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5.

Lise hatte Tom in die Kinderstube gesteckt, zu den beiden anderen Buben und Rosalie, dem Kindermädchen.

Es wurde ihr doch etwas zuviel mit ihm. Außerdem zeigte er, trotz seines manchmal schon überlebendigen Wesens und all seiner sehr selbständigen Entdeckungsreisen im Hause umher, merkwürdigerweise eine Neigung, ihr mehr als sie für gut hielt, an der Schürze zu hängen. Das hatten die beiden anderen Buben nicht an sich. Es kam übrigens hinzu, daß sie wieder in vorgerücktem Stadium schwanger war. Und vielleicht empfand sie jetzt hin und wieder wirklich auch ein unwillkürliches kleines Gefühl von Fremdheit diesem Kinde gegenüber, das so sonderbar mit ihrem Manne und ihr so gar keine Ähnlichkeit besaß.

Fürs erste wenigstens fühlte der kleine Tom sich aber in der Kinderstube bei Detlevchen, Karlchen und Rosalie ganz wohl. Er spielte mit Detlevchen und Karlchen, vertrug und prügelte sich mit ihnen. Doch verriet sich sein besonderes Wesen auch hier darin, daß er Augenblicke hatte, wo er sich nicht nur abseits von den Brüderchen ganz für sich beschäftigte, sondern sie auch in einer stumm aufmerksamen Weise beobachtete und jede ihrer Bewegungen verfolgte.

In ungewöhnlicher Weise interessierte er sich aber für Rosalie.

Rosalie war ein bereits etwas altjüngferliches Mädchen von achtundzwanzig Jahren. Eine kleine, schmächtige, bewegliche Person mit einem überreichen, wuschlig aschblonden Haarwuchs, einer großen, scharf vorspringenden Hakennase, lebendigen, grauen Äugelchen und einem spitzen, zurückweichenden Kinn, blaß und sommersprossig, mit einem hübschen, kleinen, rotlippigen Mund, der eifrig immer halb offen stand. Man sah sie kaum je anders als in einem grellgrün und blau karierten, mit allerlei drollig gekräuseltem Besatz verzierten Kleide.

Sie war eine Art von Original. Aber selber noch wie ein Kind, hatte sie die drei kleinen Kerle in ihr Herz geschlossen und ging in der reizendst angepaßten und zugleich sorgsamen Weise mit ihnen um, unerschöpflich an Einfällen, ihnen Spaß zu machen und zugleich sich selbst die Zeit zu vertreiben.

Tom hatte sie also sofort zum Gegenstand eines stillen Studiums gemacht und achtete eifrig auf alles, was sie tat. Sie war als vorzügliches Kindermädchen bekannt. Selbst Lise sprach sich lobend über sie aus, obgleich sonst so leicht niemand von ihr gelobt wurde, weil sie damit ihrer Autorität als Hausfrau etwas zu vergeben meinte, und obgleich sie sich, vielleicht wirklich mit etwas bäuerlicher Naivität und nicht gerade besonderem Takt, manchmal über sie lustig machte.

Es konnte rings um sie her in der Kinderstube noch so kunterbunt zugehen, so ließ sie sich dadurch nicht im mindesten in ihren Privatbeschäftigungen stören; etwa bei einer schwierigeren Handarbeit oder bei der Lektüre eines Buches – sie las gern, genau und mit gutem Gedächtnis –, oder auch beim Zeichnen und Aquarellieren, das gleichfalls eine ihrer Lieblingsbeschäftigungen war.

Es wurde bewundert, wie sie den Lärm der drei oft bis zur Unbändigkeit lebhaften Buben aushalten konnte. In Wahrheit war das sonderbare kleine, zierliche Wesen freilich beständig mit aller Aufmerksamkeit bei der Sache und achtete unter ihren mannigfachen Beschäftigungen – sie mußte sich immer etwas zu schaffen machen – auf die Kinder mit jeder Fiber. Niemals verlor sie die Geduld. Nie teilte sie Klappse aus, geschweige, daß sie die Kleinen jemals geschlagen hätte. War mal eins von ihnen allzu ungebärdig, oder war der Lärm gar zu groß, oder brachte sich mal eins in Gefahr, sich Schaden zu tun, so huschte sie in ihrer koboldhaften Weise hinzu, half zurecht, plauderte und hatte eine geschwind geschickte, zugleich ruhige und sichere Art, sie anzufassen und mit ihnen zu hantieren, daß es war, als ob sie von einem Zephirchen oder einem Flaumfederchen gestreichelt wurden, während sie selbst sich schon alles von ihnen gefallen ließ, ohne daß sie an Autorität eingebüßt hätte.

Ganz besonders war sie der Gegenstand von Toms staunender Bewunderung, wenn sie sich gelegentlich zu einem ihrer Ausgänge rüstete. Sie setzte dann einen ungeheuer großen, giftgrünen Hut mit einer mächtigen karminroten, hinten weit übergebogenen Feder auf, zog ein Paar schwefelgelbe Handschuhe an und ergriff einen grellrot und grün karierten Sonnenschirm, der als Knauf einen in allen Regenbogenfarben schillernden Eulenkopf aus Glas hatte.

Eines Vormittags aber saß Rosalie vor dem großen, viereckigen, mitten im Zimmer stehenden Tisch und zeichnete.

Sie war auf den Einfall geraten, das Schaukelpferd als Modell zu benutzen, das gerade unbenutzt dastand. Sie hatte »Cid«, wie es von ihr getauft worden war, mit ihren Ärmchen angepackt und nicht ohne Mühe mitten auf den Tisch hinaufgehoben, um ihn besser vor sich zu haben. Er hatte solche schöne, feurig bäumende Bewegung, war auch sonst in seinen Formen nicht übel gearbeitet und hatte zwei schön knallrote, weitgeblähte Nüstern.

Sie hatte gar nicht daran gedacht, den Buben eine Sensation zu machen, hatte nur, wie das ihr Wesen war, mit ganz naiver Begeisterung ihrem Einfall nachgegeben, ganz zu ihrem eigenen Vergnügen, aber sofort Aufsehen gemacht. Sowohl Detlevchen wie Karlchen und Tomchen ließen ihr Spielzeug liegen und kamen mit eifrig stummer Neugier von allen Seiten zum Tisch hergelaufen und -gehumpelt, um den herum sie, die Händchen auf die Platte gedrückt, auf den Zehen und mit aufgereckten Hälsen zu »Cid« hinaufstarrend Posto faßten. Rosalie aber machte sich, ohne weiter besonders auf sie zu achten, mit allem Interesse ans Zeichnen. Während Detlevchen und Karlchen nun aber ausschließlich auf das Pferd achteten, kam Tomchen um den Tisch herum zu ihr hin, stellte sich neben sie und sah ihr, sehr aufmerksam jede Bewegung ihres Bleistiftes und das Bild, wie es Strich für Strich entstand, beobachtend, zu.

Nachdem er das eine ganze Weile getan, frug er plötzlich:

»Was du machen, Sa'sen?«

»Ich zeichne, Tomchen! Das Pferdchen, Cidchen zeichne ich ab«, gab Rosalie Bescheid, ihre mächtige, wuschlige Haarfülle mit der großen, scharf vorspringenden Hakennase drunter übers Papier gebeugt, ohne sich stören zu lassen.

Eine Weile blieb es wieder still und sah Tomchen ihr zu.

Plötzlich aber fragte er noch einmal:

»Was du machen, Sa'sen?«

»Ich zeichne. Tomchen, zeichne! Das Cidchen, unser schönes Cidchen zeichne ich ab.«

Wieder sah er ihr eine Weile zu.

Sie hatte just Cids Kopf, den Hals mit der wie eine schwarze Bürste emporstarrenden Mähne fertig und war dabei, den Rumpf in Angriff zu nehmen. Plötzlich aber drängte Tomchen eifrig ganz nah an sie heran, griff mit beiden Händchen nach ihrer Hand und dem Bleistift und rief:

»Tomsen auch 'eijen!«

»O was! Tomchen will auch zeichnen? Hoppepferdchen zeichnen? Cidchen zeichnen?«

Nicht ohne ein ernstlicheres, verwundertes Interesse richtete sie ihre Äugelchen auf Tomchen.

»Wirklich? Oh, das ist aber mal schön! – Ei ja! – Laß mal sehen, wie Tomchen zeichnen kann!«

Sie holte ein frisches Blatt Papier hervor und wollte Tomchen eben auch den Bleistift in die Hand geben, als sie mit einemmal bemerkte, daß Detlevchen auf den Tisch geklettert war und eben Miene machte, sich auf Cid hinaufzuschwingen und loszuschaukeln.

Eilig huschte sie hinüber, und es dauerte nicht lange, so hatte sie mit ihren geschwinden kleinen Bewegungen und Griffen Detlevchen, ohne daß der Kleine, wie in einem Bann dieser sonderbaren, sanften und doch bestimmten Berührungen und von Rosaliens zwitschernden, spaßend schmeichelnden Zureden, Miene gemacht hätte zu schreien und ungebärdig zu werden, heruntergeholt und ihm den Stuhl vom Tisch fortgerückt.

Als sie nun aber wieder um den Tisch herum zu Tomchen zurückkam, hatte sie etwas zu staunen. Auf dem Blatt, das sie ihm gegeben, stand ganz hübsch deutlich so etwas wie eine längliche Blase mit zwei Strichen oben darauf, welche die emporstehenden Ohren vorstellen sollten, zwei Pünktchen, die ganz richtig an Augenstelle hingesetzt waren – natürlich beide Augen auf einer Seite –, unten aber, wo das Maul war, gab es was ganz Besonderes anzustaunen: nämlich ganz propper, an der rechten Stelle, allerdings drei Lippen, aber sie sah sofort, daß die oberste die Nüstern sein sollten.

»Ach, die Nüstern!« rief sie zu sich selbst mit vor Staunen weit aufgerissenen Äugelchen. »Oh, so'n Jung'! Kiek mol eins an! Hat an die Nüstern gedacht!«

Nachdem ihr Erstaunen sich gelegt hatte, bückte sie sich hurtig zu ihm nieder, drückte ihn vor Freude kichernd an die Brust und küßte ihn; dann aber ergriff sie die Zeichnung, nahm ihn bei der Hand und wollte schon mit ihm hinaus hinter zu seiner Mutter in die Küche, um der das Kunstwerk zu zeigen, als sie im letzten Augenblick noch an Cid dachte.

Richtig, Detlevchen war eben in aller Stille schon wieder drauf und dran, auf den Tisch zu klettern. Geschwind eilte sie hinzu und nahm, um ein Malheur zu verhüten, erst mal Cid herunter.

Doch sie fanden bei Mutter Lise kein Verständnis. Sie sah die Zeichnung kaum an und zeigte sich ungehalten, in einem angelegentlichen Diskurs mit der Naumannschen gestört zu sein. Rosalie bekam einen Verweis und mußte sich mit Tomchen in die Kinderstube zurückziehen.

Bei Vater hatten sie nicht viel mehr Glück. Karl nahm die Zeichnung zwar in die Hand, betrachtete sie in seiner phlegmatischen Weise und lächelte ein bißchen, gab sie dann aber Rosalie zurück, ohne weiter etwas zu sagen.

Rosalie empfand eine kleine Mißstimmung, tröstete sich dann aber mit Onkel Anton und hob die Zeichnung heilig auf.

Anton pflegte öfters mal zu einem kurzen Besuch vorzusprechen und versäumte dabei nie, einen Blick auch in die Kinderstube zu tun, besonders seit Tomchen, für den auch er sich auf diese wunderliche Harbingsche Familienähnlichkeit hin in besonderer Weise interessierte, nun schon in seinem vorgerückteren dritten Jahr stand.

Die Kinder mochten ihn sehr gern. Entweder brachte er Bonbons, Obst oder ein Papiersäckchen mit Lederzucker aus seiner Drogerie mit, auf den sie versessen waren, oder wohl auch mal ein Spielzeug. Auch war er immer bei guter Laune und voller Schnurren, spielte mit ihnen, hoppste sogar auf allen vieren im Zimmer umher und ließ sie auf sich reiten.

Zu Rosaliens großer Genugtuung wußte er bei seinem nächsten Besuch Tomchens Zeichnung auch wirklich zu schätzen.

»Ho, sieh doch mal!« rief er und riß ernstlich und vielleicht sogar nicht ohne eine gewisse Betroffenheit die Augen auf. »Das hat er wirklich gezeichnet? Sie haben ihm nicht die Hand geführt, wie?«

»Nein, nein, nein, aber nein!« versicherte Rosalie eifrig und lachte vor Freude. »Ganz allein hat er's gezeichnet! Ich Hab' ihn nicht mal dabei gesehen! – Und gleich zum allerersten Male! Es ist ja so erstaunlich! – Und die Nüstern, die Nüstern!« rief sie und stellte sich in ihrem Eifer dicht an Anton heran, mit ihrem koboldhaften, spitzen Zeigefingerchen auf den Strich pickend, der Cids Nüstern vorstellen sollte. »Die Nüstern! Daß er auch an die gedacht hat! Nicht?«

»Hm, hm, hm!« machte Anton, die Hand am Kinn, mit einer kraus ernsten Miene nachdenklich die Zeichnung betrachtend. »Ja, das ist allerdings merkwürdig.«

Er erinnerte sich an das, was Lise ihm von der Geschichte mit der Schlafzimmeruhr erzählt hatte, und war nicht ohne eine ernstliche kleine Sorge.

Er gab Rosalie die Zeichnung zurück, trat zu Tomchen hin, bückte sich, mit seiner langen Gestalt in die Hocke gehend, zu ihm nieder, faßte ihn behutsam an den Schulterchen und betrachtete ihn eine Zeitlang mit Aufmerksamkeit. Dann aber sagte er vor sich hin:

»Hm, nein! Der Blick, die Pausbacken: Das ist alles gut. Das ist guter, solider, gesunder Körberscher Schlag und Brustkasten. Das ist ein Fond, der diesem Gehirnchen da schon die Balance halten wird.«

Und mit einem erleichterten, zufriedenen kleinen Lächeln tätschelte er Tomchens Bäckchen und erhob sich wieder.


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