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Die Tage wurden kürzer und kühler, der Meerwind nach Sonnenuntergang schmeckte bitter. Es war ein ungewöhnlich frischer Oktober.
Wenn Sibylle morgens aus dem Fenster sah, schien die Welt gealtert. Der Park lag zusammengeschrumpft unter einem Gewebe silbergrauen Schimmels. Die Sonne nahm es im Verlauf der nächsten Stunden Faden um Faden weg, aber Baum und Busch, Stein und Boden zeigten noch lange eine Unmenge Runzeln, die Sonne brauchte den halben Vormittag, um das Antlitz der Erde zu glätten.
Es war kalt morgens in der Villa Maria. Nur Fremden und ähnlichen Verschwendern fiel es ein, jetzt schon zu heizen – hieß nicht der Oktober der schönste Monat der Provence? Bis auf einige frühe Morgen- und Abendstunden herrschte sommerliche Wärme, diese Stunden nahm eine wohlgeartete Seele gern in Kauf.
Im Haus Rosmarin aber brannten gleich zwei Kamine auf einmal, der eine in Paulines Schlafzimmer, der andre in der Halle. Pauline pflegte noch zu schlafen, wenn Schäfchen hereinhuschte und sich am Kamin zu schaffen machte. Bald danach wankte das Haus unter dem Ausschlag der Dusche, und Pauline erwachte noch rechtzeitig, um die ›Klage des alten Pan‹ in der abgedrosselten Leitung zu vernehmen.
»Hallo Mutter! Sechs Uhr!«
Heute sprang Pauline auf diesen Ruf hin nicht sofort aus dem Bett und zündete auch das Licht noch nicht an. Sie hörte zu, wie Paul das warme Wasser für sie in die Wanne einlaufen ließ, folgte in stummem Selbstgespräch dem Spiel des Feuers und schrak ein wenig zusammen, sooft ohne erkennbaren Anlaß in dem kleinen Scheiterhaufen von Olivenholz wie aus einem Sauerstoffgebläse eine blaue Stichflamme hervorschoß, die auch genau so zischte und sauste ... Heute fuhr Paul in sein erstes Semester nach Paris.
Das Selbstgespräch der Mutter trat von Zeit zu Zeit sichtbar auf ihre Lippen. Die Lippen bewegten sich sekundenlang mit wechselndem Ausdruck, die Lippen blieben sinnend stehn, halb offen oder geschlossen, ernst oder lächelnd, und einmal öffneten sie sich weit zu einer stummen Frage, worauf Pauline gespannt auf eine Antwort zu warten schien.
Gegen Ende des Sommers hatte sich mit Paul etwas ereignet, dessen Folgen Pauline nicht absehn konnte, weil sie sich nicht klar war, was das Ereignis für ihn bedeutete. Sie faßte es in das Wort zusammen: La Cadière. Was war ihm ›La Cadière‹? Wieviel lag ihm daran?
Als sich zufällig herausstellte, daß eine Unbekannte, die er die Eremitin nannte, durchaus keine Unbekannte im ›Lande der Freunde‹ war, hatte sie eingewilligt, mit ihm zu der Dame zu fahren. Vorher hatte Paul sie ein einziges Mal gesehn. Bei einem Besuch La Cadières hatte er Sibylle beim längst verblühten Mandelbaum in seinem kellerartigen Tempel zurückgelassen und war zu dem kleinen gelben Haus geklettert. Und dort, hinter dem Haus, lag sie, fast völlig entblößt und mit geschlossenen Augen, in der Sonne. Der unglaublich willensstarke Ausdruck der Gesichtszüge beeindruckte ihn noch stärker als der untadelige Körper. Ohne von ihr bemerkt worden zu sein, war er zurückgeschlichen.
»Da oben liegt sie«, meldete er Sibylle, »und hat die Gewalt der Sonne im Gesicht« – und war selbst erstaunt über diesen ihm völlig ungemäßen Ausdruck. »Ganz was andres, als wir dachten«, fügte er hinzu, aber es war ihm nicht gelungen, Sibylles Neugier so weit aufzustacheln, daß sie ihm auf einen zweiten Pirschgang gefolgt wäre.
»Entweder du machst dich über mich lustig, und sie ist ein Scheusal«, sagte sie, »dann lohnt es sich nicht, da hinaufzuklettern. Oder sie ist wirklich so untadelig, wie du sagst, und dann will ich sie erst recht nicht sehn. Ich habe genug an der untadeligen Schönheit, wie sie bei uns am Strand und am Hafen herumläuft.« So war es bei dem ersten Eindruck geblieben. Ihr Bild aber hatte sich täglich tiefer in Paul eingeprägt.
Pauline war der Frau wiederholt bei gemeinsamen Bekannten im ›Lande der Freunde‹ begegnet. Sie mochte vierzig Jahre alt sein, soweit man nach dem sonnverbrannten Gesicht und der ziemlich hageren Gestalt urteilen konnte. Wenn sie stark und biegsam daherkam auf ihren hohen Beinen, um die ein Musselinrock geräumig schwankte, rechtfertigte sie in der Tat die Bezeichnung einer ›wandelnden Riesenschlange‹, mit der ihre Freunde sie belegten. Sie schritt sehr aufrecht, die Falten des weiten Kleides umschmeichelten die Beine und setzten die strömende Bewegung über die übrige Gestalt fort. Erst am Kinn und Nacken machte die Bewegung halt, und dann erst erkannte man, daß der Körper in all der Unruhe, die ihn einhüllte und trug, die Teilnahmslosigkeit einer Statue bewahrte.
Paul lehnte von vornherein die Bezeichnung ›Riesenschlange‹ ab und sprach statt dessen von der ›Gottesanbeterin‹, wobei mit dem Gott die Sonne gemeint war, bei deren gewaltiger Anbetung er die Fremde überrascht hatte.
Von seiner Mutter darauf aufmerksam gemacht, daß die Gottesanbeterin ein grausames Tier sei, das sein Männchen auffresse, antwortete er, Riesenschlangen ständen auch nicht gerade im Rufe der Sanftmut, und überhaupt kenne er nichts Unappetitlicheres als Schlangen.
Marianne empfing Mutter und Sohn in einem ärmellosen, weißen Sweater und einem Rock von gleicher Farbe, die halblangen Haare, hart, hellblond, standen von der geraden, wohlgeformten Schulter ab. Sie führte die Besucher zum Tisch, an dem sie arbeitete, zeigte auf die bunt untermalten Glasscheiben, die dort lagen und auch sonst überall im Zimmer herumstanden, und sagte:
»Davon lebe ich. Aber kein Mensch hat mehr Geld, um so etwas zu kaufen. Man muß warten, bis es besser wird. Das einzige, was noch geht, sind Porträts – leider muß ich sie oft nach eingesandten Photos malen.«
Am schönsten waren die Gläser, die am Fenster hingen. In ihnen schien alles Licht des Tages versammelt.
Die Bilder stellten, neben einigen streng stilisierten Köpfen von Männern und Frauen, hauptsächlich Vorgänge aus der Bibel, dem Landleben und Volksfesten der Provence dar, auch einzelne, peinlich gezeichnete Blumen befanden sich darunter, und eines wie das andre leuchtete in warmen, satten Farben.
Die Malerin sprach mit einem harten Akzent, von dem Paul nachher behauptete, er passe gut zu ihren willensstarken Zügen. Doch schmolz beim geringsten Lächeln die Härte in ihrem Gesicht und wurde zum Staunen eines Kindes oder zum Ausdruck einer Dankbarkeit, deren Grund meist im Dunkel blieb.
»Ich glaube«, sagte Frau Pauline, »sie hat es schwer gehabt im Leben.«
»Kann ich mir nicht denken«, meinte Paul. »Die weiß, was sie will.«
»Nein, mein Junge, die weiß, was sie muß. Und das ist ganz etwas andres ...«
Frau Pauline kaufte Marianne zwei Unterglasmalereien ab: ›Boulespieler bei einem blühenden Mandelbaum‹, ein Stück, auf das Paul gleich losgestürzt war, und eine wilde, gelbe Sonne über Häusern, die, bleich wie ein Gerippe, sich in der Panik des Mittags um den halb verfallenen Kirchturm drängten.
Danach war Paul wiederholt im gelben Häuschen eingekehrt, wo er das Leben mächtiger fühlte als irgendwo sonst zuvor, hoch aufgerichtet und in einer Art dauernder Verzückung dem Lichte zugewandt, vielleicht weil der Gegensatz zu dem Bild der Vergänglichkeit, wie das Städtchen es bot, der Lebenskraft Mariannes besonders starke Umrisse verlieh. Er selbst ging seitdem aufrechter, mit gelösteren Gliedern, eine liebenswürdige Heftigkeit hatte sich seiner bemächtigt, er war eifrig und pünktlich, nicht im geringsten mehr bequem, Errungenschaften, die Pauline unter andern Umständen beifällig begrüßt hätte.
Merkt denn Sibylle von alledem nichts? fragte sich häufig Pauline – aber sie wartete vergeblich auf eine entsprechende Anfrage durch die ›Mittagspost‹. Sibylle schien ruhig und guter Dinge. Er muß gelernt haben zu lügen, dachte sie ... Wenn Paul gegen elf Uhr heimkam und die Mutter noch nicht schlief, setzte er sich zu ihr und erzählte, ohne Marianne besonders zu erwähnen, von Menschen und Tieren, von Büchern, Bildern und Pflanzen auf eine Art, die seine gleichsam herausfordernde Einstellung zum Leben noch mehr verdeutlichte als die Änderung in seinem Aussehn. Er war nicht nur körperlich bewußter, er war auch innerlich gereift, und beides wie über Nacht.
Zuletzt hatte er kaum einen Abend verstreichen lassen, ohne ›auf einen Sprung hinüberzufahren‹. Aber auch dann, als er sich sagen mußte, daß sein täglicher Drang zu Marianne der Mutter genug verrate, wußte er ihr noch immer nichts von seiner Beziehung zu Marianne zu sagen. Es war schon viel, wenn er einmal beiläufig über Mariannes Arbeitszimmer äußerte: abends bei Licht strahle und funkle es von den bunten Glasscheiben wie ein kraftvolles Märchen. Und, fügte er freilich hinzu, diese farbige Lustbarkeit sei es, die ihn anziehe, mehr noch als die Gegenwart Mariannes – eine Bemerkung, von der sich Pauline eine Zeitlang hatte beruhigen lassen. Seine Ausdrucksweise begann ebenfalls mehr und mehr die Farben zu wechseln, auch gab er sich mit eigenen Versuchen in der längst außer Brauch gekommenen Malweise ab, die Marianne fast ganz allein in Frankreich wieder aufgenommen hatte.
»Du bleibst doch aber dabei, Medizin zu studieren?« fragte die Mutter, als sie ihn zum erstenmal dabei überraschte. Er antwortete, freimütig lachend, seine Versuche dienten lediglich dem besseren Verständnis von Mariannes Kunstfertigkeit, über deren Freude und Mühe er sich oft mit ihr unterhalte.
Und mehr konnte Frau Pauline trotz aufmerksamen Hinhorchens nicht erfahren.
So viel aber war gewiß: im gelben Häuschen hatte sich eine Liebesgeschichte angesponnen, und dieser Liebesgeschichte versuchte nun Frau Pauline an diesem Herbstmorgen auf den Grund zu kommen, gewissermaßen in letzter Stunde ...
Leider gab es hier niemand, der ihr selbst auf noch so ausdrückliche Fragen hätte antworten können, als das Kaminfeuer. Dieses ließ eine klare Antwort je mehr vermissen, je höher die Unruhe der Flammen stieg und je ungeduldiger sie selbst auf Antwort wartete. Des Ratens müde, sprang Frau Pauline mit einem Satz aus dem Bett, und als sie stand, stand zugleich auch der Beschluß fest, ihren Sohn nicht abreisen zu lassen, ohne ihm die dringliche Antwort entlockt, nötigenfalls entrissen zu haben. Sie kam sich streitbar vor wie selten in ihrem Leben, um nicht zu sagen gewalttätig.
»Ich bin es Sibylle schuldig«, entlastete sie sich vor sich selbst, und damit war das Selbstgespräch vor dem Kaminfeuer beendet.
Eine Viertelstunde später, Paul turnte nackt über die Treppe, hörte er sie singen. »Ihr, die ihr Triebe des Herzens kennt ...« Er wunderte sich. Er freute sich. Das hatte sie lange nicht gesungen! ... Ihre Altstimme zitterte ein wenig.
Arm in Arm schritten sie die Treppe zur Halle hinunter.
»Nachts schleichen Diebe ums Haus«, versicherte scherzhaften Tones Paul, als sie am Frühstückstisch saßen. »Ich fürchte mich, Mutter, dich alleinzulassen.«
»Fürchte dich nicht, mein Junge. Der Dieb ist der Kater Marius. Er leidet an Schlaflosigkeit und belustigt sich mit welken Blättern auf der Terrasse. Und wenn du meinst, es schleiche eine ganze Einbrecherbande ums Haus, dann ist es der Wind, der Marius ärgert, weil er ihm die Blätter haufenweise wegtreibt.«
»Heute nacht war es arg mit dem Wind!« plauderte Paul. »Sonst höre ich nie die Züge, die hinten vorbeifahren – es ist doch sicher ein Kilometer bis zur Bahnstrecke, wie? Heute nacht fuhren sie alle durch unser Haus. Der Kamin blies den Baß, und die Abzugsröhren eines gewissen Ortes spielten die Flöte – im Diskant!«
»Und die Käuzchen?« fragte sie lächelnd. »Hast du die Käuzchen gehört?«
»Und ob!« Von den Käuzchen konnte er sogar eine Merkwürdigkeit berichten. Mehrere Tage hintereinander war ihm bei der nächtlichen Heimfahrt von La Cadière an der gleichen Stelle ein Käuzchen im Scheinwerferlicht über den Weg geflogen. Seit vorgestern war es ausgeblieben. Offenbar hatte es sich aber inzwischen mit seinen Jungen beim Haus Rosmarin eingefunden, wo es von Punkt ein Uhr an Unterricht erteilte.
»Hier in der Nähe muß die Käuzchenschule sein. Hast du gemerkt, Mutter? Sie machen nicht wie sonst ›kiwitt!‹, sondern ›kief, kief‹, und mir scheint, sie zwitschern auch.«
»Vielleicht«, mutmaßte Frau Pauline, »ist das eine ihr Liebesruf und das andre die gewöhnliche Umgangssprache. Und mit der müssen die Jungen vernünftigerweise anfangen.«
Beinahe im gleichen Atemzug, es gab nur eine kurze, aber merkwürdig eindringliche Pause, die den Sohn die Ohren spitzen ließ, fragte Frau Pauline mit leicht erhobener Stimme: »Sag mal, Paul, bist du dir klar, daß du Sibylle betrügst? Sie ahnt doch nicht, daß du nach dem Abendessen schnell noch ein bißchen zur Eremitin fährst?«
»Wieso betrügen?« antwortete er gelassen. »Ich habe eine ältere Freundin in La Cadière – was ist dabei? Ich verschweige es Sibylle, weil sie – nun, du weißt, wie sie ist.«
»Wie ist sie denn, mein Junge?«
»Wie? Nun also, sie duldet zu gern. Und da kann ich einfach nicht mehr mit. Ich bin entschieden gegen das Erdulden. Wenn ich glaube, ich habe sie endlich hochgebracht, plumps! fällt sie in die mütterliche Finsternis zurück.«
»Glaubst du im Ernst, Sibylles Mutter dulde im Finstern?«
»Nein, die werkelt höchst vergnügt im Finstern. Das törichte Kind aber leidet, leidet und will leiden. Sie hält einen womöglich für schlecht, wenn man nicht mit ihr leidet und duldet. Es ist ein Geburtsfehler. Ich fürchte, es gibt kein Mittel dagegen.«
Pauline fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirnnarbe.
»Schlimm«, sagte sie leise.
»Was soll schlimm sein, Mutter?«
»Daß du nicht einmal merkst, wie ungerecht du bist ... Du hast bisher nie so gesprochen.«
»Laß nur, Mutter! Das bißchen Ungeduld! Es geht vorüber.« Als sie nicht antwortete, erhob er sich und küßte sie auf die Stirn – nicht flüchtig, wie es seine Art war, sondern kurz und heftig.
»Sie hat eine ähnliche Stirn wie du«, sagte er, den Mund an ihrem Ohr. »Und fast ganz deine Hände.« Und er küßte auch ihre Hände.
»Das entschuldigt dich nicht«, wehrte sie ab. »Und dann stimmt es auch nicht. Sie hat nur mein Alter.« Und, nach einer Pause: »Ich nehme an, du sprichst von Marianne.«
»Wenn du willst, werde ich es Sibylle gleich nachher sagen. Schließlich kann sie es gerade so gut wissen.«
»Schließlich bist du auch nicht mit Sibylle verlobt«, forschte sie und schloß unwillkürlich die Augen, um den Klang seiner Antwort besser zu unterscheiden.
»Nein, aber trotzdem – trotzdem«, sagte er in einem Ton, der zugab, er fühle sich Sibylle zumindest ernstlich verpflichtet. »Wenn du willst –«
»Ich will gar nicht, mein Junge. Nur – wenn es dir recht ist, werde ich die beiden miteinander bekannt machen.«
»Selbstverständlich, Mutter. Das ist mir sogar sehr lieb.«
Im Verlauf der weiteren Unterhaltung, sie sprachen von seiner Unterkunft und Lebensweise in Paris, sagte er plötzlich zwischendurch:
»Bitte, laß uns in Marseille eine Minute allein. Ich will es ihr sagen.« »Überlege es dir, Paul – und denke an die möglichen Folgen ... Du meintest ja, es ginge vorüber.«
»Ich habe es mir überlegt. Sie soll genau erfahren, was ist. Sie hat nichts von Marianne zu befürchten ... Und Marianne nichts von ihr.«
»Das letzte, mein kleiner Pascha, versteht sich fast von selbst«, bemerkte mit ernster Miene die Mutter.
Paul warf ihr einen bestürzten Blick zu und gab keine Antwort, worauf sie, nicht ohne Mühe, zum Gespräch über die Umstände seines Pariser Lebens zurückkehrten.
Alles war zur Abfahrt bereit, das Gepäck im Wagen verstaut, Schäfchen, schweigsam wie immer, mit einem feenhaften Lächeln im Haus verschwunden. Paul saß am Steuer, die Mutter neben ihm. Der geöffnete Rücksitz wartete auf Sibylle. Da erschien Herr Notar Burguburu. Er trat an Frau Pauline heran und bat mit gezogenem Hut um eine Unterredung.
Paul sprang aus dem Wagen und blickte beunruhigt nach der Villa Maria. An einem der Fenster pendelte das Goldhaupt Tuliettes wie ein mechanisches Spielzeug hin und her, sie wollte sehn, ohne gesehn zu werden, und als sich dies vor Pauls wachsamem Auge als undurchführbar erwies, bestand sie wenigstens auf einer teilweisen Unsichtbarkeit, indem sie den Kopf in regelmäßigen Zwischenräumen zurücknahm.
Laut ließ Paul seine Mutter und Burguburu wissen:
»Vorausgesetzt, daß wir nachher schnell fahren, haben wir jetzt gerade noch fünf Minuten Zeit.«
»Das genügt«, erklärte der Notar, der dastand, als halte er statt der Baskenmütze einen Dreispitz und als ruhe die andre Hand auf einem Galadegen. In wohlgeformter Rede setzte er Frau Pauline in Kenntnis, daß die Mutter Sibylles sich genötigt sehe, ihrer Tochter die Fahrt nach Marseille zu untersagen, da diese Fahrt der getroffenen Verabredung über den Verkehr der Tochter mit der Familie Tavin widerspreche. Es sei ihr erlaubt, mit Herrn Paul spazierenzugehn und auszufahren, jedoch unter der Bedingung, dabei eine Begegnung mit der gnädigen Frau zu vermeiden. Über die Gründe dieser Bestimmung stehe ihm, dem Notar, kein Urteil zu, er bitte höflich um Entschuldigung, wenn er sich gezwungen sehe, der, wie er annehmen müsse, beiden Seiten bekannten und von der Familie Tavin stillschweigend angenommenen Bedingung Erwähnung zu tun – unter ausdrücklicher, hiermit wiederholter Zurückstellung seines Urteils über die Gründe, die Frau Burguburu veranlaßt haben mochten, eine unter Nachbarn und Damen der Gesellschaft doppelt ungewöhnliche Maßnahme zu ergreifen. Fräulein Sibylle lasse sich entschuldigen. Trotz ihrer Freude über die Einladung zu der schönen Fahrt und mit Rücksicht auf ein leichtes Unwohlsein, von dem er hoffe, es werde den Tag nicht überdauern –
»Bravo!« rief in diesem Augenblick Paul mit aller Kraft.
Als der Notar, unvermutet, aber nicht ungern aus der Fassung gebracht, die Augen wandte, um sich bei Paul mit einem freundlichen Blick für den Beifall zu bedanken, sah er Sibylle mit allen Gliedern am Sims ihres Fensters zappeln.
Sie hing und kämpfte mit Armen und Beinen, setzte sich bald mit der einen, bald mit der andern Hand gegen den Zugriff Juliettes zur Wehr, die sie am Abspringen zu hindern suchte. Mit den Füßen bearbeitete sie den ruckweise unter ihr hin und her schwankenden Fensterladen der Küche, bemüht, einen festen Stand zu gewinnen. Gleichzeitig übersah sie die Lage klar genug, um auf Pauls Zuruf: »Warte, ich komme!« gebieterisch zu antworten: »Bleib, wo du bist!« Es kam ihr darauf an, die Unternehmung ausschließlich mit eigenen Mitteln zu Ende zu führen und Juliette so jeder Möglichkeit zu berauben, bei der zu erwartenden Strafexpedition auf die Familie Tavin zurückzugreifen.
»Rühre dich nicht!« rief sie nochmals drohend.
Inzwischen war das Ersatzstück und überalterte Sündenbild Emmas mit einem Aufschrei unter die Küchentür getreten.
»Laden festhalten«, befahl Sibylle nach unten, und in der gleichen Sekunde, da Juliette sich aus dem Fenster beugte, um ihre Tochter an den Haaren zu packen, ließ Sibylle den Fenstersims los und kam mit einem Ruck auf den Laden zu knien, den die Köchin krampfhaft festhielt. Im nächsten Augenblick sprang sie die Köchin an. Das Fleischgebirge legte sich lautlos auf den Rücken, und Sibylle befreite sich aus seinen Schluchten.
»Fang das Gör!« schrie Juliette, von den dramatischen Ereignissen mehr und mehr aus den Kulissen auf die Bühne gezogen. »Marius, her mit dir! Was stehst du da? Fang sie!«
Marius machte eine beschwichtigende Handbewegung zur Villa Maria hinüber und wandte sich an Pauline. Mit leiser, bebender Stimme ersuchte er sie, dem Ungehorsam der Tochter zu steuern, dem gesetzwidrigen Fluchtversuch einer Minderjährigen ihre Unterstützung zu versagen.
»Nicht wieder ein Skandal! Ich bitte Sie, verehrte gnädige Frau!« sprach er flehentlich und drehte der Villa Maria den Rücken zu. Mächtig gewachsen stand Juliette im Fenster und schüttelte die Fäuste nach ihm.
»Du Schlappschwanz!« kreischte sie. »Du Idiot! Da hüpft sie wie ein Känguruh, fang sie, du Kamel!«
Ihr Gesicht war verzerrt, sie schwitzte vor Aufregung, von weitem sah es aus, als ob ihr die Schminke über die Backen liefe.
Aber auch Paul geriet allmählich in Wallung. Ohne sich von der Stelle zu rühren, wie ihm verordnet war, ermunterte er Sibylle mit Zurufen:
»Raus aus dem Speck!« befahl er, als Sibylle auf der Köchin lag. »Und jetzt lauf, was du kannst! In einer Minute müssen wir weg.«
»Schweigen Sie«, überschrie ihn Juliette, »schweigen Sie, Sie junger Bock!«
»Tritt sie! Fest, Sibylle!« rief er, als dann die Köchin sich wie ein Polyp an Sibylle festklammerte, die stumm und grimmig zum Gartentor strebte, und dabei warf er die Arme um sich, als wollte er vor lauter Vergnügen aus der Haut fahren. Sein unangemessenes Lachen erbitterte Sibylle und verdoppelte ihre Kräfte.
Burguburu neigte sich zu Paulines Ohr:
»Gnädige Frau, ich frage Sie – wünschen Sie meinen Tod?«
»Nein!« sagte Pauline kurz, in einem Ton, der ihn zurückprallen ließ – kein Ja hätte abweisender sein können. Burguburu blickte in ein unerbittliches, starres Antlitz. Er konnte nicht wissen, daß dieser Ausdruck lediglich eine Folge von Frau Paulines angestrengter Bemühung war, sich nicht von der fassungslosen Heiterkeit Pauls anstecken zu lassen.
»Vortrefflich, gnädige Frau«, sagte Burguburu leise, dann aber drehte er sich halb um und sagte so laut, daß Juliette es hören konnte:
»Ich erlaube mir, Ihnen mitzuteilen, daß ich von Stund an Ihr persönlicher Feind bin.«
Leise, mit niedergeschlagenen Augen, fügte er hinzu: »Wahrlich, bisher war ich es nicht.«
Er setzte entschlossen seinen Hut auf und würdigte Pauline keines Blickes mehr.
»Fest! Auf das Schienbein!« rief Paul.
Mit einem Aufschrei ließ das klammernde Fleischgebirge seine Beute fahren.
»Himmel, ist das schön, Kind, ich hätte es dir nie im Leben zugetraut!« empfing Paul stehenden Fußes Sibylle. »Jetzt aber los!«
Juliette lehnte weit aus dem Fenster. Ihre auf den Sims gestemmten Arme hielten wie zwei Molen die wogenden Brüste in Schranken, sie mußte dauernd den Hals drehn, um Luft zu bekommen. Mit steigender Wut verfolgte sie die Entwicklung des Gefechtes, bei dem ihre besten Waffen, beißende Sanftmut und schwer faßbare Ironie, im Hintertreffen bleiben mußten. Ausschließlich für den Nahkampf geschaffen, waren sie nicht weittragend genug, ganz davon abgesehn, daß Juliette zu erregt war, um sie auch nur versuchsweise zu handhaben. Hier konnten nur die gröbsten Waffen helfen.
So beantwortete sie die milde Kriegserklärung des Gatten an Frau Pauline abermals mit einer Aufforderung zur Gewalt.
»Handeln, du Esel, nicht schwatzen!« verlangte sie. »Leg endlich die Hand auf die Kleine! Mach den Gendarmen!«
Für Burguburu hatte die Schlacht mit der Kampfansage ihr Ende gefunden. Er fühlte sich als Herrn der Lage, wenn auch seine Blicke vorsichtig die Villa Maria mieden. Ernst und würdig wohnte er dem Einsteigen Sibylles in den Rücksitz bei, und als Paul sich ans Steuer setzte, zuckte er zwar unter der von einem gewissen Fenster herüberfliegenden Frage: »Worauf wartest du noch, du Idiot?« ein wenig zusammen, ließ sich aber nicht abbringen, Paul mit erhobener Hand um Aufschub zu bitten:
»Eine Sekunde, Herr Tavin!« Und zu Sibylle sagte er dann: »Ich habe dich wie die eigene Tochter geliebt ... Du wirst unser Haus nicht mehr betreten ... Sieh zu, wo du bleibst. Das wenige, was dir gehört, lasse ich im Haus Rosmarin abgeben.«
Sibylle, außer Atem, antwortete:
»Mein Lieber! Vergessen Sie – bitte, nicht – meine – dreihunderttausend Francs!«
»Die befinden sich vorläufig noch in treuen Händen«, versetzte er mit einem drohenden Knurren in der Stimme. »Bei deiner Mündigkeit wird sich herausstellen, ob das Gesetz dich für würdig und fähig erachtet, dein Vermögen selbst in die Hand zu nehmen. Nach dem Vorgefallenen erlaube ich mir, daran zu zweifeln. Lebewohl, Sibylle!«
Er winkte Paul zu, der ihn offenen Mundes über die Schulter weg angaffte.
»Sie können fahren, Herr Tavin. Ich habe nichts mehr zu sagen.«
»Schade«, murmelte Paul. »Aber es ist höchste Zeit.«
»Pst!« machte Frau Pauline, die sich noch immer nicht zu rühren wagte. Als sie auf die Landstraße einbogen, brachen Mutter und Sohn in schallendes Gelächter aus.
Sibylle lachte nicht.
Sie begriff auch nicht, was es da zu lachen gab. Sie bebte am ganzen Leib.
Verbissen wartete sie auf das Auftauchen der verwahrlosten Pinienfamilie am Wegrand, Mann und Frau mit dem Kindchen zwischen sich, die alle drei ihre Armseligkeit in die Windrichtung schrien, und verkündete dann mit einer Art triumphierender Rechthaberei:
»Da, die Familie Burguburu, wie sie vor dem Jüngsten Gericht steht! ... Und ihr wißt nichts Besseres als zu lachen! Ist es das, was du Glück nennst?«
Das verfluchte Wort stach wie ein Skorpion.
»Du bist ihr ja davongelaufen, der Familie Burguburu«, sprach Paul mit Selbstbeherrschung nach hinten. »Wenn ich zu Weihnachten heimkomme, säge ich das mittlere Bäumchen ab, damit die Sache auch hier bei deinem Popanz in Ordnung kommt. Und jetzt, meine Liebe – bitte, bitte, gib Ruhe!«
Sibylle wollte wissen, inwiefern sie Ruhe geben sollte. Sie sei doch die Ruhe in Person, nur noch etwas außer Atem. Er klärte sie auf: »Du gehörst jetzt zur Familie Tavin, genau, wie du's haben wolltest – und zwar mit dem lachenden Major als Vater! Nach altem Hausgesetz darf in unserer Familie weder entsetzlich geduldet, noch furchtbar gelitten werden. Wir sind simple Leute, die sich des Lebens freuen.«
Sie schwieg, erstaunt über die Heftigkeit seiner Sprache.
Nach einer Weile sagte sie: »Gut. Abgemacht!«
Paul entsann sich, die zwei Worte schon oft in ähnlicher Lage gehört zu haben. Es pflegten ihnen dann nach einer Pause weitere zu folgen, die ihren Sinn wieder aufhoben.
Sie blieben auch diesmal nicht aus.
»Frau Pauline?« wurde von hinten gefragt. »Paul bekommt in letzter Zeit etwas Schulmeisterliches – finden Sie nicht? Mich jedenfalls maßregelt er dauernd.«
»Mich auch, Sibylle. Aber er hat mich heute früh getröstet. Er sagte, es ginge vorüber ...«
Da reckte sich Paul und rief in den kleinen Spiegel am Windschutz: »Erinnere mich daran, Sibylle – ich habe dir noch etwas unter vier Augen zu sagen!«
Nun hat er sich festgelegt, dachte Pauline. Es schien ihr, als atmete der Junge auf. Jetzt muß er – und ist es zufrieden.
Um die Verspätung einzuholen, hielt Paul eine große Geschwindigkeit durch. Blieben deshalb die verschiedenen Denkmale am Weg unbeachtet? Die ›Schildkröteninsel‹, der ›Fingerhut der Venus‹ an der stets gischtigen Untiefe, die beiden Agavenböschungen ›Torero‹ und ›Hochmutvordemfall‹ (im Sprachgebrauch abgeschliffen zu ›Vorfall‹)... Bei den zwei Pinien konnte Sybille sich nicht enthalten, laut aufzuseufzen:
»Wir armen zwei Alten!«
»Wir sind nicht arm««, betonte Paul starrköpfig – und Sibylle entschied sich, kein Wort mehr zu sprechen.
An der Stelle, wo man nur wenig den Kopf zu drehen brauchte, um La Cadière auf der Höhe liegen zu sehen, blickten sie geradeaus, als hätten sie alle drei einen steifen Hals.
Obwohl es in Marseille nicht an der nötigen Zeit fehlte und Pauline das Paar mit seinen ›vier Augen‹ allein ließ, um einigen Mundvorrat für ihren Sohn zu besorgen (wovon der Koffer bereits genug enthielt), nahm Paul die Gelegenheit einer Aussprache nicht wahr, vielmehr blickten die vier Augen verlegen umher und wünschten Frau Pauline zurück. Schon von weitem sah sie, daß nichts erfolgt war, und wenn sie Sibylle bei der Heimfahrt dennoch fragte, ob die angekündigte Zwiesprache stattgefunden habe, geschah es einzig in der Absicht, dem bedrückten Mädchen womöglich zu Hilfe zu kommen.
Nein, erwiderte Sibylle trotzig. Er hatte nichts gesagt, und es war auch gar nicht nötig gewesen, etwas zu sagen, sie wüßte schon, wovon die Rede sein sollte, seitdem ihr eine Eröffnung unter vier Augen in Aussicht gestellt worden sei. Im kleinen Spiegel an der Windscheibe hatte sie gesehen, wie Paul erblaßte und sich auf die Lippen biß.
»Ist sie denn wirklich so schön?« fragte sie nach so langer Zeit, daß Pauline sich erst darauf besinnen mußte, wen sie meinte.
»Sie ist in meinem Alter, gute Sibylle!«
»Ja, eben«, sagte das Mädchen ... »Und gut gewachsen? Und gesund?«
Nun war es an Pauline, sich auf die Lippen zu beißen.
Der Ginestepaß, dies Riesendenkmal von Sibylles Lebenslust, verhielt sich noch stummer, noch glanzloser als bei der Hinfahrt, da ihr Leichtfuß immerhin vor ihr gesessen und ihr bisweilen im Spiegel zugenickt hatte. Und als bei Cassis die ›Krone Karls des Großen‹ vom blauen Himmel auf ihre Stirn herabsinken wollte, schüttelte sie störrisch den Kopf und sah unverwandt vor sich auf das schwarze Band der Straße, das den Wagen schicksalhaft über Berg und Tal zog, ganz gleich, was die Insassen dachten und wünschten. Und aus dem Gedanken, einer Macht ausgeliefert zu sein, vor der alle Menschen ohne Unterschied hilflos waren, so sehr sie sich dagegen regten und sich abkämpften, stieg langsam eine Beruhigung und hüllte sie ein wie leichter Nebel.
Pauline, die sie wiederholt betrachtet und angelächelt hatte, ohne sie aus ihrer Versunkenheit hervorlocken zu können, rief sie an:
»Hallo, Sibylle!«
»Ja«, antwortete freundlich das Mädchen. »Sibylle ist ein Unglücksname. Ich habe es gerade gedacht – und fand es tröstlich.«
»Kind, du bist rührend schön!« sagte Frau Pauline in einem Tone selbstvergessener Ergriffenheit. »Du bist viel schöner als die andere ... Gib mir einen Kuß.«
Von heftiger Freude fast schmerzhaft berührt, warf Sibylle die Arme um ihren Hals und überschüttete sie mit Küssen. Sie küßte, wie sie noch nicht geküßt hatte. Eine unbekannte Sibylle riß sich in ihr los, sie erschrak vor sich selbst ... Aus der Tiefe schössen feurige Dankbarkeit, zärtliches Dunkel herauf. Sie sammelten sich um ihren Mund und strömten unerschöpflich über ... Der Wagen fuhr kreuz und quer, Sybille merkte es nicht, sie küßte, sie fühlte, begehrte nur eines: So bleiben und vergehn, vergehn ... Mit einem Ruck brachte Pauline den Wagen zum Stehn, einen Fuß breit vom Rande der Böschung. Die Böschung war niedrig und fiel unmittelbar ins Meer ab.
Als der Wagen hielt, starrten sie beide geblendet auf die See, die dicht neben ihnen wie eine strahlende Mauer aufgerichtet stand.
»Kind, das darfst du nicht tun«, sagte Pauline mit weit geöffneten Augen. »Um ein Haar wären wir den Liebestod gestorben. Und nicht mal den richtigen ... Was dann?«
»Verzeihung«, murmelte Sibylle.
»Du bist viel schöner als sie«, bekräftigte Pauline. »Viel, viel schöner! Aber wenn man im Auto küßt, muß es vorsichtig geschehen, gewissermaßen andeutungsweise und besser nicht auf den Mund. Ich dachte –«
Sie lenkte den Wagen vorsichtig auf die Mitte der Straße, wich mit kühner Drehung einem Wagen aus, der vorbeisauste, und fuhr dann in rascher Fahrt weiter, ohne den Satz beendet zu haben.
»Was dachten Sie?« forschte Sibylle.
»Ich dachte, du wüßtest, wie man im Auto küßt.«
»Oh! Da dachten Sie zuviel«, flüsterte Sibylle und wandte das Gesicht ab.
Vom Fenster ihres Häuschens in La Cadière sah Marianne den rahmgelben Wagen Paulines nach Marseille fahren und von dort zurückkehren.
Beide Male hatte sie sich nur um wenige Minuten verrechnet.
Sie legte den Fernstecher an seinen Platz auf dem Fensterbrett, ging zum Arbeitstisch und vertiefte sich in die Untermalung eines handgroßen, länglichen Glases. Die schwarze, lichtgestreifte Landstraße, das Stückchen Weinacker und darüber der Himmel, wo ein Band mit dem Datum des Tages schwebte, waren schon ausgeführt, das rahmgelbe Auto erst zur Hälfte. Am Abend war das Bild fertig. Sie behielt es einige Tage bei sich, dann brachte sie es zur Post.
Marianne sah zu, wie das ganze Land unter ihr herbstlich wurde.
In der Ebene und über die aufsteigenden Terrassen der Hänge schritten kleine Gestalten gebückt von Rebe zu Rebe und ernteten die Trauben. Auf den Straßen warteten die Wagen mit den Bütten und Fässern. Eine schalldichte Klarheit war über das Land gebreitet. Marianne konnte jede Bewegung von Mensch und Tier deutlich wahrnehmen, aber keinen einzigen Laut. Wenn in La Cadière die Kirchenglocke anschlug, geriet die Luft in Bewegung, Marianne hörte, wie sich Ton um Ton über das Tal fortpflanzte und wie unter jeder der gleitenden Wellen der Raum bis auf die Erde hinab erbebte. Darauf war es womöglich noch stiller als zuvor.
Gleich nach der Weinernte wurden die Reben mit Pferden gepflügt, das Tack-Tack vereinzelter Motorpflüge drang bis zu dem gelben Haus hinauf. Marianne konnte verfolgen, wie der Pflug die Erde zwischen den Reihen der Reben dreimal umbrach: erst an beiden Seiten, so daß der Grund an den Weinstöcken schön aufgehäuft wurde, dann in der Mitte – und das war die einzige Furche, die sichtbar blieb. Gleich danach wurden die Reben geschnitten, überall brannten kleine Stöße von Abfallholz, der bläuliche Rauch stieg kerzengerade empor. Abels Opfer fand Annahme im Himmel ...
Das Einsammeln der Oliven schloß die Reihe der Ernten. Unter den Bäumen wurden Säcke und Tücher ausgebreitet und die grünen oder schwarzen Früchte geschüttelt und abgeschlagen. Dann trat eine kurze Pause ein in Erwartung der Orangen- und Mandarinenernte, die in die Mitte des Winters fiel.
Der Khakibaum hinter Mariannes Haus nahm leuchtend rote Farben an, und bald sank ein Blatt nach dem andern zu Boden, bis der Baum kahl war und die Äste die unbeschatteten Goldfrüchte prahlend ins Licht hoben. Marianne mußte schon vor Sonnenuntergang die Fenster schließen, weil sie beim Arbeiten klamme Finger bekam.
Zuweilen begegnete ihr in der Nähe des Hauses oder in den Gassen ein schwarzes Mädchen, dessen Blässe, kaum, daß der Sommer vorbei war, schon wieder unter der sonnverbrannten Haut durchschien. Es hatte einen lackroten Mund, der von weitem leuchtete, und hinkte ein wenig.
Sobald das Mädchen Mariannes ansichtig wurde, blieb es, wie in Betrachtung eines nahen Gegenstandes, halb abgewandt stehn und setzte seinen Weg erst fort, wenn es sich von der Eremitin unbeobachtet glaubte.
»Kommen Sie doch, kleine Sibylle«, wollte Marianne oft zu ihr sagen...
Sie ging hinter ihr her, machte schnell einen Umweg, um ihr in einer der engen Gassen von neuem zu begegnen, aber Sibylle wußte es stets so einzurichten, daß die Malerin sie nicht ansprechen konnte. Wenn die Kleine sie sah und, an die Wand gedrückt, die Zögernde hinter ihrer Schulter vorbeiließ, erinnerte sie an ein furchtsames Tier, das nur deshalb nicht die Flucht ergreift, weil es weiß, daß es zu schwach ist, um seinem Verfolger zu entgehen. Sein einziger Schutz besteht darin, sich gleichsam in sich selbst zu verkriechen und zu warten, bis die Gefahr vorbei ist. Und während Marianne hinter ihrem Rücken vorbeischritt, überlegte Sibylle, ob wohl alle Opfer sich von ihren Mördern so angezogen fühlten wie sie ...
Nach jeder Begegnung schwor sich Sibylle, ihre ängstlichen und gierigen Späherbesuche nicht zu wiederholen. Dann wieder gedachte sie ihnen den Stachel zu nehmen, indem sie Marianne freimütig aufsuchte. Einmal hielt sie schon den Türklopfer in der Hand ... Als sie im Haus ein Geräusch vernahm, ließ sie die Hand sinken und blieb minutenlang stehn, in Furcht und Hoffnung erstarrt, Marianne möchte die Tür öffnen und sie in ihrer bettelhaften Stellung überraschen. Darauf eilte sie, so schnell sie konnte, bis zur Terrasse vor dem einstigen Stadttor und lehnte sich atemlos gegen die Säule, auf der die lange Liste der Gefallenen stand.
Im Frühling hatte sie hier mit Paul die blühenden Mandelbäume im Tal gezählt, es waren mehr als ein Dutzend gewesen, und einer hatte sogar gleich im Gemäuer unter der Terrasse gehangen, weiß und rosig schimmernd, eine hellere Lampe über dem lichten Tal. Jetzt krümmten sich die halbdürren Blätter, und niemand dachte daran, an einer so abschüssigen Stelle die schwarzen Früchte zu ernten ...
Langsam wanderte sie nach St. Cyr-sur-mer, der Tochterstadt La Cadières, es war eine ziemlich lange Strecke, sie hatte ja Zeit. Am Marktplatz hob eine dem Städtchen angemessene Nachbildung der New Yorker Freiheitsstatue ihre Fackel, aus dem Sockel plätscherte ein Brunnen. Hier wartete sie geduldig auf die ›rote Linie‹, und wenn es Louis war, der den Wagen führte, lächelte sie, und saß ein anderer Chauffeur am Steuer, vermied sie seinen Blick und nahm möglichst tief im Wagen Platz.
Menschen, die sie nur oberflächlich kannte, waren beinah Feinde. Früher pflegte Sibylle sie zu versöhnen oder wenigstens ihren bedrohlichen Gedanken zuvorzukommen, indem sie freundlich grüßte, aber seitdem sie erwachsen war und ohne ihre Mutter ausging, war der heilsame Brauch eingeschlafen. Nur zu den Kindern hatte sie volles Vertrauen, trotz der Erfahrung mit dem boshaften Mädchen am Badestrand, und wo sie stand und Kinder in der Nähe waren, dauerte es nicht lange, und Sibylle sah sich von ihnen umringt und heftig in Anspruch genommen.
Solange es um diese Stunde hell blieb, fand sie an der Freiheitsstatue regelmäßig kleine Stammgäste vor. Sie wurde mit Geschnatter begrüßt und bis zum Eintreffen des Autobusses mit Frage und Antwort und Spielversuchen unterhalten. In letzter Zeit aber brach die Dunkelheit früh herein, die Kinder waren schon im Haus, und dann schien die Freiheitsstatue in ihrem Bronzegewand zu frösteln und mit gesenkter Stirn statt eines Kinderspielplatzes ein Massengrab zu bewachen, worin Mörder und Gemordete unterschiedslos durcheinander lagen ... Und Sibylle vermißte jede Spur von Billigkeit in der Welt, und sie hielt Ausschau nach einer höheren Gerichtsbarkeit, vor der die Dinge in Ordnung und die Opfer zu ihrem Lohne kämen ... Blieb an solchen Abenden endlich auch Louis noch aus, entfesselte der schwach beleuchtete Wagen alle Nachtschrecken einer Autobusfahrt. Heute war es besonders schlimm. Der Wagen war voll besetzt. Man saß zusammengepfercht und wurde Körper an Körper durch die Finsternis geschleudert, und Sibylle, die durch eine unvorhergesehene fremde Berührung mit Ekel erfüllt wurde, ganz gleich, ob sie von einem Mann oder einer Frau herrührte, blieb in einem Zustand dauernden Schreckens. Draußen sprang unter dem Licht der Scheinwerfer die Welt entzwei. Straße, Böschung, Mauern, Bäume, alles hob sich und stürzte, manchmal flogen die Sprengstücke so dicht an den Scheiben vorbei, daß man sich unwillkürlich duckte.
Es war ein Aufatmen, wenn auf einer längeren, geraden Strecke ein leuchtendes Stück Straße wie die Zuversicht selbst vor dem Wagen herlief. Kaum aber fühlte man sich einigermaßen sicher, da erfolgte bei der nächsten Kurve schon wieder die Explosion und warf innen und außen alles durcheinander. Die Menschen saßen, schwer und müde oder ganz abwesend, wie in sich verschanzt, mit einer traurigen Gefaßtheit, die anscheinend jede Katastrophe in Gedanken vorwegnahm. Sie waren betäubt von dem Lärm, der Schnelligkeit, der vor und zurück springenden Finsternis draußen, die infolge des schwachen Dämmerlichts im Wagen noch bedrohlicher wirkte. Der Wagen rannte los, hopste, glitt mit schlängelnden Bewegungen über die Straße, stemmte sich beim Abwärtsfahren gegen das eigene Gewicht, um nicht kopfüber zu stürzen, legte sich in den Kurven mit ächzenden Reifen zur Seite. Die Scheiben zitterten, der Boden bebte unter den Füßen, die Sitze schwankten, und wenn ein andrer Wagen oder gar ein Autobus vorbeikam, stockte allen der Atem in der Erwartung eines Zusammenstoßes, dessen Gefahr doch im gleichen Augenblick schon beschworen war. Gerade dies aber, das verspätete Auftauchen der Gefahr im Bewußtsein, peinigte die Nerven und lähmte das Selbstvertrauen.
Sibylle fühlte sich in der Mitte eines Naturereignisses, dem gegenüber man nichts tun konnte, als sein gutes oder schlimmes Ende in Demut abzuwarten – ein Gefühl, das an Gläubigkeit grenzte, an die panische Versunkenheit des Gebets. Dieser Eindruck wurde noch durch die Haltung des Schaffners verstärkt, der gebückt durch den Mittelgang des Wagens ging und, bei jedem Schritt haltmachend, rechts und links die Fahrscheine ausgab ... Sibylle suchte in ihrer Erinnerung, wo sie das Bild gesehn haben mochte, auf dem ein Priester der Mannschaft eines sturmgeschaukelten Schiffes die Wegzehrung verabreicht, bis ihr aufging, daß dies Bild ihre eigene unbewußte Schöpfung war.
Vor zwei Jahren, anläßlich einer Nachtfahrt mit ihrer Mutter, von Marseille nach Hause, hatte sie plötzlich sekundenlang geglaubt, ein Priester komme mit dem Kelch durch die Mitte des Autobusses auf sie zu, und dann entsann sie sich auch, daß es an der gleichen Stelle war, wo sich das Bild auch jetzt wieder einstellte, in der scharfen Kurve oberhalb Cantals. Damals war der Wagen im Augenblick darauf über die Böschung geschlittert und krachend an einem Baum zum Halten gekommen, ohne weiteren Schaden zu nehmen als spinnenwebartige Brüche im Sicherheitsglas der Fensterscheiben ... Das Wiederfinden des Bildes beruhigte sie für eine Weile. Dann setzte der Schrecken von neuem ein.
Körperlich wie seelisch gemartert, verließ Sibylle am Park Stellamare den Wagen, setzte sich auf den weißen Stein und sammelte Glieder und Gedanken, um, gehorsam dem Tavinschen Familiengesetz, Haus Rosmarin gefaßten Sinnes zu betreten.
Da löste sich eine Gestalt aus dem Dunkel und kam auf sie zu. Sie erkannte ihre Mutter.