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Der verwunschene Wald

Sie gerieten nicht zufällig dorthin. Von jeher sahn sie den Wald abseits der Landstraße, die von La Cadière nach Saint Cyr führt, als einen dunkeln Fleck am Rande der Weinäcker liegen. Ölbäume säumten ihn mit hellem Rand. Wenn ihr Laub im Winde rieselte, daß man beim ersten Hinsehn einen Bach zu erkennen glaubte, blieben die Bäume des Waldes dahinter reglos zu einer Masse zusammengedrückt, kein Licht vermochte ihr stumpfes Dunkelgrün zu erhellen. Sie bildeten augenscheinlich einen dichten, finstern Wald, wie er sonst in der Provence gar nicht vorkommt.

Mit der Zeit nahm sein Gesicht, das immer nur aus der Ferne zu ihnen herüberblickte, die lockenden Züge des Geheimnisvollen an. Je öfter sie vorbeifuhren, um so rätselhafter fanden sie seine Gegenwart in diesem Tal. Waren doch dessen klare Flächen wie kein anderes Tal der Sonne geöffnet vom Aufgang bis zum Niedergang und die ›Bastiden‹, die alten, viereckigen, meist unbewohnten Herrenhäuser, besonders im Frühling, wie gerüstet zum Empfang festlicher Gäste! Die schwarzen, lichtspiegelnden Straßen, die aufsteigenden Terrassen mit ihren Mauern und Mäuerchen, die Weinäcker mit ihren Furchen zwischen dem jungen Laub, die Häuser mit ihren Fenstern, alles stand weit auf und voller Erwartung – nur jener Schmollwinkel hielt sich hartnäckig verschlossen.

»Sicher ist es genau das, was wir suchen«, meinte jetzt Sibylle. »Etwas, was uns allein gehört.«

Beim ersten Feldweg, der auf den Wald zuführte, bogen sie ein. Solange die Wege als Zufahrt der Gutshöfe dienten, kam der Wagen gut vorwärts. Mit dem bebauten Land hörten aber auch die Wege auf, der Wagen schwankte über Steingeröll, Wurzelstöcke und Felsen, im ausgetrockneten Bett eines Sturzbaches drangen sie in den Wald ein. Es war ein lichter Pinienwald wie andre auch, einsam wohnte darin die Sonne. Die Pinien blühten mit einer Unzahl rötlich gelber Zäpfchen, es sah aus, als hinge ein Bienenschwarm an jedem besonnten Ast. Kleine Tongefäße, an den Fuß der Bäume gelehnt oder etwas höher am Stamm befestigt, in die aus der aufgeschlitzten Rinde Harz floß, waren die erste Spur menschlicher Siedlung.

Sie stießen auf Häuserruinen, die den Eindruck von Einsamkeit noch verstärkten, wie ja ein von Menschen geflohener Ort einsamer wirkt als ein unberührtes Stück Erde. Eine Weile später gewahrten sie auf einer Lichtung einen Bienenkorb, und dann kamen zwei verwilderte Hunde auf sie zugestürzt, eine Mischung aus Wolfshund und Spitz. Als Paul auf die Kupplung trat und Gas gab, nahmen sie unter Angstgeheul Reißaus. Offenbar hatten sie noch nie ein Auto gesehn.

Wiederum tauchten Ruinen auf. Diesmal stand ein Bauernhaus daneben, und es mußte wohl bewohnt sein, da auf dem abbröckelnden Fenstersims Geranientöpfe lehnten. Etwas weiter folgten zwei andre, verhältnismäßig gut erhaltene Häuser, von denen sich nicht sagen ließ, waren sie aus den Trümmern des Dorfes aufgebaut, um seine einstige Lebenskraft nach Möglichkeit in sich zu versammeln und zu bewahren, oder standen sie im Begriff, als letzte der Siedlung, nach langer und zäher Verteidigung, der Übermacht der sie bedrängenden Wildnis zu erliegen. Unter den Bäumen und in den Haustrümmern wuchs Heidekraut. Große Flächen von Thymian bedeckten den Boden, eroberten Geröll und Felsen, in der Sonne zwischen den luftigen Ästen schwebte der Duft wie Rauch.

Ab und zu zeigten sich die beiden Hunde und beobachteten mit eingeklemmtem Schwanz die Eindringlinge. Sie bellten erst, wenn sie sich zur Flucht wandten. Dann widerhallte eine Zeitlang der ganze Wald von ihrem Gekläff.

An manchen Stellen räumten die Pinien barocken Ölbäumen das Feld, gewaltigen Stücken ihrer Art, im Silberlaub hingen schwarz und eingeschrumpft die ungeernteten Früchte.

Wie ein Boot durch Stromschnellen, so schaukelte der Wagen über die Waldwege. Paul und Sibylle brauchten lange, um aus dem Wald hinauszufinden. Dabei ging es durch Hohlwege und über Gestein, das wie hartes Eingeweide der Erde aus dem Boden quoll, an kleinen, verlorenen Bauernhöfen und an Brunnen vorbei, uralten, zuckerhutförmigen Türmchen aus rohgeschichteten Steinen, mit einer Tür nach Norden. Die Tür war verschlossen, als führte sie zu einer Schatzkammer. (Und tatsächlich war ja das Wasser in diesem Land eine Kostbarkeit.) Das einzige lebende Wesen, dem sie nach den Hunden begegneten, war eine Katze. Mit einem entsetzten Sprung versank sie im Boden.

Als sie auf die geteerte Straße kamen, ließen sie erst einmal den Wagen laufen, um wieder zu sich zu kommen. Sie hatten das Gefühl, in einer Wildnis gewesen zu sein, die nach vorübergehender Besiedlung rasch zu ihrem Ursprung heimfand. Still und licht, in unscheinbarem Drang, verschlang sie das Menschenwerk und gönnte den wenigen Überlebenden angesichts des Unvermeidlichen, das sich um sie zusammenzog, eine Gnadenfrist.

Paul äußerte, er habe noch nie von einer so gutmütigen Menschenfresserin gehört, da hause sie nun dicht neben der blankgewichsten Route nationale, ihrem Lärm und ihrem Pomp. Das sei noch etwas andres als La Cadière. Dort hätten die Menschen den Verfall sich selbst überlassen und seien ein Haus weitergezogen. Hier würden sie bei lebendigem Leibe aufgefressen.

»Ein verwunschener Wald!« sagte Sibylle. Sie ließ sich durch seine Betrachtung nicht abschrecken. »Ein himmlisches Versteck! Wir wollen oft hin.«

»Vielleicht«, vermutete Paul, »arbeiten die Leute unter der Erde und kommen nur nachts heraus.«

Sibylle fand den Gedanken erwägenswert. »Es ist ein unterirdisches Volk, von dem niemand etwas weiß«, bestimmte sie.

Er meinte: »Sie graben natürlich nach Gold.«

»Nein«, verbesserte sie, »die Kerle graben nach Weisheit. Und verkaufen sie an liederliche Jungens.«

»Sollten es nicht«, fragte er spitz, »sollten es nicht Glücksgräber sein? Halte dich dran, Mädchen! Nie wiederkehrende Gelegenheit!«

Sie lachten und rieten weiter, in der vieldeutigen Sprache der Liebesleute, die nur einen Gegenstand kennt und alles darauf bezieht.

Die Jahreszeiten wechseln leise in der Nacht. Du siehst sie, du hörst sie nicht kommen. Eines Morgens wachst du auf und hast einen neuen Schatz.

Es war wie früher und doch wieder anders.

Sie lebten in einer Spannung, die bei beiden eine verschiedene Ursache hatte, die Wirkung war die gleiche. Wie bei Sängern, die den Ton zu hoch nehmen, den Irrtum zu spät bemerken und nicht mehr zurückkönnen, verriet ihr Tun bald Befangenheit, bald übertriebene Kühnheit. Einem Außenstehenden wäre es vielleicht nicht einmal aufgefallen, sie selbst aber empfanden die Anstrengung oft bis zur Pein. Dann wiederum verlor sich für viele Stunden das Gefühl dafür, was bei der geistigen Lebhaftigkeit ihres Umgangs nicht verwundern konnte. Allem Anschein zuwider erwies sich Paul als der schwächere Teil, zuerst freilich nur in sogenannten äußerlichen Dingen. Seine wirkliche Schwäche blieb sowohl ihm wie Sibylle bis zuletzt verborgen. Jeder baute insgeheim auf die Festigkeit des anderen.

Schon am zweiten Tag holte er seine farbigen Hosen und Sweater hervor, Halstücher in kühnen Farben, die oft gewechselt wurden, Sandalen und Leinenschuhe mit Schnursohlen. Am dritten Tag ließ er sich das Schnurrbärtchen abnehmen mit der Begründung, so schön wie das Schnurrbärtchen des Chauffeurs Louis sei es nun einmal doch nicht – ganz zu schweigen von dem des Majors.

Dafür wurde er belohnt. Sibylle legte ihm den Arm um den Hals, nahm seine untere Gesichtshälfte in die Hand und rieb sie freundlich zwischen den Fingern, wobei sie mit dem Daumen fest auf den Nasenflügel drückte. Die Erfindung gefiel und kam wiederholt zur Anwendung. Eine andre Liebkosung (in seinen Augen die Umarmung der Keuschheit selbst) bestand darin, daß sie von hinten die Arme um seine Hüften legte und ihn so umfaßt hielt, während sie mit dem Schnurren einer Katze die Wange fest an seine Schulter drückte. Er erinnerte sich, in seiner Kindheit Ähnliches mit der Mutter getan zu haben.

In wenigen Tagen wurden sie körperlich vertrauter, als sie es in den Monaten ungestörter Freundschaft gewesen waren. Sie bewiesen weitgehend eine Harmlosigkeit, wie sie zwischen Geschwistern natürlich sein kann, sonst aber nur zur Verkleidung anders gearteter Empfindungen zu dienen pflegt. Sibylle blieb sich des Truges in der Regel bewußt, wohingegen Paul in Sibylles scheinbarer Unbefangenheit die Bürgschaft sah, daß ihre Einstellung der seinen entsprach – selbst dann, wenn sein Empfinden ihm gelegentlich schwankend und fragwürdig vorkam. Nahm er nicht angedeutete und auch tatsächliche Liebkosungen ruhig entgegen, die ihn bei Marianne aufs äußerste erregt hätten? Ebenso handelte er ihr gegenüber, und nichts verriet, daß sie es anders aufnahm, es sei denn eine bisweilen ausbrechende Ungeduld, die er nun wiederum als weibliche Scheu auszulegen beliebte. So schien ihre Eintracht ziemlich gesichert – mit einer Ausnahme. Seine Weisheit, ›die unter Strohblumen versteckte Schlange‹, wie Sibylle sich ausdrückte, machte ihnen nach wie vor zu schaffen. Zwar versuchte das Mädchen, das ein empfindliches Ohr dafür besaß, den Partner rechtzeitig zu warnen (»Vorsicht, Paul, es raschelt in den Strohblumen!«), aber ihre Vorsicht führte meist nur zu einem rascheren Erscheinen der Schlange. Selbst wenn sie noch weiterging und etwa der Beantwortung einer Frage, deren Gefährlichkeit er noch gar nicht absah, mit den Worten auswich, sie werde sich hüten, auf die Strohblumen zu treten, überdauerte ihr Erfolg selten Pauls Verblüffung. An deren Stelle trat bald das eigensinnige Bemühen, auf Umwegen zu dem Punkt zurückzukehren, von dem sie ihn durch Überrumpelung verdrängt hatte. Und statt mit einem Sinnspruch oder einer Lebensregel davonzukommen, mußte Sibylle eine umständliche Belagerung aushalten, die nur durch Kapitulation zu beenden war. Manchmal freilich schlug sie sich so hartnäckig, daß er nicht anders konnte, als ihr freien Abzug mit Waffen und Gepäck zu gewähren. Nachher stellte sich gewöhnlich heraus, daß sie seine Großmut als ihren Sieg deutete, und seine Kapitulationsbedingungen wurden schärfer.

»Wie geht es?« erkundigte sich Frau Pauline am Ende der ersten Woche besorgt bei ihrem Sohn, und sie errötete über die Frage, die den bis vor kurzem zwischen ihnen geltenden Gesetzen der Schicklichkeit widersprach.

»Sie setzt mir mächtig zu«, erwiderte er ebenso verlegen.

»Womit?« fragte sie tapfer.

Er dachte nach und erwiderte: »Mit ihrer Rechthaberei.«

Plötzlich stand er auf, küßte die Mutter flüchtig auf die Stirn und eilte, Sibylle mit dem Autosignal aus dem Haus zu rufen. Vor einer Stunde erst waren sie heimgekehrt.

Die folgenden Tage verbrachten sie ganz im verwunschenen Wald. Sie führten Decken und Hängematten mit, einen Spirituskocher und Geschirr, Tee, Obst, Gebäck, Kissen und Bücher. Sie hätten sie auch in einem Versteck unterbringen können, aber da sie tagsüber niemals Menschen sahen, vermuteten sie allen Ernstes, der Wald sei nachts dafür um so belebter, und in diesem Fall erschien ihnen kein Versteck sicher genug. Hauptsächlich aber wollten sie sich nicht verraten – wer konnte wissen, ob nicht die rätselhaften Waldbewohner auf den Gedanken kämen, ihnen einmal am Tage aufzulauern!

Bald gab es keinen Winkel mehr im Wald, den sie nicht erforscht hätten, sie suchten nach Wasser, fanden keins, und da sie nicht wagten, die Tür eines der Brunnentürmchen zu erbrechen, mußten sie das Wasser in Flaschen mitbringen.

Die beiden Hunde, durch Zucker und Zwieback halbwegs gezähmt, gewöhnten sich an sie. Aber ihre Raubtiergewohnheit, lautlos heranzuschleichen und die in der Hängematte oder auf dem Thymianpolster einer Lichtung Gelagerten unvermutet anzufallen, legten sie nicht ab. Obwohl sie es im Spiel taten und nach Empfang des Naschwerks gleich verschwanden, war es kein geringer Schreck, zumal für Sibylle, unversehens den heißen Atem eines geöffneten Rachens am Kopf oder an den Händen zu spüren, und zu dem Schreck trat noch der Widerwillen. Die Hunde waren schmutzig, vielleicht sogar räudig – genau konnte man es nicht feststellen, dazu benahmen sie sich zu wild.

»Es geht nie ohne einen Tribut an die Hölle«, sagte Sibylle und warf ihnen Hände voll Zucker zu.

Nachts fuhren Paul und Sibylle nach Toulon oder Marseille und freuten sich ihrer Verborgenheit im Menschengewühl. Sie tauchten in den Schenken der kleinen Städte auf, Höhlen, die großartige Namen führten, sechs Meter im Geviert maßen und gewöhnlich nur von der Wirtin und einer Katze bewohnt waren – die Gasflamme zischte bläulich, die Frau strickte, die Katze putzte sich, und von Zeit zu Zeit sahen die Frau und die Katze einander gespannt in die Augen, als suchten sie dort die Antwort auf eine unausgesprochene Frage. Oder sie ließen den Wagen an einem Feldweg stehn und trieben sich zwischen den Weinäckern herum, erstiegen die Terrassen, bis sie ganz oben standen bei einem Wald oder am Rand eines unwegsamen Bergrückens und den Sternhimmel weithin über der im Dunkel schimmernden Erde leuchten sahn. So ungern Sibylle tags zu Fuß ging, nachts war sie unermüdlich.

Wenn die beiden sich vor der Villa Maria trennten, empfanden sie zuerst eine Erleichterung. Aber schon an der Haustür machten sie kehrt und schlenderten noch ein wenig über den Rundweg. Einmal stand Sibylle mitten in der Nacht unter Pauls Fenster und warf Steinchen hinein, bis er aufwachte und herunterkam, das andre Mal war es Paul, der Sibylle auf die gleiche Weise aus dem Bett holte. Seine Entschuldigung unterbrach sie mit den Worten:

»Aber wir haben doch so wenig Zeit, Paul! Eigentlich ist es lächerlich, daß wir schlafen. Denk doch, noch drei Tage!« »Du tust, als sei das Ende meiner Ferien das Ende der Welt«, sagte er.

»Ist es auch«, versicherte sie. »Ist es auch!«

Dabei drehte sie ihn langsam zu sich herum, hob feierlich die Arme, legte sie gekreuzt um seinen Hals, daß sein Kopf ganz von ihnen eingeschlossen war, und verweilte so reglos mit gesenkten Augen, bis er sie küßte.

»Danke«, sagte sie, das Gesicht abgewandt, wie zu einem unsichtbaren Wesen und ließ ihn zögernd los...

Von da an küßten sie, sooft sie konnten. Und sie konnten einander fast nie ansehn, ohne zu küssen, selbst nicht, wenn sie unter Menschen waren. Sie mußten die Möglichkeit haben, sich wenigstens mit den Lippen zu streifen, und sie fanden sie fast zu jeder Zeit, an jedem Ort. Ein Strahlen umgab sie, wo sie sich zeigten.

Ohne die Berührung des andern welkte etwas in ihnen. Die Poren ihrer Haut wurden trocken, ihre Gedanken standen still. Hilflos sahen sie sich nacheinander um. »Laß sie gehn«, flüsterte der Bildhauer Saint-Paul bei solch einem Anlaß seiner Frau zu, die das Paar zurückzuhalten suchte. »Sie fangen an zu stottern.«

»Was haben wir an Küssen nachzuholen, liebe, liebe Sibylle«, stammelte Paul eines Nachmittags, als sie mit ihren an benachbarten Pinien befestigten Hängematten so lange aufeinander zugeschaukelt waren, bis er sie mitsamt ihrer Hängematte ergreifen und küssen konnte. (›Kapern bei bewegter See‹ hieß das.)

Sie küßten sich sorgfältig über das ganze Gesicht, und als sie in ihre frühere Lage zurückgekehrt waren, beteuerte Sibylle:

»Paul, es müssen Milliarden Küsse sein! Ich habe versucht nachzuzählen. Zehn Jahre – so lang liebe ich dich nämlich, ich meine bewußt, so, daß man von da an zählen kann, also paß auf: zehn Jahre zu dreihundertfünfundsechzig Tagen, jeder Tag zu vierundzwanzig Stunden, die Stunde zu sechzig Minuten, die Sekunde zu einem Kuß, bitte, mein Lieber, rechne das aus. Ich kann es nicht, mir wird schwindlig dabei.«

Sie wiederholten das Kapern bei bewegter See, aber im Augenblick, wo er sie mit einem Ruck umfaßte, brach das Seil von Sibylles Matte, sie stürzte und zog ihn mit sich.

Sie fiel vornüber auf Hände und Knie, er halb über sie. Rasch legte er sie auf den Rücken, da stieß sie einen Schmerzenslaut aus.

»Wo?« fragte er gebieterisch.

»Das Knie«, flüsterte sie. »Ich werde dir den Strumpf ausziehn«, kündigte er an, und sie sagte mit den Augenlidern ja. Er machte sich ohne weiteres daran. Eben war sie noch blaß gewesen, jetzt kehrte ihr das Blut in einer Sturzwelle zurück. Die Sicherheit, mit der seine Hand den Weg fand, um den Strumpf vom Knopf des Halters zu lösen, als machte die Hand dies alle Tage, ließ sie den Schmerz vergessen, sie strampelte mit dem Bein, richtete sich drohend auf.

»So«, sagte sie, »jetzt ist auch mein andres Bein kaputt.« Als er lachte, fuhr sie ihn an: »Was fällt dir ein, mit mir umzugehn, als wäre ich eine Ankleidepuppe!«

Sie schickte ihn fort, er mußte abseits eine Zigarette rauchen, bis sie mit der Untersuchung ihres Knies fertig war. Dann erlaubte sie ihm, das Taschentuch mit dem Wasser aus der Flasche zu tränken, er durfte auch den Umschlag auf das Knie legen und ihn mehrmals erneuern. Sie hatte ein Auge darauf, daß der bis dicht unterhalb des Knies aufgewickelte Strumpf sich um keinen Zentimeter verschob. Streng aufgerichtet, saß sie da und beaufsichtigte mit hochgehobenen Augenbrauen jede seiner Bewegungen.

»Nun sag doch endlich, ob du Schmerzen hast«, bat er.

»Nein«, versicherte sie. »Kaum... Aber was wird aus unserm Tee? Das schöne Wasser ist weg. Vergeudet!«

Vor kurzem noch wäre daraus ein Wortstreit entstanden. Jetzt küßten sie. Dabei entdeckten sie die zarte Stelle hinter den Ohren, und er und sie mußten abwechselnd stillhalten, damit jeder sie beim andern gründlich erforsche.

Sie beschlossen, ihr Versteck zu verlassen und dem Land der Freunde einen Teebesuch abzustatten. Während sie aufräumten, stellte er fest: »Ob mir was fehlt, kümmert dich nicht!«

Sie versetzte heftig, man brauche ihn nur anzusehn, um darüber beruhigt zu sein. Er sei frech wie die leibhaftige Gesundheit.

Und dann platzte sie heraus:

»Marianne ist also deine Geliebte. Schöne Neuigkeit!« Und da er verblüfft schwieg: »Du hast den Weltrekord im Ausziehn von Damenstrümpfen. Und bei ihr trainierst du – wie?«

Sie stand dicht vor ihm und starrte ihn unverwandt an. Plötzlich hob sie die Hand, als wollte sie ihn schlagen.

»Sibylle!« schrie er und trat einen Schritt zurück. Die Arme hingen ihm schlaff herab, die geöffneten Hände zitterten. »Ich bin noch nie geschlagen worden», versicherte er.

Etwas sanfter sagte sie: »Ich wollte dich nicht schlagen, Paul, ich will nur, daß du die Wahrheit sagst.«

»Habe ich geleugnet«, rief er trotzig.

Sie verzog ein wenig das Gesicht, ließ den Kopf sinken.

»Es ist gut«, sprach sie leise, und mit dem Anflug eines Lächelns setzte sie hinzu: »Weitere Auskunft erteilen Herr Notar Burguburu und Agentur Ad astra

Minutenlang standen sie einander wortlos gegenüber. Noch nie hatte ihn ihre Schönheit so ergriffen!

Er wunderte sich, daß sie bei ihrer Zartheit fähig war, den geringsten Schmerz auszuhalten – daß sie nicht verging, sich in Luft auflöste, wenn man sie anschrie... Wie konnte ein so fein gefügter Körper ein Herz wie das ihrige ertragen, ohne in Stücke zu springen! Er glaubte zu sehn, wie ihr Herz gegen die Wände ihres Wesens schlug, hierhin und dorthin. Sie wankte nicht... Auf einmal fiel ihm ein, wie er auf dem Turm von Notre-Dame in Paris gestanden hatte, als die Glocken läuteten. Die Luft zitterte, die Steine bebten, das ganze Gebäude schwankte unter ihm. Für eine Sekunde schloß er die Augen, um des Schwindelanfalls Herr zu werden.. Als er sie wieder aufschlug, sah er, wie der versteinerte Ausdruck ihrer Züge gleichsam durchlässig wurde und atmend Farbe annahm, ihr tief dunkler Blick belebte sich und spiegelte den Aufruhr ihres Innern, der nach und nach ihre ganze Gestalt erfaßte, die Finger nestelten an ihrem Kleid, die Zehen in den Sandalen bewegten sich unruhig. Er ging auf sie zu.

Sie konnten einander nicht lange ansehn, ohne zu küssen – warum hätte es diesmal anders sein sollen, da ihre Liebe noch nicht einmal erfüllt war! Doch diesmal drang der Kuß bis auf den schmerzlichen Grund ihrer Liebe und machte sie taumeln in einem Glücksgefühl, das grenzenlos war, weil es alles Leid in sich einschloß. Und neben ihnen stand der Tod. Beide spürten sie ihn, wenn auch mit ungleicher Stärke. Ihm lief ein Schauer bis in die Haarwurzeln. Sie aber, sie wurde trunken von seiner Nähe! Aus seiner Hand empfing sie den Geliebten, und sie wußte, diese Hand war unüberwindlich, war stärker als alles auf der Erde. In ihren Eingeweiden lebte eine Angst, dann wieder Jubel, und so ging es weiter von einem zum andern.

Erst erschrak sie über die zwiespältige Gewalt, die ihr das Herz verdrehte. Dann gab sie sich ihr schrankenlos hin und warf sich dem doppelköpfigen Gott zu Füßen. Das Opfer war gebracht, der Sieg errungen. Alles geschah wie auf höheres Geheiß. Paul gehörte ihr, sie war in unaussprechlicher Weise sein, so wie kein Mensch, der am Leben hing, einem andern angehören durfte, niemand konnte ihr den Freund mehr rauben – niemand, der es nicht wagte, sein Leben am Rande dieses Abgrunds aufs Spiel zu setzen ...

Es war nicht leicht, aus dem von ungewissen Flammen erhellten Schattenreich in die Helligkeit des Pinienhains zurückzufinden.

Die Wirklichkeit erschien traumhaft. Das Goldlicht zwischen den Ästen, deren Zäpfchen die dunkeln Nadeln mit gelbem Blütenstaub bestreuten, der Duft des Harzes in der reglosen Luft weckte in rascher Folge Erinnerungen, die gleich wieder vergingen. Dazwischen trat jedesmal eine große Leere ein. Innen und Außen waren vertauscht, Zeit und Raum – wie Blinde tappten Paul und Sibylle in die Gegenwärtigkeit des Waldes und ihrer eigenen Erscheinung. Und auch die Sprache konnten sie nur mit Mühe zurückgewinnen. Sie paßte nicht mehr zu dem, was sie dachten und empfanden. Sie gehörte einer Vergangenheit an, die unwiederbringlich dahin war. Was aber neu und in echter Weise gegenwärtig hätte sein sollen, das entzog sich ihnen, es schwamm hinter ihren Worten und Gebärden, sie drangen nicht bis dahin durch. Dennoch hatte das Zwielicht etwas Beseligendes. Es nahm allem die Schärfe und enthob sie der Verantwortung füreinander, jedes bewegte sich in seinem eigenen Geheimnis und Gesetz. Dies ist das Glück, dachte Sibylle, und sie drückte die Gewißheit mit bebenden Armen an die Brust und nährte sie mit der Milch ihrer ungewissen Gedanken.

Schweigend gingen sie umher, zeigten lächelnd auf dies und das, lagen nebeneinander auf dem Boden oder in ihren Hängematten und blickten sich an, bis sie, schwindlig geworden oder von einer Klarheit angezogen, zusammenschossen und in einem langen Kuß einkehrten, wo unter den Steinaugen des doppelköpfigen Gottes die Quelle der Erfüllung floß.

Sibylle sagte sich: Gemeinsam würden wir Wunder vollbringen.

Aber wie lange blieb man denn eins? Für die Dauer einer Umarmung! Jede Trennung spaltete sie bis in die letzte Fiber. Ihre gewohnten Spiele hörten auf. Sie waren nicht mehr leicht genug.

Niemals hatte Paul bei Marianne Ähnliches empfunden, obgleich er sie, wie die Dummköpfe sich ausdrückten, ›ganz besaß‹. Er entdeckte es mit Verwunderung und Unwillen. Der Gedanke an die strammen Schenkel im wehenden Kleid verursachte ihm Unbehagen. Sie rückte immer weiter weg, ihre Züge verschwammen im Goldduft von Thymian und Harz, ins Wesenlose zurückgeworfen von den breiten Ästen, die, mit Blütenstaub befleckt, in die Lichtung hineinragten...

Am letzten Tag, es war ein Sonntag, junge Bauern boten auf der Landstraße den Vorüberfahrenden Narzissen, Levkojen, Kirschblütenzweige an, kauerte sich Sibylle im Wagen neben ihn auf den Boden und blickte ihn mit einem Lächeln an, das, ohne starr zu werden, keinen Augenblick aus ihren Zügen verschwand.

Es war ein heimliches Lächeln, es floß gleichsam unter der Haut und schien nur durch, es war ihr Blut, das lächelte. Sie selbst hielt sich ernst und gesammelt.

»Tu das nicht«, bat er. »Ich kann sonst nicht fahren, und die Straße ist voller Wagen – dazu die Sonntagsfahrer!«

»Glaub doch nicht, daß dir etwas geschieht, wenn ich dich so ansehe«, versetzte sie mit tiefer Überzeugung.

Statt einer Antwort strich er ihr über das Gesicht. Sie haschte die Hand und küßte gewissenhaft eine Fingerspitze nach der andern.

»Heute, Paul, ist kein Augenblick zu verlieren, ich lasse dich keine Sekunde allein«, erklärte sie. »Ich sammle Vorrat. Ich hamstere. Wer weiß, ob du im Sommer noch derselbe bist! Was tue ich dann? Vielleicht muß ich mit meinem Vorrat ein Leben lang reichen. Denk nur!«

Er hob den Kopf und rief laut vor sich hin, und es klang wie ein Schwur im Angesicht vom Himmel und Erde:

»Für dich werde ich immer derselbe bleiben!«

Sie sagte nichts. Sie rührte sich nicht. Nichts an ihr veränderte sich. Ihr Blut lächelte versonnen, und ihre Augen lagen nach wie vor auf ihm, als hätte sie seine Worte nicht gehört.

In der großen Kurve begegnete ihnen ein Wagen der ›roten Linie‹ mit Louis am Steuer. Paul hob die Hand zum Gruß, und Louis richtete sich blitzschnell auf, um zu sehn, wo Sibylle sich versteckt hielt.

»Louis hat dich vermißt«, meldete Paul.

»Der gute Louis! Seitdem er mich angefahren hat, ist er ständig in Sorge um mich. Wenn jemand Blumen in seinem Wagen liegen läßt, bringt er sie mir. Aber das wird bald aufhören... Er heiratet.«

Dann lagen sie nebeneinander in ihren Hängematten, erhoben sich, um das Essen zu bereiten, und weil heute der letzte Tag war, stellten sie nachher gleich alles auf einen Haufen zusammen. Gerade so gut hätten sie es wie sonst halten und erst kurz vor der Abfahrt aufräumen können, bis dahin blieb das Gerät doch an seinem Platze stehn. Aber alles, was sie heute taten, trug unwillkürlich den Stempel der Letztmaligkeit, ein jeder Schritt, eine jede Handreichung zeigte den Aufbruch an – den jeder Schritt, jede Handreichung gleichzeitig verschob. Auch streiften sie nicht wie gewöhnlich auf gut Glück durch den Wald, sie suchten, ohne es sich einzugestehn, Stellen auf, mit denen eine besondere Erinnerung verknüpft war, lagerten sich und versanken in Gedanken, und so verging der Tag in schwermütiger Rückschau auf das Vergangene, das ihnen jetzt heiter und restlos einfach erschien, und in langen Umarmungen. Sie fühlten sich ihrer Umgebung entfremdet, und je vertrauter ihnen auf den erinnerungssüchtigen Wegen die Einzelheiten wieder wurden, um so mehr entschwand der verwunschene Wald. Es war, wie wenn sie im Wandern seltene Steine sammelten, die sie gleich wieder verloren.

Während sie sich auf ihrem endlosen Gang unerschöpflich dünkten, sehnten sie insgeheim den Abend herbei und das Ende.

 

Der Abend kam und brachte dem Wald die Botschaft eines in Sanftmut schwimmenden Himmels und einer Erde voller Wohlgerüche. Sein rosiger Hauch duftete nach Levkojen, Narzissen, Mimosen, er bewegte leise die Äste der Pinien.

Paul und Sibylle trugen das Gerät zum Wagen, die Kissen und Decken, die ungelesenen Bücher. Sie nahmen die Hängematten ab und kehrten ein letztes Mal zurück, um nachzusehn, ob nichts vergessen worden war. Sie standen in der Mitte der Lichtung. Es schien, als wollten sie sich noch einmal küssen, wie sie sich hundertmal hier geküßt hatten, als Sibylle eine abwehrende Bewegung machte.

»Glaubst du –«, begann sie, dann stieß sie mit rauher Stimme die Frage hervor: »Hat deine Mutter einen Geliebten?«

»Meine Mutter?» rief Paul empört.

So sei es, meinte sie, offenbar eine Schande, einen Geliebten zu haben.

»Sag es doch«, drängte sie. »Ist es eine Schande?«

Sibylle ließ ihm nicht die Zeit, eine angemessene Antwort zu finden, sie versuchte zu lachen und sagte, sie höre es wieder unter den Strohblumen rascheln, und das Geräusch kitzle sie wie Brennesseln in den Ohren, und er dürfe um nichts in der Welt jetzt mit seiner Weisheit herausrücken.

Im nächsten Augenblick trat sie dicht an ihn heran, bog seinen Kopf herunter und flüsterte:

»Paul! Ich will mich dir geben.«

Als er, auffahrend aus dumpfer Bestürzung, die Arme um sie schlug, stemmte sie sich gegen seine Brust und sprach mit kaum wahrnehmbarer Stimme: »Nicht so.«

Er ließ sie los, und sie kehrten einander den Rücken, gingen einige Schritte abseits und entkleideten sich. Er drehte sich um, da stand sie nackt vor ihm und sah ihn mit angsterfüllten Augen an. Rasch kam er näher. Er streckte den Arm nach ihr aus, da machte sie einen Satz und floh ins Gebüsch.

Auf dem Karrenweg holte er sie ein. Eine Minute lang, eine endlose Zeit, schwankten sie eng umschlungen im Abendlicht. Es war von der gleichen Farbe wie ihre Körper, wie die Baumstämme, wie die Erde unter ihren Füßen. Sie glichen Geschöpfen des Waldes, der Abend rief sie, und sie erfüllten ihre Bestimmung. Sie stürzten zusammen zu Boden, auf ein Felsstück, das wie hartes Eingeweide ein wenig aus der Erde hervortrat, und rollten in eine vom Wasser der Regenzeit ausgehöhlte, thymianbewachsene Kuhle. Und hier vereinigten sie sich, wie wenn sie mit verbissener Wildheit ein Urteil vollstreckten. Ihre zuckenden Leiber verrieten mehr Schmerz als Lust, und nur in den Pausen, wenn sie reglos dalagen, leuchteten sie aus dem Schatten wie die Verkörperung des Abends, dessen zwiefaches Herz die letzten Schläge tat, bevor er tief ausatmend in den Waldgrund um sie herum einging. Paul sah, wie Sibylles Mund von einem irren Lächeln bewegt war und Worte zu formen suchte, sie drehte den Kopf hin und her, und auf einmal erhob sich von ihren Lippen, leise und zaghaft, ein Lobgesang. Sie gab ihm die schönsten Namen der Schöpfung, er fiel ein in die zitternde, wispernde, bisweilen von einem verhaltenen Schluchzen unterbrochene Litanei – verzückt küßten sie einander alle Süße von den Lippen, die Liebesworte enthalten können.

Als er die Arme freimachte, um sie nochmals ganz und gar zu umschlingen, schrie sie auf.

»Die Hunde!« schrie sie.

Aber Paul ließ den Körper, den er glühend hielt, nicht wieder los, er zwang die Widerstrebende an seine Brust, und Sibylle mußte die Augen schließen und sich krampfhaft strecken, um nicht zu sehn und zu spüren, wie die Hunde sie mit munteren Sprüngen umtollten, mit ihren feuchtkalten Schnauzen sie anstießen und unter Freudenlauten über sie hinwegsetzten.

»Die Hunde!« stammelte sie ...

Dann konnte sie nicht länger an sich halten. Sie versuchte es wohl und kroch mit dem Kopf unter Pauls Achsel, aber es ging über ihre Kraft, sie wimmerte anhaltend: »Die Hunde! Paul, die Hunde! Ich sterbe...«

Durchdringend schrie sie um Hilfe.

Sie erhoben sich, ohne einander anzusehn, und liefen zur Lichtung. In einiger Entfernung folgten die Hunde. Sie erwarteten ihre Leckerbissen, und als sie den Umkreis abgeschnüffelt und nichts gefunden hatten, die beiden Spender aber keine Anstalten trafen, sie zu befriedigen, stimmten sie ein halb klagendes, halb herausforderndes Gebelfer an. Um den letzten Rest von Fassung gebracht, zogen Paul und Sibylle sich nicht bis zu Ende an, sie flohen mit den Kleidern zum Wagen. Als sie sich umdrehten, weil die Hunde plötzlich verstummten, sahen sie am Rande der Lichtung einen hemdsärmeligen Bauern stehn. Er trug eine Hacke auf der Schulter.

Er stand da und blickte sie ernst und vorwurfsvoll an.

Sie blieben eine Weile wie versteinert, die Augen auf die Gestalt gerichtet. Endlich liefen sie weiter, warfen sich im Wagen die Kleider über und fuhren los. Sie konnten nur Schritt fahren und fieberten vor Ungeduld, aus der Wildnis herauszukommen, die sich mit einmal gegen sie erhob. Ihre geschundenen Glieder schmerzten bei jedem Stoß des Wagens, sie verzogen dauernd das Gesicht, als müßten sie Spießruten laufen. Die Hunde verfolgten sie heulend bis an den Waldrand. Auf freiem Felde machten sie halt und schauten zum Wald zurück. Plötzlich fuhr Paul zusammen, und Sibylle entschlüpfte ein leiser Laut des Entsetzens. Unter den Bäumen hervor trat der hemdsärmelige Bauer mit der Hacke und blickte unbeweglich zu ihnen herüber ... Vor ihm standen die Hunde und bellten besessen in ihre Richtung. Ihre heiseren Stimmen überschlugen sich, sie machten eine Pause und begannen von neuem.

»Ich schäme mich«, flüsterte Sibylle.

Sie schlug die Hände vor das Gesicht.

»Schnell, Paul«, bettelte sie unter stoßweisem Schluchzen. »Fort! Fort! Fort! Fort!«

Sie fuhren davon, als wäre die brausende Luft um sie der Atem von Rachegeistern.

Beim Einbiegen auf die Landstraße schleuderte der Wagen mit seiner Breitseite bis an die Böschung, ein junger Feigenbaum, der ihn auffing, wurde vom Trittbrett geknickt, Sibylle hing schon halb aus dem Wagen, als Paul sie mit einer Hand zu fassen bekam. Er hielt sie am Halsausschnitt des Kleides fest, Kleid und Hemd rissen bis hinab auf den Gürtel.

»Weiter«, sagte sie atemlos, »weiter!«

Ohne sich um die Beschädigung des Wagens zu kümmern, setzte Paul die Fahrt fort. Bald raste der Wagen in der Straßenmitte, daß die entgegenkommenden Fahrzeuge mit einem Ruck ausweichen mußten, bald schlich er auf der Seite dahin, und dann vernahm Paul ein Klirren, das vermutlich von den Ventilen herrührte. Im Schatten einer Platane machte er halt, um den Motor nachzusehn. Aber er fand nicht die Entschlußkraft, sich vom Sitz zu erheben. Sibylle war eingeschlafen. Mit zurückgeworfenem Kopf und offenem Mund war sie gegen seine Schulter gesunken. Er selbst hatte sich zweimal ertappt, wie er im Begriff stand, am Steuer einzunicken. In dem noch immer lichten Abend sammelte sich rieselnd die Müdigkeit vieler schlafloser Nächte und deckte Gesicht und Wille zu. Die Luft verdichtete sich vor seinen Augen, holde Geräusche erfüllten sein Ohr. Rasch, als liehe er der Schlafenden einen Halt, indes er selbst versank, legte er den Arm um sie, zog auch noch Hemd und Kleid über ihre bloße Brust, und nach wenigen Sekunden schlief er so fest, daß kein vorbeifahrender Wagen ihn wecken konnte.

Erst als das Geräusch eines Lastwagens mit dem Lärm eines Bergsturzes über sie kam, schnellten sie gleichzeitig in die Höhe und schauten sich verwundert um.

»Guten Morgen«, sagte nach einer Weile Sibylle.

»Gut geschlafen?« fragte Paul.

Sie erklärte sich erfrischt wie nach zwölfstündigem Schlummer. Auch der Wagen schien erholt, das Ventil klapperte nicht mehr. Aber Sibylle bemerkte, daß Paul schneller und auch nicht so sicher fuhr wie sonst. Sie lehnte neben ihm und hielt mit gekreuzten Händen das zerrissene Kleid auf der Brust.

Ihr Wachsein war überklar und voll mühsam unterdrückter Erregung. »Es sind also keine Schatzgräber«, sagte Paul, der eine Erklärung des Vorgefallenen für angebracht hielt, »es sind Bauern, die ihre Äcker jenseits des Waldes haben und am Sonntag zu Hause bleiben und ihren Gemüsegarten versorgen.«

»Natürlich«, antwortete Sibylle in gleichgültigem Ton.

Er blickte in den kleinen Spiegel an der Windscheibe und dachte: Sie hat kein Verlangen mehr, mich anzusehn wie bei der Herfahrt. Sie weicht meinem Blick aus. Was habe ich ihr getan?...

Gleich darauf sagte sie, und diesmal klang es wie ein Vorwurf:

»Ich schäme mich.«

Er spielte den Erwachsenen, der einem Kind lächelnd seine Torheit nachsieht:

»Vor dem Bauern?«

»Nein«, antwortete sie. Ihre Stimme bebte vor Unwillen. »Vor deiner Mutter.«

Er schwieg betroffen.

»Ich habe es nicht freiwillig getan«, setzte sie nach einer Pause hinzu. »Wer – wer hat dich gezwungen?« fragte er.

Sie hob den Kopf und wartete, bis ihre Blicke sich im Spiegel begegneten. Dann sagte sie: »Marianne.«

»Laß, bitte, Marianne aus dem Spiel«, versetzte er. »Du kennst sie nicht. Du tust ihr Unrecht ... Marianne hat nie ein Wort gegen dich geäußert – nicht einmal in Gedanken.«

Unvermutet sah er die andre vor sich stehn, groß und schmiegsam, mit ihren strengen Zügen, die so leicht schmolzen, mit dem abstehenden Haar einer ägyptischen Königin.

»Oh! ich zweifle nicht, daß sie besser ist als ich«, beteuerte Sibylle. »Dazu gehört nicht viel.«

Er zuckte die Achseln.

»Nun sind wir wieder so weit, Sibylle ... Es ist schrecklich mit uns ... Als ob nichts geschehn wäre.«

Die andre, erinnerte er sich, die andre – wie hatte die Liebe sie verwandelt! Und sie war für ihn verwandelt geblieben bis auf den heutigen Tag...

Als Sibylle nach einiger Zeit antwortete, klang ihre Stimme wie eine helle Klage. Es war ihre hohe, zarte, singende Stimme, sie schmeichelte sich in sein Ohr und durchdrang ihn zutiefst. Und was sie sagte, war furchtbar.

»Was soll denn geschehn sein, Paul? ... Zwei räudige Hunde und ein Bauer mit der Hacke auf der Schulter sind gekommen und haben uns beschmutzt... Sag, ist das je geschehn, wenn du – wenn du mit Marianne warst? Ich kenne sie nicht, nein, es könnte auch eine andre Frau sein, jede andre, daran liegt es nicht, Paul. Es liegt an mir, Paul ... Das Schönste, was es auf der Welt gibt, mir wird es beschmutzt – ich weiß es längst. Es ist mein Los. Ich heiße Sibylle. Meine Mutter ist die Witwe Bosca. Mein Vater haust als ein böser Geist im Keller ... Sag selbst: ist es meine Schuld? Liebe ich dich nicht? Liebe ich nicht genug? Habe ich nicht alles getan? Willst du mehr? Alles, alles sollst du haben! ... Bedenke doch, Paul, versteh doch – wie entsetzlich! Was aus meinen Händen kommt, das Herrlichste, was ich mir aus dem Herzen reiße für dich, nur für dich – darüber kommen die Hunde. Und ich darf noch froh sein, daß der Bauer dich nicht totschlug und mich irgendwo einsperrte für seine Sonntage ... Vielleicht hat er einen ausgetrockneten Brunnen, der sich dazu eignet ...« Sie rückte nahe an ihn heran und flüsterte mit veränderter Stimme: »Natürlich ist es nicht angenehm, wenn eine Frau zu ihrem Mann ins Bett hinkt. Es nimmt beiden den Schwung ... Siehst du, Paul, heute habe ich erfahren, wie wahr das ist! Die Witwe weiß alles. Die Witwe hat es mir vorausgesagt.«

Sie warf den Kopf zurück und stöhnte.

Paul brachte den Wagen mitten auf der Straße zum Stehn.

»Ich kann so nicht fahren, Sibylle. Es geschieht ein Unglück. Du bringst mich von Sinnen. Was in aller Welt soll ich tun? Was? Sag es mir! Ich schwöre, ich will es tun!«

»Du kannst nichts tun, das ist es ja«, sagte sie. »Nichts ... Der mit dem Dreizack ist allemal stärker.«

»Es gibt keine Hölle«, rief er wild, »und also auch nicht deinen Privatteufel mit dem Dreizack. Warum tut er denn mir nichts, der Dummkopf! Mir kannst du ihn lebensgroß an die Wand malen – ich spucke darauf! Es gibt den Willen des Menschen, glücklich zu sein. Dem einen gelingt's, dem andern nicht. Niemals aber gelingt es einem, der nicht an sich glaubt.«

»Das ist es eben, Paul«, gab sie mit sanfter, klingender Stimme zu. »Du sagst es ganz richtig. Du hast ja gesehn, wie es heute war. Da habe ich an mich geglaubt – und gleich kamen die Hunde!«

»Ich pfeife auf die Hunde!« behauptete er und gab mit einer grimmigen Bewegung des ganzen Körpers Gas. »Und wenn es Schlangen gewesen wären und Kröten und – und – Ich habe dich in den Armen gehabt! Und geküßt! Und werde es wieder tun! Das andre geht mich nichts an, es berührt mich nicht, ich kann es vergessen, als wäre es nie gewesen. Wer liebt, der vermag alles. Wer liebt, ist ein Gott.«

Sie tippte mit dem Finger auf den Spiegel, in dem ganz klein sein erbostes, sein begeistertes Gesicht tanzte, und sagte lächelnd:

»Du wirst es nicht wieder tun.«

»Doch, heute noch. Wir baden.«

Sie lachte kurz auf. »Ach so! Wir waschen es uns vom Leib! Hunde und Hacke und Sibylles Pech! Wir baden.«

»Jawohl«, rief er, »so lange, bis alles weg ist, spurlos verschwunden, hauptsächlich dein Pech. Wir baden. Bis du von Kopf zu Füßen glänzt vor Begabung zum Glück. Es ist nicht wahr, daß es angeboren sein muß, man kann es auch lernen. Man kann es erzwingen.«

»Unsinn, mein Junge!« erwiderte sie ruhig. »Da wäre mein Vater noch am Leben, und deine Mutter hieße Frau Bosca ... Ach, Paul, deine Weisheit! Ich fange an, sie liebenswürdig zu finden. Sie steht dir so gut! Es ist nicht wahr, daß du sie nur benutzt, um dein Gesicht zu schwärzen wie Diebe in der Nacht. Du trägst sie auch, wenn es hell ist und du gar nicht daran denkst, zu stehlen.«

Das ›Land der Freunde‹ lag hinter ihnen, sie grüßten das Pinienpaar an seiner Grenze, genannt ›Wir zwei Alten‹, und fuhren ein in ihren ›Garten‹. Paul hörte gar nicht recht zu. Er wollte sich nicht rauben lassen, was er besaß – ob gestohlen oder nicht, sie mochte sagen, was sie wollte.

»Hast du gesehn, Sibylle, auch ›Wir zwei Alten‹ blühn«, meldete er. »Bäume und Pflanzen blühen jedes Jahr, und wenn sie nicht mehr blühen, sind sie tot. Aber solange sie leben, blühen sie ... In der Natur gibt es das nicht, daß etwas Lebendiges gleichsam schon tot ist und die Jahreszeiten über sich ergehen läßt, ohne mitzuhalten – so was gibt es einfach nicht!«

»So dachte ich voriges Jahr um diese Zeit auch«, antwortete sie.

Er verbesserte: »Ab und zu.«

»Oh, eine ganze Weile, mein Junge. Denk nur, als wir von Marseille zurückkamen, und ich war gesund – und setzte mir die Krone Karls des Großen auf meinen viel zu kleinen Kopf! ... Die Krone fiel durch auf die Schulter, und der Kopf guckte oben heraus, und ich sah mich um wie von der Plattform eines Aussichtsturmes, der mit hundert Kilometer Geschwindigkeit durch das Land marschiert... Großartig kam ich mir vor, das kannst du mir glauben.«

»Schade, daß du so gern von den Aussichtstürmen herabfällst«, meinte Paul.

Er sagte es in einem hochfahrenden Ton, etwa so, als wäre ein Turm sein gewohnter Aufenthaltsort. Das kam aber nur so heraus, weil sie jetzt die schmalste Stelle der Straße durchfuhren und er aufpassen mußte. Sibylle beachtete nicht, was um sie her vorging. Sie blickte gereckten Hauptes in die Ferne, die Wagen auf der Straße waren eilende Schatten.

»Danke für das Beileid!« sagte sie hart.

Aber auf der Höhe über Cantal riefen sie beide aus einem Munde: »Der Mond!«

Paul lenkte den Wagen an die Böschung, um die Straße für die rudelweise heimkehrenden Ausflügler frei zu halten, und stellte den Motor ab.

Über den Bergen zu ihrer Linken ging der Mond auf, rund und rot wie eine Sonne in einem blaßblauen Himmel, und die Erde errötete, als wäre es nicht Abend, sondern Morgen.

Zu ihren Füßen lag die Cantaler Bucht, von einer dünnen rosigen Haut überzogen, die unter der Berührung des Windes erschauerte. Der Scheinwerfer eines unsichtbaren Schiffes strich mit beruhigender Hand darüber. Und auch Sibylle lief ein Schauer über den Rücken, Paul nahm ihr die weiße Baskenmütze vom Kopf und strich beschwichtigend über ihr Haar. Sie hielt still.

Rings auf den Hängen irrlichterte ein rosiger Schein – sichtbar gewordener Atem der Erde. Atmete sie ein, wurde es dämmerig, alle Umrisse verwischten sich, Höhe sank in Tiefe. Atmete sie aus, wurde es nicht heller, aber überaus farbig.

Der Meerwind brachte einen starken Gewürzduft herauf, zugleich mit einer Kühle, die wohlig in die Hautporen drang nach dem heißen Tag. Es war abwechselnd kühl und warm, fast schwül, dicht über Paul und Sibylle torkelten Fledermäuse durch die Luft.

Der Mond stieg höher und wurde honiggelb. Die rosig erschauernde Haut des Meeres verlor an Dichte unter dem Streicheln des Windes, dunkles Blau schien durch. Bald danach wechselte der Lichtschein auf den Hängen nicht mehr mit Schatten ab, er blieb beständig und verging zuletzt unmerklich wie der Hauch auf einem Spiegel. Im selben Maße nahm die Erde die blaßblaue Farbe des Himmels an. Als entledige sich ein Weltenwanderer seiner Last, stürzte mit einem Ruck die Dunkelheit herab.

Der Scheinwerfer war erloschen, dafür stach der Leuchtturm der Schildkröteninsel zweimal hintereinander scharf in die Nacht: Kurz, lang – kurz, lang.

Paul wurde auf einmal unheimlich zumute. Er befürchtete einen Ausbruch Sibylles, wie er manchen erlebt hatte, nur daß es jetzt bewußte Leidenschaft wäre, die ihr Recht forderte. Er hatte ihr nichts Gleichstarkes entgegenzusetzen. Er fühlte sich grob und gewöhnlich neben ihr – im Grunde nur einer Marianne ebenbürtig ... Hausbrot, dachte er, Marianne und ich, wir sind kräftiges Hausbrot, man darf unbedenklich hineinschneiden. Eine schwirrende, gleichsam mit sprengenden Gefühlen geladene Stille wehte ihm aus der Tiefe der reglos neben ihm Sitzenden entgegen. Er wollte weiterfahren, und als sie um einen kleinen Aufschub bat, schlug er mit gemachter Aufgeräumtheit vor, ›ein Versäumnis nachzuholen‹. Keinesfalls konnte er länger untätig neben ihr sitzen.

Im ›Land der Freunde‹ wie im engeren ›Garten‹ besaßen sie eine Anzahl Denkmäler: zur Erinnerung an eine besondere Stunde, einen besonderen Tag, an einen Sonnenuntergang, einen durchstrahlten Regenschauer, der sie überraschte und, kaum begonnen, mit einem Regenbogen endete, zur Erinnerung an ein Nachtigallenpaar, das über das kleine Tal hinweg im Liebesgesang wetteiferte, und hier ganz in der Nähe, zwischen den Narzissenfeldern, stand der Denkstein eines von Sibylle im vorigen Jahr geleisteten Schwures, ›nie mehr den Kopf hängen zu lassen, wenn es in der Ferne donnerte‹, wobei unter fernem Donner im allgemeinen das Schicksal und im besonderen das launische Gemüt der Witwe Bosca zu verstehen war ... Überall hatten sie Steine zusammengetragen und in den größten mit dem Schraubenschlüssel [›Griffel der Klio‹ genannt] das Datum eingeritzt. Die Höhe über der Cantaler Bucht, wo sie oft Tag und Nacht vor dem unendlichen Horizont hatten wechseln sehn, war bisher leer ausgegangen. Dies Versäumnis also wollte Paul jetzt nachholen.

»Paß auf, Sibylle«, sagte er, »das habe ich gleich gemacht.« Er öffnete die Tür.

Die Ablenkung gelang nicht, und ihre Antwort zeigte, daß sie im Begriff war, ihre Selbstbeherrschung zu verlieren.

Sie hielt ihn fest und bat, dann lieber weiterzufahren, die albernen Denkmäler könnten ihr gestohlen bleiben, sie sei kein Kind mehr, einmal müsse das Spiel aufhören. Worauf er die Türe wieder schloß und erwiderte, die albernen Denkmäler seien viel weniger albern als die meisten, die man auf öffentlichen Plätzen sehe, er lasse sich nicht quälen, er quäle auch niemand, einmal müsse die Quälerei aufhören. Und wenn sie kein Kind mehr sei, so gelte er allgemein für einen Mann, und er bitte, als solcher behandelt zu werden. Darüber schaltete er den Gang ein und fuhr weiter.

Nunmehr behauptete sie, und dies kränkte ihn arg, mit der Mannheit möge es wohl seine Richtigkeit haben, in diesem Fall jedoch habe seine mimosenhafte Bequemlichkeit seinen Stimmbruch überlebt.

Er hob sekundenlang die Hände vom Steuer und rief verzweifelt:

»Du! Nicht ich! Du benimmst dich, als ob alles an dir den Stimmbruch überleben wollte – als ob heute nichts, nichts mit uns geschehen wäre.«

»Es ist nichts geschehen«, sagte sie.

Dann waren auch die Hunde eine Täuschung! Und der Bauer mit der Hacke! Und sie hatte sie nur erfunden, um ihn und sich zu quälen!

»Du verläßt mich ja doch«, erklärte sie da mit einer Bestimmtheit, die ihn erschütterte. Er steige nicht zu ihr hinunter, um ihr richtig beizustehn, er bleibe oben auf seinem Aussichtsturm. Keine Macht der Welt bringe ihn herunter. Morgen fahre er weg, keine Macht der Welt würde ihn zurückhalten ...Ihre Stimme war tief und rauh.

»Man braucht ja die andre nur gehn zu sehn, um zu wissen, wie leicht sie dir's macht. Und das liebst du – das, nichts andres, alles andre ist dir zuviel. Morgen abend will sie dich wiederhaben. Morgen abend bist du bei ihr. Mit all meinem Blut könnte ich dich nicht loskaufen.«

Sie fuhren durch die engen, im Licht ab- und aufblendender Scheinwerfer zuckenden Straßen Cantals. Paul bemühte sich, seine Aufmerksamkeit wachzuhalten und seinen Willen zu sammeln. Wilde Entschlüsse zuckten in ihm auf, zugleich senkte sich die frühere Müdigkeit von neuem herab und drückte auf Schultern und Arme. Mit knetenden Händen hielt er das Steuer, er ließ sie nicht zur Ruhe kommen aus Angst, sie könnten unversehens einschlafen. Fiebernd hielt er Sibylle vor, warum sie sich gerade dies Gedränge aussuche, um ihm eine mörderische Szene zu machen, ihre Bosheit könne sie das Leben kosten. Seine Ungeduld stieg mit jedem Wagen, der nicht rechtzeitig abblendete. Höhnisch forderte er sie auf, in jedem dieser verdammten Sonntagsfahrer ihren Privatteufel mit dem Dreizack zu sehn – sie selbst mache sie dazu aus Seifenhändlern und Schuhverkäufern mit ihren eigensinnigen Beschwörungen. Warum sie die königlichen Hoheiten der Finsternis nicht grüße? ... Er sprach für sich, unbekümmert, ob sie ihn hörte, unbesorgt um den Eindruck seiner Worte, sein wirres Stammeln war ein Kriegsgeschrei, mit dem er gegen die Übermacht von sichtbaren wie unsichtbaren Feinden anging.

Bei der Brücke hinter Cantal mußte er halten, eine Limousine war einem Autobus mit dem Vorderrad unter den Kotflügel gefahren. Er wischte sich den Schweiß aus den Augen und verfolgte, breitbeinig im Wagen stehend, die Bemühung der Chauffeure, die beiden Autos unter Anteilnahme einer ständig wachsenden Zuschauermenge auseinanderzubringen. Alle Müdigkeit war von ihm gefallen. Vor ihm und in seinem Rücken begann, wie immer in solchen Fällen, ein wüstes Konzert der Hupen und Sirenen, verbunden mit Auf- und Abblenden der Scheinwerfer. Er beteiligte sich lachend daran. Schließlich setzte er sich und steckte eine Zigarette an.

»Darf ich auch rauchen?« fragte sie.

Er reichte ihr seine Zigarette. Sie zögerte einen Augenblick, die Zigarette anzunehmen – sonst bestand sie darauf, sie so und nicht anders gereicht zu bekommen. Er zuckte die Achseln und blickte zur Seite. Die Straße war frei, in einem vorstürmenden Rudel fuhren sie weiter. Nachdem er die ganze Zeit während ihres Aufenthaltes geschwiegen hatte, begann er im gleichen Augenblick wieder zu sprechen, da seine Aufmerksamkeit von der Straße völlig in Anspruch genommen wurde.

»Sibylle«, sagte er, »du verlangst etwas von mir, was ich nicht kann ... Mit dem besten Willen bringe ich es nicht auf ... Jetzt nicht – versteh doch, ich müßte lügen ... Laß mir doch bitte etwas Zeit!«

»Zeit wozu?« fragte sie.

»Mein Gott! Um zu dir zurückzufinden!«

Sie wandte sich ihm jählings zu und ergriff seinen Arm.

»Zurückfinden? Ich dachte ... Ich dachte, das sei heute geschehn ... Nein?«

»Du sagtest doch, es sei nichts geschehn!« überschrie er den Lärm eines Wagens, der sie im zweiten Gang überholte.

Erst erwiderte sie nichts. Als er sich schnell nach ihr umblickte, sah er auf dem dunkeln Hintergrund des Himmels ihren matt schimmernden Kopf, an dem die weiße Baskenmütze wie eine Mondsichel hing. Dann beugte sie sich wie aus weiter Ferne zu ihm herüber, und als sie ganz nahe war, sagte sie:

»Paul, ich bitte dich – gib acht auf uns!«

Ihre kleinen Hände lagen flach auf den seinen, und sie blickte ihm von unten her ins Gesicht.

»Ich liebe dich, Paul«, sprach sie. »Ich muß es dir noch einmal sagen ... Du mußt es wissen, es ist unbedingt nötig ... Ich liebe dich so – ich kann dir nicht sagen, wie. Siehst du, wenn ich es sagen könnte, würdest du mir ja glauben, und es stände anders um uns.«

»Wir sind gleich da, Sibylle«, sagte er.

»Wo?«

»An der Badestelle.«

»Ach so«, sagte sie versonnen, ohne ihre Stellung zu ändern. »Du willst also doch noch mit mir baden?«

»Ja«, sagte er stark. »Ja.«

Er sah sie, als stände sie aufgerichtet neben ihm in ihrer zarten Vollkommenheit: ihre Glieder, diese sanften eigenwilligen Wesen, den wie eine Quelle aus den Hüften strömenden kleinen Leib, die geraden Schultern, den Hals, den sie wie zu einer unhörbaren Musik bewegte, den Mund, rot und ein wenig weiß wie das Innere einer Feige ... Und indes er den Wagen zur Seite lenkte, in die Ausbuchtung der Straße, von wo der Pfad zum Badestrand hinabführte, dachte er daran, wie beim Aufreißen ihres Kleides, als er sie davor bewahrte, aus dem Wagen geschleudert zu werden, die zwei kleinen Brüste hervorsprangen und, von ihr unbeachtet, dablieben, zart und ein wenig feucht wie eine Vogelbrut, klar wie Wasser, dem man auf den braunen, sandigen Grund sieht, unwissend wie ein Kindermund – auf der Welt konnte es nichts Unschuldigeres geben! Die eine Brust war geritzt, wahrscheinlich hatte bei der Flucht durch die Büsche ein Dorn sie gestreift, und diese geringe Wunde sagte mehr aus über die Gewalt, die ihr geschah, als alles, was nachher gefolgt war ... Und dann hatte sie die ganze Zeit mit über der Brust gekreuzten Armen im Wagen gesessen ...

Paul schössen Tränen in die Augen. Er bückte sich, um den Gang auszuschalten. Da warf sie die Arme um seinen Hals.

Er schrie: »Vorsicht!« und drückte mit aller Kraft auf die Fußbremse.

»Wozu?« sagte sie leise an seinem Ohr. »Wozu?«

Ihre Stimme, er hörte es, zitterte in großer Angst. Davon wuchs seine eigene Angst ins Unermeßliche. Er wollte etwas sagen, aber ein Kuß verschloß ihm den Mund. Mit betäubendem Entsetzen empfand er ihn als das, was er war: ein Mord.

Grelles Licht überfiel sie, hinter ihnen donnerte ein Autobus vorüber. Paul suchte freizukommen, mit einem Ruck stemmte er sich in die Höhe.

Der Wagen machte einen Sprung und stürzte vornüber in den Abgrund.


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