
Tom war sofort still geworden. Langsam hatte er sich in sitzende Haltung gebracht und erschrocken nach der Tür hingestarrt, die eben mit einem so entsetzlichen Krach hinter Mutter ins Schloß geschlagen war.
Die recht empfindlichen Schläge, die sie ihm versetzt, hatte er kaum gefühlt; sie hatten ihn nur mit einemmal zur Besinnung gebracht, daß er sehr böse gewesen war, und daß er so etwas noch nie getan hatte. Und nun überfiel ihn ein jäher Schreck und eine schreckliche Niedergeschlagenheit. Mit zerzaustem Haar und tränenverquollenem Gesicht, geängstigt, starrte er umher. Das Zimmer war plötzlich so totenstill und öde, wie in einem Schreck erstarrt. Starr, tot und kalt standen die Möbel umher, tackte die Uhr und grinste das greuliche Bronzescheusal vom Ofensims auf ihn herab. Die Nachmittagssonne, die zu den drei Fenstern hereindrang, stach ihm grell, bös, höhnisch in die verschwollenen, geröteten Augen. Von neuem warf er sich, das Gesicht in den Händen, hin und brach vor Scham, Reue, Schreck über sich selbst in ein bitterliches Weinen aus. Dies Weinen aber ging in das Gedenken über, wie gut Mutter immer zu ihm gewesen war, und wie sie ihn gepflegt hatte, als er krank gewesen war, und daß er jetzt im Grab läge und tot wäre, wenn Mutter ihn nicht gepflegt hätte, und er wurde plötzlich still.
Obgleich Mutter so böse Worte zu ihm gesprochen hatte, wie er sie noch niemals von ihr gehört, begriff er jetzt, wie sehr er sie betrübt, und daß er das doch gar nicht gewollt hatte, sondern er hatte selbst nicht gewußt, wie ihm mit einemmal geworden war; und eine Sehnsucht überkam ihn, schnell raffte er sich vom Boden auf, rannte zur Tür hin, klinkte auf und lief durch den Flur zur Küche, um Mutter zu bitten, wieder gut zu Ihm zu sein, und ihr zu versprechen, daß er nie, nie wieder so böse sein wollte.
Doch als er plötzlich aus der Küche, die, wie er jetzt an dem Lichtschein, der auf den Flur herausfiel, erkannte, offenstand, laute, aufgeregte Worte hörte, blieb er stehen, wurde bleich, zitterte und lauschte, während ihm das Herz bis in die Kehle pochte.
Mutter sprach zu jemand. Und jetzt hörte er, daß es die Naumannsche war. Und Mutter erzählte der Naumannschen – der Naumannschen! –, was er für ein »böser Bengel« wäre, um den man sich neuerdings wohl ganz und gar Sorge machen müsse; und dann schalt Mutter auf Großmama und lachte, und sagte, was das für ein dummes Zeug wäre, daß sie den »Jungen«, der noch nicht mal in die Schule ginge und sowieso schon verdreht genug wäre, auch noch Französisch »plappern« lehre.
Und es war die Naumannsche, der Mutter das alles sagte, die Naumannsche!
Er zitterte am ganzen Leib, vor Schreck und Scham wurde er schwindlig und wäre fast umgefallen. Leise, mit wankenden Knien, schlich er sich zu Rosalie ins Kinderzimmer und drückte sich in eine Ecke. Als Rosalie aber an ihn herantrat und ihn fragte, was ihm fehle, und ihn aufheitern wollte, zog er die Stirn kraus und wandte das Gesicht ab.
Am nächsten Tage aber bat er Mutter ab. Und Mutter war wieder gut zu ihm und streichelte ihm sogar übers Haar, und als er vor Reue und Glück darüber in ein Weinen ausbrach und sich, zu ihr hinaufsehend, an sie anschmiegte, gab sie ihm sogar einen Kuß. Trotzdem konnte er aber nachher doch nicht wieder ganz vergessen, daß sie das alles der Naumannschen erzählt hatte, und daß sie überhaupt die Naumannsche, die er jetzt schon förmlich haßte, immer so bei sich in der Küche hatte und so viel mit ihr sprach.
Ein paar Tage nach dem Vorfall hatte Lise dann noch, als diese in irgendeiner Angelegenheit hinter ins Gartenhaus kam, eine Auseinandersetzung mit der Schwiegermutter. Sie war von Lise einsilbig und zurückhaltend empfangen worden.
»Nun, was liegt denn wieder mal vor?« hatte sich die alte Dame ungehalten erkundigt.
Darauf hatte Lise, wohl wissend, daß sie die Schwiegermutter damit reize, zuerst geschwiegen, dann aber kurzhin, aber mit einer gewissen Unterstrichenheit geantwortet:
»Oh, doch nichts Neues.«
»Wie! ›Nichts Neues?‹ – Nun, was soll das heißen?«
»Oh, Sie verstehen ja doch wohl.«
»Was soll ich verstehen! Ich verstehe nichts!« brauste die alte Dame auf. »Sprich dich, bitte, deutlicher aus! Ich bin kein Freund von solchen – Andeutungen, das solltest du ja wohl wissen.«
»Nu' also, und ich für mein Teil bin kein Freund von solchen Auftritten, wie der Junge sie mir neuerdings mit einemmal zu machen anfängt! Das hab' ich ja doch überhaupt noch nie mit ihm erlebt! Man muß sich ja ernstlich Sorge machen!« trumpfte sie trotzig auf. »Wutanfälle, jawohl, ganz bösartige Wutanfälle kriegt er, als ob er ja wirklich mit einem gar keine Umstände mehr zu machen brauchte?« Sie ließ ein kurzes Lachen hören. »Und Sie sind es, die das Kind mir entfremden! Noch nie, niemals ist das ja vorgekommen, nie hat er auch nur eine Spur von Bösartigkeit und Verzogenheit, ja direkter Ungezogenheit, gezeigt. – Ich dächte, gerade ich hätte es nicht an mir fehlen lassen.« Sie erinnerte mit diesen Worten an den Dank, den die Schwiegermutter ihr damals nach Toms Genesung ausgesprochen hatte. »Es ist nicht recht, daß Sie das Kind das vergessen machen, daß Sie ihn gegen mich einnehmen. – O sagen Sie doch nichts! Ob direkt oder indirekt: Sie nehmen ihn gegen mich ein, er verliert den Respekt vor mir.«
»Ah, nu' was denn! Soviel ich weiß, hat er dir das ja abgebeten. Ich habe wenigstens keine Ursache, dächt' ich, anzunehmen, daß er schon so heillos verrucht und ›verdorben‹ wäre, daß er mir etwas vorgelogen hätte. – Wie kann man überhaupt von so etwas so ein Wesens machen! Du lieber Gott: ›Das Menschenherz ist böse von Jugend auf.‹ Dergleichen kann bei jedem Kind vorkommen, zumal wenn es ein lebhaftes Temperament hat. – Genug, er ist ja doch nicht verstockt, hat seine Reue gezeigt, dir abgebeten. Und nichts ist sichrer, als daß er's nicht zum anderen Mal tun wird.«
Doch die Gleichgültigkeit, welche die Schwiegermutter ihren Worten untergelegt hatte, empörte Lise jetzt aufs äußerste.
»Na, aber gewiß!« lachte sie auf. »Als ob ich Sie nicht verstände! – Ich bin ja nachgerade abgetan, ganz und gar überflüssig! Was wären mit mir noch für Umstände zu machen; denn was könnte dieser Junge wohl jetzt noch von mir lernen! Wozu ich gut bin und war, weiß ich ja wohl: seine Amme gewesen zu sein, und für Plackereien, mit denen andere Leute sich nicht gern die Hände schmutzig machen! Die ›eigentliche‹ Erziehung übernehmen jetzt ja Sie! Das ist ja ein so ganz besonderes Kind; wie natürlich, daß er solche erstaunliche Anlagen mit auf die Welt gebracht hat! Ihre anderen Enkelchen sind ja nicht weiter für Sie vorhanden; wann hätten Sie sich je um sie bekümmert? Aber wenn der Junge binnen hier und einem Jahr die unerträglichste und verwöhnteste Range geworden ist, dann tragen Sie die Verantwortung! Sie!«
»Ah, so.«
Die Frau Kommerzienrat wandte sich und verließ ohne noch weiter ein Wort zu sagen das Zimmer.