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»Kind, rücke ein bißchen, ich muß mit dir sprechen«, erklang Juliettes sanfte Stimme, und als Sibylle tat, als hörte und sähe sie nicht, ließ sich die Gestalt auf den schmalen Platz neben ihr nieder. Sie trug ein dunkles Kleid mit hellem Gürtel und einen hellen Schleier. Der Schleier war um das Haar gewickelt. »Entschuldige, Sibylle, ich muß mit dir sprechen«, wiederholte sie. »Es ist hauptsächlich deinetwegen ... Willst du nicht einen Augenblick mit mir ins Haus kommen? Ich bin allein. Marius hat Geschäfte in Paris.«
Ärgerlich über das andauernde Schweigen des Mädchens lachte sie hämisch auf und sagte:
»Ist dir das auch schon aufgefallen? Alle Männer werden von Zeit zu Zeit von dringenden Geschäften nach Paris gerufen. Wenn sie schlechter Laune sind oder Kopfschmerzen haben, fahren sie nach Paris. Wenn sie Liebeskummer haben, fahren sie nach Paris. Wenn sie ihre Freundin los sein wollen, fahren sie nach Paris.«
»Und studieren dort Medizin«, ergänzte Sibylle. »Damit hättest du gleich anfangen sollen, Mutter.«
»Ich kenne dich, Mutter ... Da Paul in Paris studiert und nicht, wie ich dir früher einmal erzählte, in Marseille, schließt du daraus, daß er mich los sein will. Ist es das, worüber du mit mir sprechen mußt?«
»So leichtfertig ist deine Mutter nicht, Sibylle. Auf eine bloße Vermutung hin hätte ich nicht alles vergessen und begraben, was zwischen uns vorgefallen ist, um hier in der Nacht auf dich zu lauern. Ich hätte dich ruhig weiter deiner Hoffnung leben lassen – bis zur unvermeidlichen Enttäuschung. Du weißt, wir haben kein Glück in der Familie ... Aber meine Tochter soll nicht warten, bis sie von fremden Menschen aus einem fremden Haus hinausgedrängt wird.«
»Wer soll mich hinausdrängen?« fragte Sibylle kampfbereit, und gleichzeitig fühlte sie eine eisige Angst in den Eingeweiden.
Es war dunkel um sie, weder Mond noch Stern am Himmel. Bevor ein Wagen auftauchte, strich eine Geisterhand suchend über Straße und Böschung, die Hand kam nie bis zu ihr. Kaum tauchten die Scheinwerfer auf, war der blendende Ansprung aus der Nacht schon wieder vorüber und die Dunkelheit tiefer als zuvor. Der Park in ihrem Rücken lag da wie eine undurchdringliche Masse von Finsternis, lautloser als ein Stein.
»Wer dich hinausdrängen soll?« jubelte leise Juliette. »Nun, vor allem diese Malerin in La Cadière, mit der man dich hintergeht – auch so eine anlockende Person ... Ich möchte nur wissen, ob sie nicht schon in Paris sitzt.«
»Nein, ich habe sie heute gesehn.«
»Von weitem, versteht sich?«
Sibylle schöpfte tief Atem und wiederholte ein in Ranas geläufiges Wort:
»Die Witwe Bosca weiß alles.«
»Kind, die mißgünstigen Leute, die das sagen, sind gar nicht weit von der Wahrheit entfernt. Ich habe dir nie davon gesprochen, du warst zu jung, um zu verstehn ... Also, höre! Stundenlang verweile ich bei abgeschlossenen Türen vor dem Bild deines Vaters, stundenlang – und allmählich verwandle ich mich. Gehör und Gesicht werden leicht wie der Wind. Mein Geist – tritt aus mir heraus, und dann sehe ich Dinge, die andre nicht sehn.«
»Ach, Mutter! Darüber soll ich nun staunen? Meine ganze Kindheit stand unter dem Schrecken deiner ›Zwiesprache mit dem Jenseits‹ – so nanntest du's doch? Ich litt tausend Ängste, wenn du den Schlüssel im Salon umdrehtest. Du sagtest, dort drinnen würden meine heimlichen Verfehlungen und sogar meine Gedanken offenbar. Dafür war ich nicht zu jung ... Treibst du das immer noch? Wen quälst du denn jetzt damit?«
Die letzte Frage überhörte Juliette, sie beteuerte:
»Wie denn nicht – wo mein Leben so namenlos schwer geworden ist? Wer soll mir denn mit Rat beistehn, wenn nicht er!«
»Wo steckt er eigentlich?« fragte Sibylle mit fröhlich erhobener Stimme.
Juliette antwortete vergnügt:
»An einem sichern Ort! Marius kann lange suchen.«
»Und er ist nach wie vor auf dem laufenden?«
»Aber wie!«
Nach einer Pause, während deren sie beide vor sich hinkicherten, begann Juliette mit geheimnisvollem Flüstern eine Geschichte zu erzählen. Danach sollten ›die Zigeuner‹, die mit Frau Tavin verkehrten, nicht nur ›Agenten im Dienste einer fremden Macht‹ sein, sondern, was ihr offenbar wichtiger schien, die Leutchen wurden auch allgemein dafür gehalten. Nach ihrer Darstellung, die sich, wie sie Sibylle zu verstehn gab, auf Aussagen des Majors stützte, spann die anlockende Person im Haus Rosmarin heimlich ein Netz über die ›dem Feinde offene Küste‹ und das dazu gehörige Hinterland. All diese englischen Zeitungsschreiber und deutschen Maler, entgleisten Franzosen und Autobesitzer ohne bestimmten Beruf, die hier wie Bratäpfel an der Sonne brutzelten, halbnackt herumliefen und nachts bei offenen Fenstern schliefen, waren in Wirklichkeit verkappte Spione, und es bestand nicht der geringste Zweifel, daß eines Tages die ganze Bande in die Luft fliegen würde ... Die Gendarmerie von Ollioules hatte längst ein Auge auf die hochnäsige Person und ihren Anhang, und wenn Sibylle etwa glaubte, sie dürfe in einer andern, ihr begreiflicherweise näherliegenden Sache auf die Witwe Tavin zählen, so brauchte man nur Mutter und Sohn zusammen auf der Straße zu sehn, um sich klar zu sein, daß der Junge unter allen Umständen die Mutter um den Finger wickeln würde. Übrigens hatte der ehrenwerte Doktor Blanc verschiedentlich das kleine Auto vor dem Haus der verrückten Person in La Cadière stehen sehn, und zwar mitten in der Nacht, und der Bürgermeister des Ortes, ein Mitglied der Touloner Akademie, war in einem vertraulichen Gespräch mit Marius nicht vor dem Wort ›Skandal‹ zurückgeschreckt. Denn im Land galt natürlich Sibylle als die Verlobte des jungen Tavin ... Sie selbst, Juliette, wollte nicht leugnen, daß sie ihre Tochter nur deshalb bei wildfremden Leuten gelassen habe, statt sie mit Gewalt zurückzuholen, wie die Sorge um ihr Seelenheil nach wie vor verlangte, um ihr nicht die Möglichkeit zu rauben – »eines Tages zu ihrem Mann ins Bett zu hinken«, beendete Sibylle den Satz und stand auf.
Erst schien es, als wollte Juliette die Tochter unbehindert ihres Weges ziehen lassen, dann aber tat sie einen Sprung bis vor sie hin, und ein Wortschwall ergoß sich über Sibylle.
»Ich lasse dich nicht gehen! Heute nicht!« rief die Witwe. »Du mußt mich zu Ende anhören. Marius hat mich töten wollen, deshalb warte ich hier dir auf, du mußt mir helfen, du kannst mich nicht länger schutzlos lassen. Er hat mir den Revolver an die Stirn gesetzt, das dicke Weibstück nebenan schläft wie ein Murmeltier, und seit gestern ist er verschwunden. Ich kann nicht mehr allein bleiben im Haus. Ich beschwöre dich, Kind, habe ein einziges Mal Mitleid mit deiner armen Mutter.«
In stummer Verwunderung suchte Sibylle die Züge der Mutter zu erforschen. Phantasierte sie, oder sprach sie die Wahrheit? Burguburus Drohung mit dem Revolver nahm das Mädchen nicht ernst, es war nicht das erstemal, daß die Mutter von angeblichen Attentaten ihres Gatten zu berichten wußte. Da aber nichts auf wohlgeartete Menschen stärker wirkte als der echte Schmerz eines andern, mußte sie gegen ihren Willen zum weißen Stein zurückkehren, worauf auch Juliette ihren Platz an der Ecke wieder einnahm.
»Ich warte schon viele Abende auf dich«, bekannte sie nach einem Schweigen. »Ich stand wiederholt hinter dir, eine Viertelstunde, eine halbe Stunde lang, hier an diesem Stein, und wagte nicht, dich anzusprechen. Hast du mich nicht gesehen?«
»Doch«, sagte Sibylle, »ich habe dich gesehn.«
»Du dachtest, ich wollte dir Vorwürfe machen?«
»Du meinst: mich beschimpfen?« ... verbesserte das Mädchen.
»Nein, das nicht.«
»Was dann?«
Die Kleine zuckte die Achsel.
»Du hattest Sehnsucht nach deiner Tochter.«
»Ja«, flüsterte Juliette erfreut. »Ja, mein Kind, ich vermißte dich mehr, als ich sagen kann.«
Auch Sibylle senkte die Stimme.
»Ja«, sagte sie. »Die Teufel können es nicht vertragen, wenn ein Opfer plötzlich ausrückt. Sie wollen es wiederhaben. Sie sind bereit, sich zu demütigen, um es nur wieder in die Finger zu bekommen ... Doch, ich kann es mir gut vorstellen.«
Und als Juliette schwieg, setzte sie hinzu:
»Es muß eine Art Liebe sein, eine Art Glück – wie, Mutter? Du mußt es wissen.«
»Wie kann ein Kind auf solche Gedanken kommen – frage ich mich.«
»Das Kind hat es hundertmal erfahren, Mutter, die Gedanken kamen ganz von selbst, immer dieselben ... Und dann –« Sie stockte.
»Sprich, Sibylle! Sag, was du willst, nur sprich ... Und dann?«
Unvermutet machte Sibylle Platz, und Juliette rückte schnell nach, sie eilte, sich des erlangten Vorteils zu versichern. Sie beugte sich vor und sah der Tochter mit einem im Dunkel schimmernden Lächeln ins Gesicht. Und Sibylle staunte, wie schön dies Gesicht war, jetzt, da die Nacht es verschleierte.
»Und dann, mein Kind?« drängte Juliette.
»Und dann – es geht mir ja ebenso« ... Sie senkte die Stimme. »Ich vermisse dich auch.«
»Siehst du! Ich habe es mir gedacht«, frohlockte Juliette. »Du bist von meinem Fleisch, es kann nicht anders sein.«
Das Mädchen fuhr leise fort:
»Ja. Es kam vor, daß ich nachts schlaflos lag im Haus Rosmarin und mir wünschte, nebenan ginge plötzlich einer eurer Ausgehkräche los, und ich müßte unter die Bettdecke kriechen, um nicht Zeuge eurer so arg vertraulichen Aussprache zu sein ... Ich habe lange gesucht, wie ein derartiges Verlangen zu erklären sei – und habe die Erklärung gefunden. Es ist wenig schmeichelhaft für mich. Es läuft darauf hinaus, daß ich bei guter Behandlung schwachsinnig werde. Ich muß Prügel haben, um auf der Höhe zu sein, andernfalls werde ich zu einem Backfisch, der das Glück sucht und, wenn es nicht schnell genug kommt, als lahmende Isolde den Liebestod stirbt ... Leider, Mutter, verabscheust du die Musik – was wäre aus mir geworden, wenn ich mich hätte ausbilden dürfen! Ich wäre aus dem Rausch gar nicht herausgekommen ... Manchmal saß ich im Garten und hörte drüben deine Stimme. Am liebsten wäre ich gleich zu dir gelaufen ... Wie dumm! Ich hätte zufrieden sein können, es ging mir gut, alle waren freundlich zu mir, es fehlte mir nichts.«
»Doch«, beteuerte Juliette, »es fehlte die Mutter.«
»Ja, es fehlte jemand, der durch den friedlichen Morgen auf mich zukommt und lächelnd einen Schritt vor mir haltmacht, um mir mit einem giftigen Wort mitten ins Herz zu zielen. Ja, das fehlte mir ... Es muß eine schwere Sünde sein, so zu empfinden.«
»Das ist es auch«, sagte die Mutter in einem Ton, der Sibylle aufblicken ließ. Aber das Gesicht der Mutter war in das Dunkel zurückgetreten, Sibylle erkannte nur eine rundliche, weiße Fläche, die um zwei stechende Augen schwebte.
»Sicher«, flüsterte Sibylle, »sicher ist die Sünde schwerer als die des andern, des Jägers ... Der tut ja schließlich nur, was das Opfer von ihm erwartet.«
»Du mußt gerecht sein, auch gegen dich«, forderte Juliette mit einschmeichelnder Stimme. Sie legte den Arm vorsichtig, gleichsam versuchsweise auf Sibylles Schulter. Als das Mädchen stillhielt, fuhr sie beschwingteren Tones fort:
»Du hast ja immer eine besondere Ausdrucksweise gehabt, man weiß nicht, erzählst du ein Märchen oder meinst du es im wörtlichen Sinne. Nicht wahr, Kind, du bist doch kein Hase und kein Reh, und ich bin auch kein roher Bauer mit einer Flinte? ... Aber nun höre zu! Gesetzt den Fall, ein Hase oder ein Reh sehnt sich danach, geschossen zu werden, was ich mir, offen gestanden, nicht recht vorstellen kann, so handelt es sich zweifellos um ein in seinem Instinkt verdorbenes Tier ... um einen perversen Hasen,... um ein widernatürliches Reh. Und wer hat sie verdorben? Niemand anders als der Jäger! Wenn es dich also verlangt, von mir gequält zu werden, so trage ich die Schuld, mein Kind, ich und kein andrer. Dann habe ich dich eben so lange gequält, bis du es nicht mehr entbehren konntest, gequält zu werden! Du siehst, Kind, ich verstehe alles. Wir sind aneinander gekettet, wir müssen es gemeinsam tragen.«
»Ach! Mutter«, wehrte Sibylle ab, »dein neuer Gatte macht es dir zu leicht. Früher warst du klüger, mir scheint sogar: aufrichtiger ... Der Umgang mit dem guten Notar hat dich nicht verfeinert ... Du glaubst, mit zwei Gramm Ironie, zwei Gramm sogenannter Aufrichtigkeit, zwei Gramm Schmeichelei lasse sich ein Schlafpulver für aufsässige Personen zusammenmischen, eins, das jeden Zweifel an deiner Herzensgüte niederschlägt. Früher war das Rezept besser, du mischtest umsichtiger, und das Zeug tat seine Wirkung. Aber seitdem du hauptsächlich den armen Marius betreust, ist deine Hand leichtsinnig geworden. Neuerdings läßt du sogar, wie ich bemerkt habe, die Giftmischerei ganz beiseite und gehst handgreiflich vor. Du raufst! Wenn ich mich recht entsinne, nanntest du den bravsten aller Ehemänner öffentlich einen Idioten, ein Rindvieh, ein Kamel und einen Esel – dies letzte, vermute ich, weil er in deiner rauhen Behandlung bis auf die Knochen abgemagert ist. Kurz, liebe Mutter, du hast viel von dem eingebüßt, was früher für dich das höchste war, Vornehmheit, Adel der Gesinnung, Seelengröße. Die Heiligkeit überspringe ich, aber fast hätte ich die Güte vergessen, die Himmelsspeise. All das vermisse ich immer mehr an dir – und im selben Maße auch an mir. Wir werden beide langsam zu Wilden.«
»Wir sind vom gleichen Fleisch«, sagte demütig Juliette. »Mir schien doch eben – ich hörte mich reden statt deiner.«
Sibylle stand auf. Sie war entschlossen, sich auch durch eine neue überraschende Wendung nicht zurückhalten zu lassen. Mutter und Tochter hatten sich fürs Leben nichts mehr zu sagen.
»Vielleicht wäre dir und Marius geholfen«, meinte sie abschließend, »wenn ihr den Major wieder in Ehren aufnähmt. Er hielt dich wenigstens etwas in Zucht, solang er an der Wand des Salons hing.«
Juliette war gleich nach Sibylle aufgesprungen.
»Bleibe, oh! bitte, bleibe, Kind«, flehte sie. »Ich muß mit dir sprechen.« Sie hielt das Mädchen an beiden Händen fest.
»Du siehst, Mutter, wie es geht, wenn wir miteinander sprechen«, sagte es ruhig ... »Ich lasse mir gewisse Dinge, vor allem deine Heimtücke, nicht mehr gefallen. Schlage mich, aber tue dann nicht, als ob du mich liebkostest.«
Gleichzeitig suchte Sibylle die Hände frei zu bekommen, doch Juliette hielt sie umklammert, und als das Mädchen, mit aller Kraft daran ziehend, den Körper zurückbog, lag die Mutter unversehens vor ihr auf den Knien – die vier Hände in einem krampfhaften Knäuel flehend erhoben. Und Sibylle sah auf einmal erschreckend klar vor sich, wie das Zusammenschlagen ihrer Herzen sie beide gleichmäßig durchrüttelte und wie in diesem lebenden Händeknäuel alle Qual ihrer Verbundenheit verkörpert und auf ewig beschlossen lag.
Es hatte keinen Sinn, sich zu wehren, sich befreien zu wollen, keinen Sinn, dem Unentrinnbaren zu entfliehen ... Mit einem Gefühl, als träume sie, sank sie langsam zur Mutter hinab in die Knie.
Stirn an Stirn warteten sie, daß die furchtbare Gewalt, die sie schüttelte, sich beruhige, und als der Aufruhr in den verschlungenen Händen und in ihren Leibern stiller wurde, lehnte jede den Kopf an die Schulter der andern, und so, zwischen ihren Brüsten begraben, kam das Beben endlich zur Ruhe.
Sie saßen schon eine ganze Weile nebeneinander auf dem weißen Stein, da wiederholte Sibylle, immer noch wie im Traum:
»Schlage mich, aber tu nicht, als ob du mich liebkostest ...«
»Wie recht hast du«, sagte die Mutter mit schwacher Stimme. »Ich habe es tausendmal gebeichtet ... Es ist nichts als Stolz, als verruchter Hochmut ... Siehst du, Kind, ich bin vom Teufel besessen. Ich bin vergiftet von der Sünde ... Seit er tot ist, tue ich nichts, als ihm abbitten.«
»Mutter!« rief Sibylle, »Mutter, weißt du, was du sagst?«
Es klang freudig, beinahe so, als eröffne sich Sibylle plötzlich eine neue Hoffnung – eine neue Welt.
»Hast du ihn auch gequält? So wie mich? Genau so wie mich?«
Juliette antwortete leise, und Sibylle, in Erwartung einer ungeheuren Offenbarung, zog die Mutter an sich und neigte das Ohr zu ihrem Mund.
»Viel ärger, mein Kind ... Viel, viel ärger ... Du bist zu jung, um zu verstehn ...»
»Ich bin zu nichts mehr zu jung, Mutter«, versicherte eindringlich Sibylle. »Denk nur, was ich alles gesehn und gehört habe seit – seit deiner neuen Ehe ...« Sie dämpfte die Stimme noch mehr. »Du hast niemand, dem du dich anvertrauen kannst außer mir ... Sag mir, hast du ihn gequält? ... Und wie? ... So wie – Marius?«
»Kind, das mit Marius ist ja nur eine armselige – Wiederholung ... Er und Marius – ein Riese und ein Zwerg! Ihn habe ich doch geliebt!... Ich meine manchmal, darüber bin ich wahnsinnig geworden ... Die Leute meinen, Liebe sei ein alltägliches Ding. Alles liebt, Liebe füllt Gassen und Häuser, es müssen doch Kinder auf die Welt kommen, und ich sage dir, Sibylle, Liebe ist das ärgste Gift der Welt, du fängst an zu lieben, und Gott allein weiß, wohin es dich führt ... Nur weil die Menschen feige sind, geht es so oft scheinbar gut aus ... Als ich anfing, ihn zu lieben, war ich die Glückseligkeit selbst – wie ein Geizhals saß ich auf meinem Schatz und sammelte immer neue Liebesbeweise, ich konnte nicht genug kriegen, und er, oh! er war ein Verschwender, er gab mir, soviel er besaß, alles, alles, er leerte sich aus für mich ... Es war ein Fehler, er gab zu viel, ich verlor den Verstand ... Seitdem bin ich, seitdem – halte mich fest, Sibylle ... komm näher, daß ich deine Wange fühle ... Was soll ich dir erst sagen, was ich bin! Aber schuld – schuld an allem ist der Spiegel.«
Erschrocken hielt sie inne, als sei sie unvermutet auf ein Hindernis gestoßen.
»Der im Betthimmel?« fragte Sibylle, und um Juliette Mut zu machen, sagte sie mit dem Ansatz eines verhaltenen Lachens:
»Früher dachte ich, meine Mutter müsse selbst im Schlaf noch einen Spiegel haben, so eitel sei sie.«
Juliette nickte.
»Als ich in einem Buche las, früher, unter den Königen, hätten sich die Damen solche Spiegel in ihren Betten anbringen lassen, da dachte ich das gleiche. Ich wollte ihn überraschen. Ich stellte mir vor, wie er lachen würde. Er lachte so – so weitherzig. Als er nach längerer Abwesenheit heimkam und wir am ersten Abend zu Bett gingen, mußte ich ihm den Spiegel erst zeigen, er hätte ihn sonst gar nicht bemerkt. Ich war so stolz auf meine Entdeckung und fand mich so schön in dem Spiegel ... Es war schrecklich! Er hat mich damals geschlagen. Dies einzige Mal nur. Aber was dann kam, war ärger als Schläge. Er behandelte mich wie eine – ich kann dir nicht sagen, wie er mich behandelte, mein Kind. Ich sah, es quälte ihn, und ich versuchte, ihn davon abzubringen, ich versagte mich ihm, aber gerade das schien er gern zu haben – verstehst du, wenn er mich überwältigen mußte. Er brach mir fast die Knochen im Leib entzwei. Er war so stark! ... Ich ließ den Spiegel entfernen, er setzte ihn wieder ein ... Er fragte mich, was ich während seiner Abwesenheit getrieben, wer mich derart heruntergebracht und zu – zu solch einem Frauenzimmer gemacht habe ... Sibylle! Er hat mir niemals glauben wollen, daß ich ihn mit keinem Gedanken betrog, daß ich ihn mit dem besten Willen nicht hätte betrügen können, ich war ja verrückt in ihn und kannte überhaupt nichts andres als ihn! Er sagte, er könnte mir das Herz aus dem Leibe reißen und doch nicht die Wahrheit erfahren ... Was soll eine Frau da tun? Ich war oft nahe daran, ihm eine Geschichte vorzulügen, nur um ihn ins Recht zu setzen, vielleicht hätte es ihn beruhigt, mich so schlecht zu wissen, aber ich wagte es doch nicht, und er sagte ja selbst, eine Lüge sei ebenso ungewiß wie die Wahrheit ... Das Abscheuliche, das er erst nur in mir gewittert und dann gleichsam ausgegraben hatte, wie soll ich dir sagen? ... eine besonders unzüchtige Vorstellung von mir, gerade das machte alsbald sein Glück aus. Was sollte ich tun, ich mußte ihm wohl oder übel darin folgen, und ja, Gott verzeih mir, ich – ich sättigte mich an seiner Verachtung, mit der er mich durchbohrte, und quälte ihn mit dem, womit er mich quälte, und in der letzten Nacht, bevor er ins Feld ging, in der letzten Nacht war es so schlimm, daß ich glaubte, mich schnell noch rächen zu müssen, verstehst du: zu müssen, denn vielleicht kam er nicht wieder, und dann hätte ich nie mehr Gelegenheit gehabt, ihm das Äußerste an Schmerz anzutun. Aber Schmerz ist nicht das richtige Wort, es war ja immer die höchste Lust! Je stärker seine Ungewißheit war, um so heftiger liebte er mich, du wirst den Wahnsinn nie verstehn, Sibylle – ja, also, da sagte ich, monatelang hatte ich mir jedes Wort, jeden Tonfall überlegt, da sagte ich ihm etwas, was ihn vermuten lassen konnte, du seist – du seist gar nicht sein Kind ... Und sein letztes Wort, er beugte sich aus dem Eisenbahnabteil, um es mir ins Ohr zu sagen, sein letztes Wort war: ›Hab Dank für unsre schönste Liebesnacht.‹«
Juliette wälzte den Kopf hin und her auf Sibylles Schulter, ein Wimmern kam aus ihr. Es wurde leiser, der Kopf kam zur Ruhe.
»Kind, siehst du mich auf dem Bahnsteig stehn?« flüsterte sie. »Der Zug ist längst verschwunden. Ich stehe da und blicke ihm nach, dorthin, wo nichts mehr ist ... Siehst du mich?«
Die Mutter seufzte auf, tief und leicht, wie ein Kind, das sich ausgeweint hat.
»Na ja. Schließlich sagte ich mir: du bist Lots Weib, du bist in eine Salzsäule verwandelt, du bist kein Mensch mehr ... Ich konnte nicht einmal mehr weinen ... Weißt du, wann ich wieder zum erstenmal weinte? Bei deiner ersten Kommunion! ... Und seit diesem Tag – seit diesem Tag glaubt er mir wieder! Nicht immer und auch nicht ganz und gar, aber er hört mir doch wieder zu, er spricht wieder mit mir.«
Mit einmal überstürzten sich ihre Worte.
»Was willst du, Sibylle, wir haben kein Glück in der Familie. Ich war ein armes Mädchen, er liebte mich zärtlich, er nahm mich, wie ich war, ich besaß nur ein Dutzend Hemden und ein paar Möbel, die ein Verwandter, ein Möbelhändler, mir schenkte, weil er mich manchmal hatte auf den Mund küssen dürfen in einer Ecke seines Ladens, als ich klein war, und dann – acht Wochen – ich war ein wenig launisch und boshaft, aber nicht schlecht, acht Wochen lang waren wir glücklich, und dann – wegen eines Spiegels! Ich kann nicht mehr sprechen, es ist zu arg, denke nur, alles wegen einer Dummheit! Wegen eines Spiegels!«
Juliette verstummte. Erschöpft lag sie mit ihrem ganzen Gewicht in Sibylles Armen und nickte immer nur vor sich hin. Es war eine Bewegung von so hilfloser Ergebenheit, daß Sibylle es nicht länger ertragen konnte, ein Schluchzen würgte sie in der Kehle.
Sie legte der Mutter den Arm um den Hals und bettete den haltlosen Kopf an ihre Schulter.
»Er war so fröhlich im Anfang, er lachte immer«, begann die Mutter von neuem.
Sibylle sagte:
»Laß gut sein, Mutter, ich weiß.«
Im nächsten Augenblick fühlte sie, wie sich in Juliette etwas zusammenzog, es entstand gleichsam eine Leere unter ihren Händen, als ob die Gestalt, die sie hielt, sich aushöhlte, leichter und leichter würde und ihr entglitte, und als Juliette von neuem das Wort ergriff, geschah es mit völlig veränderter Stimme.
»Was du da weißt«, sagte sie scharf, »kannst du nur von ihr wissen!«
Sie machte sich los, nahm Sibylles Gesicht in die Hände und richtete es dicht vor ihren Augen auf ... Die Augen starrten und hatten eine unglaubliche Gewalt. Der Mund war gierig geöffnet.
»Die Wahrheit!« befahl sie. »Ja oder nein – war sie seine Geliebte?«
»Nein, bestimmt nicht«, beteuerte Sibylle. »Sie hat nur ein kleines Bild von ihm aus dem Spital, und da lacht er.«
»Das glaube ich, da lacht er!« versetzte sie grimmig, ohne Sibylle aus den Augen zu lassen. »Und sonst? Was weißt du noch?«
»Nur, daß er ihr Freund war – ihr geliebter Freund. Sonst nichts. Ich schwöre!«
»Bis der Tod einen von uns erlöst!«
»Bis der Tod einen von uns erlöst«, sprach Sibylle, über Bauch und Rücken frierend wie als Kind.
Juliette ließ den Kopf des Mädchens los und sprach heiser vor sich hin:
»Was hilft es? Alles kann ebenso falsch sein wie wahr. Ich könnte ihr das Herz herausreißen und erführe doch nichts Gewisses. Der Zweifel, der furchtbare Zweifel, der Teufel, keine Macht der Welt bringt ihn um, er ist der zäheste aller Teufel... Kind!« flüsterte sie mit rauher, feierlich singender Stimme, »Kind, gib acht! Wo kein Vertrauen mehr ist, da herrscht der Tod.«
Mutter und Tochter verfielen in ein langes Schweigen.
Die Geisterhände der Scheinwerfer tasteten über die Straße, ein Wagen tauchte sausend auf und verschwand mit einem Schlag, es wurde finstere Nacht, die Nacht lichtete ein wenig ihr Dunkel, wieder tastete eine Geisterhand die Böschung ab, strich eilig und sicher über die Straße. In großer Eile fuhren Menschen durch die Nacht, keiner kann wissen, was ihn am Ziel erwartet, es sei denn, er liebe in fraglosem Vertrauen, und auch dann ahnt er nicht, wie lange ihm beschieden ist, im beständigen Licht der Zuversicht zu atmen... Sicher aber, dachte Sibylle, sicher sind es die fraglos Liebenden und Vertrauenden, die am ruhigsten fahren, daran erkennt man sie, und sie lächeln zum gleichmäßig heftigen Lied der Maschine, sie haben wenigstens die eine Gewißheit, die es auf Erden gibt: ihr eigenes, gläubiges Herz ... So habe auch ich neben Paul gesessen – als es noch Sommer war, und habe dem gleichmäßig heftigen Lied der Maschine gelauscht, als wäre es der Singsang meines Herzens. Du mußt den Zweifel an der Wurzel abschneiden, ohne zu zögern – sonst wirst du ähnlich dem Baum, den der Efeu erwürgt... Sünde ist es, sich an sein Leid zu gewöhnen, bis man es braucht wie die Luft zum Atmen ... Vorsicht vor Spiegeln! Sie sammeln nicht nur Freude, sie verlangen immer mehr von dir, es sind Tyrannen, du befriedigst sie nie ...
»Mutter, ich muß dich etwas fragen«, sagte sie. »Warum hast du den Spiegel nicht zerstört? Warum hast du geduldet, daß er ihn wieder hintat?«
»Du verstehst nicht. Du bist zu jung. Aus demselben Grund, warum er sich nicht mehr davon trennen konnte ... Er wollte mich sehn, wie ich war, wenn ich nichts mehr von mir wußte. Und auch sich wollte er sehn, uns beide – entfesselt. Entfesselt, sage ich, dabei gibt es keine schlimmere Gefangenschaft für eine Frau, eine schamlose Frau ist dem Mann ausgeliefert – wie ein Tier. Du hast nichts mehr, was dir allein gehört, nichts, was du aus Liebe verschenken, womit du jemand überraschen und beglücken kannst... Wie froh bin ich, daß ich wenigstens einmal die Sünde begangen habe, von der niemand weiß – wie froh! Niemand weiß von ihr, und doch habe ich sie begangen, das wenigstens gehört mir allein! Einmal ist es mir gelungen!« Sie kicherte in sich hinein. »Aus heiterm Himmel!... Aber hör zu, Kind!« Sie zeigte mit einer Schulterbewegung nach dem Hause Rosmarin. »Nicht wahr, sie kennt – keinen Zweifel?«
Das Mädchen schüttelte den Kopf.
»Siehst du, Kind, das sind die Glücklichen.«
Mit verhaltenem Jauchzen setzte sie hinzu:
»Die Verhaßten! Die Dummen! ... Du kannst dich an sie klammern, sie geben keine Gewißheit an dich ab, du kannst ihnen so viel Argwohn ins Herz streuen, wie Samen von einem Löwenzahn im Winde fliegt, die Saat geht nicht auf.« Sie erhob die Stimme und sprach in die Richtung des Hauses Rosmarin:
»Die Dummen glauben vielleicht nicht an Gott, aber sie glauben an ihr Herz und wähnen sich glücklich. Aber betrogen werden sie doch! Die Dummen trifft die Strafe am härtesten. Sie sind nicht darauf vorbereitet, verstehst du? Es trifft sie völlig unvorbereitet. Du wirst schon sehn, Kind, wie es kommt. Es nimmt ein schlimmes Ende ... Er hat es mir versprochen.«
Unvermittelt fragte sie:
»Meinst du, er heiratet dich am Ende doch?«
Bevor Sibylle hierauf antworten konnte, gab ein Zwischenfall dem Gespräch eine neue Wendung.
Ein Autobus hielt am Park Stellamare, was um diese Stunde selten geschah, und ihm entstieg, sichtlich aufgeräumt, geröteten Gesichts und den Hut im Genick, der Notar Burguburu.
Nachdem er auf der Straße Fuß gefaßt hatte, steckte er den Kopf in die Tür und richtete eine Ansprache an die Insassen des Wagens. Gelächter antwortete, die Tür schwappte zu, der Wagen rasselte davon, die Gestalt des Notars tauchte ins Dunkel und marschierte pfeifend an den Frauen vorbei.
Juliette erklärte kichernd:
»Er hat sich Mut angetrunken. Das tut er manchmal.«
»In Paris?« fragte Sibylle.
»Ach was! Bei seinem abgetakelten Weibsbild in Nizza. Die Person will nichts mehr von ihm wissen ... Ob sie ihm wenigstens eine Zahnbürste geliehen hat?«
»Ich dachte, Mutter, du fürchtest dich vor ihm?«
»Ja, nicht wahr? Wenn man ihn so sieht, sollte man es nicht für möglich halten, daß er einem Angst macht ... Jetzt meint er, ich sei ausgerückt, da schmilzt er wie Butter. Die Köchin wird ihm sagen, sie habe mich seit Stunden nicht gesehn – und er wird glauben, ich sei ›den Bergen zu‹ weggelaufen. Er hat das gern. Es macht ihm heiß und kalt... Weißt du, ich hatte mich mit ihm eingeschlossen.«
»Wo denn, Mutter?«
Juliette antwortete mit einem glucksenden Lachen:
»Im Keller ... Er steht hinter einem Schrank im Keller, gut eingepackt in ein Nachthemd des Notars. Kein Mensch findet ihn ... Wenn ich ihn brauche, hole ich ihn heraus ... Aber Marius ist noch gar nicht auf den Gedanken gekommen, im Keller zu suchen. Im ganzen Haus sucht er, nur nicht da. Im Keller sind wir einfach weg, er und ich. Im Jenseits. Ich kann dir sagen, Kind, wir amüsieren uns köstlich, wenn wir ihn so über unsern Köpfen herumlaufen und rufen und die Köchin ausfragen hören ... Mit der kann er sich nicht schadlos halten wie mit der Emma, sie riecht wie ein Fischmarkt in den Hundstagen ... Übrigens, die Emma hat an Marius geschrieben – den Brief kriegt er natürlich nicht zu Gesicht. Er wäre imstand, ihr Geld zu schicken. Das anlockende Scheelauge hat einen netten, kleinen Matrosen geheiratet, einen Landsmann von ihr, einen Bretonen, der hat nach Ablauf seiner Dienstzeit die Fischerei seines Vaters übernommen. Früher habe ich ihn einmal hier mit der Emma in der Küche erwischt. Du erinnerst dich vielleicht, damals wimmelte hier immer eine Torpedobootflottille herum, die Mannschaft kam fast jeden Abend an Land. Ich sah von meinem Zimmer, wie er zur Emma hereinging, ich kam gerade aus dem Bad. In zwei Minuten hatte ich mich fertiggemacht und ging in die Küche. Er guckte mich groß an, lächelte wie Amor und nahm Reißaus. Ein hübscher Junge. Man sah, das Kerlchen war gewohnt, auf den ersten Blick zu gefallen. Ich sage dir, während ich ihn hinauswarf, machte er Augen, die einer andern als mir den Kopf verdreht hätten – halb Wolf, halb Reh ... Emma und er, die Tierchen, schienen sich aber bereits, wie soll ich sagen – sie schienen sich bereits verlobt zu haben in der Küche. Ich wundere mich, wo sie die Zeit hernahmen – und den Platz. Es war allerdings Frühling.« Juliette ergriff übermütig den Arm der Tochter und schüttelte ihn. Unter verhaltenem Lachen schwankte sie hin und her. Sie empfand das unwiderstehliche Verlangen, Sibylle körperlich in ihre Vergnügtheit einzubeziehen. Die Erinnerung an den kleinen Matrosen hatte sie verwandelt, sie war verzaubert von Leichtsinn. »Zur gleichen Zeit war er der Schatz einer Norwegerin drunten in Ranas, einer regelrechten Quartalssäuferin«, vertraute sie höchlichst vergnügt der Tochter an. »Als er die Nacht darauf unter dem Fenster der Person pfiff, machte das Luder nicht auf, und da ging das Jüngelchen einfach hier herauf und stieg auf der Leiter ein ... Na!... Ich weiß nicht, wollte er zu mir oder zur Emma. Du kannst dir denken, wie ich ihn empfing, den Seeräuber. Wie er hereingekommen war, so flog er wieder hinaus. Ich muß sagen, er benahm sich verhältnismäßig anständig, ich brauchte nicht um Hilfe zu rufen, er ging von selbst, lautlos wie ein Kater ... Am andern Morgen, als ich von meiner blödsinnigen Flucht zurückkam – ich hatte mir allen Ernstes das Leben nehmen wollen, Sibylle, es fehlte mir nur der Mut, nicht der Mut vor den Menschen, der Mut vor Gott, dem wir ja doch nicht entfliehen –, am andern Morgen fand ich die Emma zerrauft und in Tränen aufgelöst in der Küche und den Notar als Wrack auf meinem Bett. Der Esel stellte sich schlafend, aber ich roch doch, was los war – kannst dir denken!... Wir Frauen haben da eine Nase wie die Tiere der Wildnis. Wir sind nur noch ein bißchen verschlagener als sie. Warum? Weil wir gefährlichere Feinde haben, meine Liebe – darum! Der Mann ist das gefährlichste aller reißenden Tiere, vergiß es nie, mein Kind! Da lag der arme Mann auf dem Bett und verhielt den Atem vor Angst. Ich stellte mich dumm, ich hatte meine Gründe dafür, es kam zu nichts zwischen uns – aber als ich später bei Marius auf seinen Fehltritt mit Emma zurückkam und er leugnen wollte, genügte eine Ohrfeige, damit er alles gestand. Im übrigen waren meine Beweismittel – unwiderleglich ... Er sperrte Mund und Nase auf, kann ich dir sagen ... Die Männer meinen immer, wir seien von ihnen verhext bis zum Verlust aller Sinne und hielten ihre offenbaren Schmutzereien lieber für eine Augentäuschung als für das, was sie sind. Unverbesserliche Schmutzfinken sind sie und Sklaven ihre tierischen Triebe! Präge es dir ein, Kind, und laß dich durch keine Liebenswürdigkeit davon abbringen. Wenn du willst, daß ein Mann dir die Treue bewahrt, kannst du gar nicht gemein genug sein – merke es dir! Das Leben, je nachdem, wie du's nimmst, ist ein Spaß oder ein Brechmittel ... Man tut gut, sich für eines von beiden früh zu entscheiden ... Sie verlangen von uns, daß wir eifersüchtig sind. Sie meinen, das sei ein Beweis von Liebe. Es ist aber nur ein Beweis von schlechtem Gewissen. An dem freilich fehlt es den wenigsten ... Ich habe mir immer Mühe gegeben, dich auf das Leben vorzubereiten, Kind. Du bist jetzt vielleicht doch alt genug, alles zu verstehn. Ein Kerl wie der kleine, hübsche Matrose will was zum Lachen und Beißen haben, und eine Person wie die Emma mit ihrem gefühlvollen Scheelauge wird immer in weinendem Zustand verspeist werden ... So will es die Natur ... Nun haben sie also geheiratet, der kleine Blonde und die Scheeläugige. Und sie hat einen Brief an den Notar schreiben müssen. Ich vermute, er wollte ein bißchen Geld erpressen von meinem Alten, aber in dieser Hinsicht ist die Emma zu anständig. Sie schreibt nur, sie sei glücklich und erwarte zu Weihnachten ein Kind. Du kannst dir an den Fingern abzählen, wann und wo – nun ja ... Mir soll es recht sein. Jedenfalls liegt der Brief an einem sichern Ort.«
»Beim Major im Keller?« fragte Sibylle.
»Geraten!«
»Und außer dem netten, kleinen Matrosen könnte noch jemand als Vater in Betracht kommen?«
»Man weiß nie, was wahr oder falsch ist – da hast du's nun wieder mal! Bisweilen weiß es nicht einmal die Mutter. Herrlich – wie? Das sind die Glücklichen ... Diese Schafsköpfe!«
»Du bist stark, Mutter«, sagte Sibylle und rückte unwillkürlich von ihr ab. »Unheimlich stark... Viel stärker als alle Glücklichen zusammen.«
»Freilich, Kind. Nichts Zerbrechlicheres, als was die Dummen Glück nennen! Spuck darauf, und das Luftschloß fällt in Trümmer. Aber sie glauben alle, sie leben in einer Festung ... Nun muß ich nach Hause. Ich habe ehrlichen Hunger. Kommst du mit?«
Nein. Sibylle kam nicht mit. Sie zog es vor, noch eine Weile auf dem weißen Stein allein zu bleiben. Zu den Gedanken, die sie sammeln mußte, ehe sie, gehorsam dem Tavinschen Familiengesetz, Frau Pauline gut gelaunt unter die Augen trat, hatten sich inzwischen noch so viel andre eingefunden, eine wilde, aufsässige Schar von Reitern, die sie eingekreist hielten und sich beängstigend aufführten! Sie mußten in Ordnung gebracht, abgemustert und schließlich dorthin entlassen werden, wo, nach Pauls Behauptung, die Klarheit der provenzalischen Erde den Bewohnern ihr freundliches Gesetz auferlegte ...
»Vergiß nicht, wohin du gehörst«, waren Juliettes letzte Worte. »Und merke dir: ohne deinen Schutz wird er mich bestimmt noch töten. Er ist ein Schwächling, der nicht viel aushält... Und mit einmal wird er vor Schwäche toll.« Die Wolken auf ihrer großen Winterfahrt zogen über La Cadière hinweg, ihre Schatten grasten auf der Erde.
Bisweilen trat eine Flaute ein, dann lag die ganze Himmelsflotte still. Sobald sie sich wieder in Bewegung setzte, kam Leben in die Landschaft, ein allgemeiner Aufbruch geschah des einen zum andern, es entwickelte sich ein geselliger Verkehr zwischen Dingen, die sonst unbeweglich und in sich verschlossen blieben.
Hier glänzte ein Stück Rebland auf, dort eine Baumgruppe, eine bewaldete Kuppe winkte leuchtend, worauf unten im Tal die Palmenallee eines Schlosses entzückt von der Stelle rückte. Eine Lichtung im Bergwald erglühte langsam und unaufhaltsam, bis die dunstige Luft darüber zitterte. Sie verging, und der Ruf der Sonne erreichte einen andern Winkel, der sich nun gleichfalls in Bewegung setzte. Ganz in der Ferne zwischen dunkeln Felsen glomm ein Flecken Meer, es erlosch, und als Marianne wieder hinsah, hatte es von neuem Feuer gefangen und schwelte wie Zunder, ohne eine Flamme hervorzubringen ... Das Meer verriet, wie schwach die Sonne geworden war.
Eines frühen Morgens trat Marianne reisefertig aus dem Haus. Ihr kleiner Garten glaubte den Winter, der ohnehin schwächlich genug war, bereits hinter sich zu haben. Narzissen und Ringelblumen bliesen einander mit Kindertrompeten in die erwachenden Gesichter, die Orangen und Zitronen färbten sich golden, am betauten Rosmarin war jede Blüte ein duftender Edelstein, auf den Felsen flatterten Büschel roter Spornblumen im Morgenwind, und in feierlichem Aufzug überschritten die rosa Vorreiter und Pagen der Sonne die Bergkette im Osten.
Ihnen allen nickte Marianne zu, mit einem Lächeln, das baldige Heimkehr versprach, und dann stieg sie, ihr Köfferchen an der Hand, mit großen Schritten den Berg hinunter. Der Musselinrock wehte um ihre Beine, unter der seitlich sitzenden Baskenmütze starrte das Haar hervor, sie ging aufrecht, den Kopf ein wenig zurückgeworfen, die schmalen Lippen halb geöffnet, in Gelb gekleidet, von der Mütze bis zu den Schuhen. Das Gesicht war schon ein wenig welk, aber man sah es kaum, Schminke und Puder fehlten, dafür hatte die Sonne es mit einem tiefen Goldton überzogen und gehärtet.
In den Trümmern der alten Stadt erwachte das Leben am frühesten, Marianne erschrak geradezu vom kriegerischen Gekeife einer unsichtbaren Vogelschar – wahrscheinlich setzten die Frühaufsteher einer verspäteten Eule zu. Aus den halbverfallenen Häusern, wo die Armen hausten, drang ein Hüsteln, ein Stöhnen, und einmal schrie ein Kind auf und weinte dann fassungslos über den geträumten Schrecken. Als sie an dem Mandelbaum in dem noch dunkeln Hof vorbeikam, blieb sie eine Sekunde stehn und verneigte sich vor ihm ...
Die schmucke Kulisse der Hauptstraße, der Wohnort der Wohlhabenden, erinnerte an den Flur eines Gasthofs. Unwillkürlich blickte Marianne nach einer Gebotstafel aus: ›Ruhe!‹ Hier herrschte eine Stille, der sich sogar die Vögel in den Platanen des schmalen Marktplatzes unterwarfen. Die herrschaftlichen Sänger lagen alle noch in den Federn.
Marianne wanderte weiter den Berg hinab, zwei-, dreimal wechselte der Koffer die Hand, sie ging im gleichen, kräftigen Schritt bis zur Station, und dort wartete sie auf den Frühzug, der sie über Marseille nach Paris bringen sollte.
Es war zwei Tage vor Weihnachten, und indes Marianne einige Stunden später sich von Paris wie von einem Magnetberg angezogen fühlte, dem der Zug mit jedem ihrer Atemzüge näher kam, eilte Sibylle ungezählte Male an das untere Gartentor des Hauses Rosmarin, um Ausschau nach dem Telegraphenboten zu halten. Auf dem Rundweg stand der kleine Wagen bereit, in Befolgung des erwarteten Telegrammes an Pauls Ankunftsort zu stürmen.
Als es dunkelte, sagte Sibylle:
»Er hat sich anders besonnen, Frau Pauline. Morgen kommt ein Brief mit langen Erklärungen ... Ihr Sohn wird zunehmend weiser in seinen Briefen, Frau Pauline! Zu mir wenigstens spricht er wie ein Kirchenvater.«
Statt eines Briefes kam am Weihnachtstag ein Telegramm, worin Paul mitteilte, er sehe sich veranlaßt, die kurzen Ferien in Paris zu verbringen.
»Dann ist sie auch dort!« erklärte Sibylle bestimmt.
Pauline strich sich mit dem Handrücken über die Stirn.
»Möglich. Ich entsinne mich – kürzlich, als sie hier war und du sie, verstockt wie du bist, nicht sehen wolltest, hat sie mir eine Andeutung gemacht...»
Sibylle hob langsam die Augen:
»Ihnen, Frau Pauline? ... Sind Sie bereits – ihre Vertraute?«
»Sie möchte, daß ich es würde – aber ich habe abgewinkt ... Sie ist ein anständiger, tapferer Kerl, Sibylle. Ich vermute, sie macht sich wenig Illusionen ... In ihrem Alter neigt man zur Bescheidenheit.«
Sibylle ging in sich und kehrte ans Licht zurück mit der Erkenntnis: »Wenn er will – wird es doch dazu kommen ... Was können wir dagegen tun?«
»Doch, wir können viel tun. Jedenfalls wollen wir nichts unversucht lassen.«
»Wenn ich liebte, würde ich noch als Greisin nicht zur Bescheidenheit neigen«, verkündete trotzig Sibylle.
»Ich sagte dir schon – Marianne hat immer nur getan, was sie mußte, nie, was sie wollte. Wie viele stolze Menschen muß sie ihre scheinbare Unabhängigkeit teuer bezahlen.«
Pauline wurde von Schäfchen abgerufen und verließ unter den verwunderten Blicken des Mädchens das Zimmer.
Sibylle hatte erraten, daß die Bemerkung ebenso, wenn nicht noch mehr, auf Pauline zutraf als auf Marianne. Während sie dem nachsann und sich einbildete, die beiden Frauen einander in innigem Sichverstehn mit beinah liebendem Ausdruck zugewendet zu sehen, nahm die Fremde nach und nach Paulines Züge an. Sie wurde ihr immer ähnlicher, je länger Sibylle in Gedanken ihr Auge auf sie und Pauline gerichtet hielt. Sibylle saß da, bestürzt und aufgewühlt vom größten aller Wunder, der Verbundenheit geheimnisvoll verwandter Seelen über die Erde hin, und hielt die weit geöffneten Augen auf die Tür gerichtet, durch die Frau Pauline gegangen war – nicht allein, nein, begleitet vom ach so lebensvollen Schatten Mariannes ...
Zwei Stunden später kehrte Sibylle nach einer Unterredung mit Pauline, die vor dem Bilde des lachenden Majors stattfand, in die Villa Maria zurück, diesmal für immer.
Schäfchen brachte den Koffer hinüber, stellte ihn vor der Haustür ab und verschwand mit einem feenhaften Lächeln, bevor Sibylle noch Zeit gefunden hatte, den Türhammer zu heben. Juliette öffnete. Sie erhob die dicken Arme wie eine Zange und stieß ein Freudengeschrei aus. Dann senkten sich die Arme und griffen Sibylles Schultern. »Dich schickt uns heute Gott«, versicherte sie. »Marius!« rief sie, »Marius!«
»Kind, zum erstenmal, seitdem du erwachsen bist, gibst du mir einen Beweis von Liebe!«
Die kleine Sibylle hing wehrlos in ihren Armen und versuchte zu lächeln. Mit einem Ruck beförderte Juliette sie von der Türe weg in den Flur. Burguburu kam, er stellte sich neben Mutter und Tochter und hielt eine wohlgesetzte Rede, worin Ernst und Humor abwechselnd vortraten, um die Heimkehr der verlorenen Tochter und die Herzensgüte der standhaften Mutter zu feiern. Von sich sprach er nicht, vielleicht, weil Juliette ihm keine Zeit dazu ließ und gleich auf die Köchin schimpfte, die heute früh ohne Kündigung ausgekniffen sei, weshalb man bereits auf eine ordentliche Hauptmahlzeit habe verzichten müssen. Denn sie selbst sei im Glück der neuen Ehe ihres nicht geringen Kochtalentes erstaunlicherweise verlustig gegangen.
Sibylle ging gar nicht erst in ihr Zimmer, sondern machte sich unverzüglich daran, mit den vorhandenen Vorräten ein Abendessen zu bereiten. Dabei summte sie vor sich hin und schien, wie das hungrig vor dem Küchenfenster auf und ab wandelnde Ehepaar feststellte, glücklich ›wie ein unflügges Vögelchen, das man in sein Nest zurückgelegt hat‹.
Zur gleichen Stunde, da Sibylle das Essen auftrug, es gab Rühreier, Bratkartoffeln und nicht mehr ganz frischen Salat, setzten sich Paul und Marianne in einem Speisehaus des lateinischen Viertels an einen kleinen Tisch, und Paul bestellte als Eingang Austern – ein Gericht, von dem Marianne behauptete, es sei ihr seit rund zwanzig Jahren nicht einmal in Gedanken vorgesetzt worden.
Als sie ihm von ihren Begegnungen mit Sibylle erzählte, sagte er: »Die Arme! Wie wird sie da wieder geduldet haben!... Trotzdem – sie ist und bleibt meine kleine Braut.«
»Und ich?« fragte Marianne.
»Einen Augenblick, bitte! Muß nachdenken.«
Sie kam ihm zu Hilfe.
»Ich bin deine voreheliche Geliebte ... So gehört sich's doch für einen ordentlichen Lebemann? So was muß man gehabt haben? Ich denke mir, die Ehre verlangt es.«
Er lenkte ab.
»Prost Marianne! Und nochmals Dank für das entzückende Glasbild...«
»Kind«, versicherte Burguburu im Speisezimmer der Villa Maria, »du weißt, ich habe dich immer beinahe wie die eigene Tochter geliebt. Aber ich ahnte nicht, daß du eine erstklassige Köchin bist.«
Ohne darauf einzugehen, blickte Sibylle ihrer Mutter fest in die Augen und sagte: »Die Sache mit dem Matrosen ist mir klar.« Burguburu wollte erfahren, was das für ein Matrose sei, worauf Juliette lachend ausrief: »Ein Rätsel, das ich ihr einmal aufgegeben habe! Ein Frauenrätsel. Für Männer verboten!«
Nach einer Weile setzte sie mit herausforderndem Blick hinzu: »Es hängt mit der Leiter zusammen.«
»So«, sagte Burguburu und fragte nicht weiter.