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Beide hatten sie während des Auftrittes, der sich gelegentlich bis zu lautem Schreien gesteigert hatte, Toms vergessen gehabt.
Tom aber hatte alles von Anfang bis zu Ende all seinen Einzelheiten nach mit angehört. Zuweilen hatte er rufen und aufweinen wollen, doch war er das des Fiebers wegen nicht imstande gewesen, auch hatte er den ganzen Verlauf mit zu sehr in Anspruch gehaltener Aufmerksamkeit verfolgt und in sich aufgenommen. Bald nachdem Lise sich entfernt, hatte das Fieber ihn aber verlassen, und er war in einen unruhigen Schlaf gesunken.
In diesem Schlaf aber hatte er einen seltsamen, überaus deutlichen und bis in die geringsten Einzelheiten hinein lebendigen Traum.
Es träumte ihn, er befände sich an einem Ort, der bald die Wohnung der Eltern, bald Großmamas Zimmer war. Alle, mit denen er täglich verkehrte, Vater, Mutter, Großpapa und Großmama, Onkel Anton, Detlev, Karl, die anderen Geschwister, Rosalie, das Hausmädchen, befanden sich in seiner Nähe; die Erwachsenen ihren Beschäftigungen hingegeben oder miteinander im Gespräch, die Kinder spielend.
Im Zimmer war ein freundlicher, lieblicher Sonnenschein, Blumensträuße standen da, und allerlei gute Dinge zu essen und zu trinken gab es und die herrlichsten Spielsachen, Bücher und Bilder. Aller Mienen waren so licht und liebreich, alle sprachen still und freundlich miteinander, Mutter gab Großmama einen Kuß, und sogar die Jungens vertrugen sich, schrien und prügelten sich nicht. Und dann saßen alle bei Tische und waren fröhlich, lachten und plauderten miteinander, und das Essen und Trinken hatte einen so ganz unbeschreiblich wunderbaren Geschmack und Duft, und auch in der sonnigen, himmlisch klaren und reinen Luft, die im Zimmer herrschte, war ein Duft wie von Rosen und lauter schönen Blumen. Und es war ein so unsagbar schönes Gefühl, solch eine Seligkeit, und er wußte mitten im Traum und sagte sich, daß das der Himmel wäre, und fühlte selbst das selige Lächeln, das seinen Mund umhauchte.
Plötzlich aber, man wußte gar nicht wie es kam und was die Veranlassung gegeben hatte, war alles ganz anders. Die Sonne, die aus dem Garten zu den offenen Fenstern hereindrang, war grell und stach, und es war so heiß und dumpf im Zimmer, und überall war eine wüste Unordnung. Am Fußboden lagen zerrissene Bücher, zerbrochenes Spielzeug und Eßgerät umher. Auf dem Tisch stand und lag alles durcheinander, Flaschen, Gläser, Schüsseln waren umgeworfen, das schöne weiße Tischtuch zeigte häßliche Flecke von verschütteten Speisen, an einer Stelle aber war sogar eine Gabel hineingestochen, und an einer anderen hing es von einem Messer in Fetzen zerrissen hernieder. Alle waren vom Tisch aufgesprungen, der eine saß auf einem Stuhle, starrte vor sich hin, weinte und klagte; wieder andere standen einander gegenüber, fuchtelten mit den Armen aufeinander los und hatten vor Wut ganz verzerrte Gesichter, schrien einander an und stießen die entsetzlichsten, gemeinsten Schimpfworte hervor. Wieder wer anderes, es war Onkel Anton, der sonst immer so gut und lustig war, rannte in einem fort mit einem bleichen Gesicht und starren Augen im Zimmer hin und her und rang verzweiflungsvoll die Hände vor sich hin. Großmama und Mutter aber fuhren aufeinander los, schrien, weinten und schlugen sich. Detlev und Karl und die anderen Brüderchen und Schwesterchen wälzten sich schreiend und schimpfend zwischen der greulichen Unordnung auf dem Fußboden umher, hieben und kratzten aufeinander los. Und alle waren doch dieselben Menschen, die zuerst so fröhlich und liebreich miteinander gewesen waren und so schön, wie leuchtend vor Freude und Liebe.
Dann aber war alles mit einemmal wieder wie zuerst. Die Sonne schien wieder so still und schön und klar, es duftete nach Rosen und den schönen Blumen, alles war wieder in schöner, sauberer Ordnung, und sie saßen zusammen zu Tisch, aßen und tranken die herrlichen Speisen und Getränke und waren fröhlich und liebreich miteinander. Tief befreit atmete Tom auf und lächelte. Es war, als ob er eine unbeschreiblich köstliche Luft einatmete, die seine Brust wohltuend weitete. Vor Freude, Seligkeit und Befreiung weinte und lachte er zugleich und glaubte, daß nun bestimmt alles so bleiben und nie, nie wieder anders und das andere werden würde. Doch mit einemmal – ein unsäglich schwüles, wie klebriges, dumpf drückendes Entsetzen erfaßte Tom – war es wieder das andere. Und dann wurde es wieder wie zuerst. Doch das befreite ihn jetzt nicht mehr, sondern war ihm eine neue Qual, weil er nun nicht mehr glauben konnte, daß es so bliebe, weil er glaubte, daß wieder das andere, so unbeschreiblich Entsetzliche, Abscheuliche kommen würde. Und es kam wirklich. Und dann wieder das andere. Und niemand konnte es ändern und etwas dagegen tun.
Es war aber das Merkwürdige des Traumes, daß Tom selber gar nicht mit zwischen den anderen war und an dem Mahl und den entsetzlichen Auftritten mit teilnahm, sondern daß er mitten zwischen all dem ganz allein und für sich war, alles mit ansah und anhörte und es nur so mitlebte.
»Ach Gott, ach Gott, niemals wird es nun wieder so werden, wie es erst gewesen ist!« wollte Tom im Traum aufschreien: aber es überkam ihn nur eine entsetzliche Angst, und er erwachte und fuhr unter den Kissen und Betten, unter denen er lag, in die Höhe.
Seine umherstarrenden Augen trafen auf Großmamas Gesicht. Großmama saß auf einem Hocker, den sie vom Klavierflügel herübergerückt hatte, bei ihm vor dem Sofa, hatte das Gesicht zu ihm herniedergebeugt und beobachtete ihn.
Im Zimmer, das Tom in diesem Augenblick dumpf und unheimlich vorkam, dunkelte es schon. Nur bei den Fenstern war noch ein düsterroter Schein von der Abendsonne.
»Bist du wieder wach, mein Liebling?« sagte Großmama mit sanfter Stimme und strich ihm lind mit ihrer Hand, die kühl war und ihm wohltat, über Stirn und Haar.
Aber Tom konnte nicht antworten. Er sah Großmama nur ganz verwundert und mit einem Ausdruck von Fremdheit und Angst an. Zum erstenmal in seinem Leben berührten ihn ihre Anrede und ihre Liebkosung nicht, daß er sich hätte an sie schmiegen, sie umfassen und küssen können. Und der Knabe war sich dessen bewußt.
Halb ungeduldig, halb weinerlich verzog er das Gesicht und sagte:
»Nimm doch die Betten weg! – Es ist so heiß.«
»Ach, hast du noch immer das garstige alte Fieber, mein Herzchen?« erkundigte sich Großmama, während sie ihm wieder die kühle Hand auf die heiße Stirn legte.
»Nein«, antwortete er. »Ich bin ja ganz wieder gesund. – Nimm doch die Betten weg, Großmama! – Es ist so heiß, ich kann mich nicht bewegen. – Ich möchte aufstehen«, setzte er weinerlich hinzu.
Großmama nahm daraufhin die Betten und Kissen fort. Tom atmete, als er jetzt frei auf dem Sofa lag, tief auf und sah, noch immer etwas vom Schlaf und dem entsetzlichen Traum befangen, in dem dunkelnden Zimmer umher und verfolgte Großmamas kleine, dunkle Gestalt, wie sie die dicken Betten beiseite trug, mit den Blicken.
Er lag noch eine Weile, sich der Temperatur des Zimmers, die er jetzt als angenehm kühl empfand, hingebend, da und ermunterte sich ganz.
Er fühlte sich jetzt wie immer und bei Kräften. Zugleich erfaßte ihn aber eine heftige Sehnsucht, jetzt Großmama und das dunkle Zimmer zu verlassen und drüben bei Mutter zu sein.
Er stand auf und trat langsam ins Zimmer hinein, das ihm jetzt schon das äußerste Unbehagen mitteilte. Er war verlegen und weinte fast vor Angst, Großmama könnte meinen, er wäre noch krank und ihn deshalb noch zurückhalten. Er wußte aber nicht, wie er sie bewegen sollte, ihn fortzulassen; zugleich dachte er, er würde sie betrüben, und das wollte er nicht.
»Ah, sieh, da bist du ja?« rief Großmama erfreut. »Und du fühlst dich auch wieder ganz wohl, mein Tom?«
»Ja.«
Tom nickte und lächelte ein bißchen, in der Absicht, Großmama damit am ehsten zu bestimmen, daß sie ihn gleich gehen ließe.
»Sag', hast du nicht Appetit? Möchtest du nicht was Gutes essen? Möchtest du vielleicht ein Glas Limonade?« fragte sie liebreich. »Oh, wie schön, wie schön, daß mein lieber Tom wieder wohlauf ist! Wie Großmama das beruhigt!«
Sie war zu ihm herangetreten, hatte ihn an sich herangezogen und streichelte ihn.
Er ließ es geschehen, ohne aber zu erwidern.
»Großmama?« bat er endlich, förmlich flehend zu ihr aufblickend. »Laß mich doch 'nübergehen jetzt, es wird sonst zu dunkel, ich muß dann auch gleich zu Bett.«
»Aber möchtest du nicht erst noch bei Großmama bleiben, dich etwas ausruhen und essen und trinken?«
»Ach nein! – Ich komme morgen wieder.«
»Nun ja, dann geh' nur, mein Herzensjunge.«
Artig, aber etwas eilig, küßte er Großmama, gab ihr die Hand, sagte »Gute Nacht!« und verließ schnell das Zimmer.
Drüben angekommen aber suchte er sofort, sich förmlich zu ihr flüchtend, Mutter auf.
»Mama!«
Mit befreit aufstrahlendem Gesicht eilte er auf sie zu, umfaßte sie mit beiden Armen und sah mit Augen, die von Freudentränen blinkten, zu ihr auf.
»Nun, mein Tom?« sagte sie, ihn anlächelnd und ihm mit ihrer schönen, warmen, fleischigen Hand übers Haar streichelnd, eine Liebkosung, die ihm in diesem Augenblick unsäglich wohltat. »Bist du wieder munter? Hast du Appetit? Möchtest du was essen?«
Er nickte und lachte. Noch immer hielt er Mutter umfaßt und drückte sich schmeichelnd an sie.
Sie erriet, daß er geküßt sein wollte. Vor Freude lachte sie, sagte willfährig »Na?«, beugte sich zu ihm nieder und gab ihm ein hübsches Küßchen auf den Mund.