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Ende November erst kam der Winter, Mitte Januar war er fort, und die Mandelbäume standen in Blüte. Alle blühten sie auf einmal, weiß, rosa und dunkelrot.
Der Himmel, von einer Bläue, die sich nur zaghaft entschleierte, geriet in Wallung und brauchte einen ganzen Tag, um an sein Glück zu glauben. Als er sich endlich bis in seine Tiefen geöffnet hatte, überfiel ihn die feurige Trunkenheit des Abends, und Meer und Erde lagen reglos unter der Glut der Umarmung, die sich in der Höhe vollzog.
Jetzt erst stellte sich die Wohltätigkeit des vergangenen Winters heraus. Dem reichlichen Regen war es zu danken, daß eine Mandelblüte einsetzte von nie gesehener Pracht und Dauer ...
Die Witwe war in der Kirche. Sie hatte das Haus in der Obhut Emmas zurückgelassen. Schwester Louise war verabschiedet und teils durch einen Krückstock, teils durch ein ›Mädchen für alles‹ ersetzt worden. Die Witwe sprach von ihr als ihrer ›neuen Köchin‹, es klang anspruchsvoller und ließ vermuten, Juliette habe auch früher schon mit einer Köchin gewirtschaftet – vermutlich bevor sie nach Ranas kam, denn hier hatte man, wie allgemein bekannt, nie etwas Ähnliches bei ihr gesehn. So war Emma gleich eine bemerkenswerte Gestalt geworden.
Aber Emma verließ die Küche nicht, solange der junge Herr beim Fräulein auf der Veranda weilte.
Sibylle hatte sich im Liegestuhl ausgestreckt, Paul saß vor ihr.
Über die Sonntage erhielt er ›Urlaub vom Schafott‹ nach Hause, und die Vormittage verbrachte er auf der Veranda der Santa Maria in endlosen Gesprächen, Schleiertänzen der uneingestandenen Liebe, mit bedeutungsvollen, zuweilen geradezu gefährlichen Pausen. Samstagabends und den Rest des Sonntags blieb der Hafen durch die Anwesenheit der Witwe gesperrt, Paul konnte nur vorsichtig davor hin und her segeln und Signale tauschen.
Samstagsabends, wenn die Witwe in der Küche wirkte, verständigten sie sich durch die ›Abendpost‹, mittags nach Tisch ruhte die Witwe, dann kam die ›Mittagspost‹. Sie hatten sich immer viel zu sagen, und kaum war die ›Post‹ abgegangen, mußten sie jedesmal feststellen, daß die Hauptsache vergessen war. Es hing von der Mahlzeit ab, die Juliette bereitete, oder von der Dauer und Tiefe ihres Mittagsschlafes, ob sie wenigstens mit den wichtigsten Nachschriften fertig wurden.
Sibylle, seit gestern von ihrem Gipsverband befreit, befand sich in überschwenglicher Laune, Paul, der schon lange auf diesen Augenblick wartete, überredete sie ohne viel Mühe, die erste Ausfahrt mit ihm zu wagen.
»Mein Herz ist stark«, sagte sie, »aber ich warne Sie, Herr Paul, alles übrige ist sehr schwach.»
Sie fuhren erst kurze Zeit auf der Landstraße, die Straße war schwarz, die Sonne überschwemmte sie mit Streifen gleißenden Lichts (als ob wir einen Haufen Kaminfeger überführen, meinte Paul, sie sind rabenschwarz und tragen glänzende Leitern), die Federbüsche des hohen Schilfes am Wegrand bebten leise in einem Wind, der so leicht atmete, daß die Blattflämmchen der Reben sich nicht rührten, der Eisenbahnviadukt von Cantal erschien, ein mehrfacher Triumphbogen, der in die aufsteigenden Berge dahinter führte, es war ein vollkommener Frühlingstag, einer jener kindlich sorglosen Tage, an denen Menschen, die stillstehn, das Rieseln einer Sanduhr im Himmel vernehmen, sie fuhren erst kurze Zeit in so viel Wonne, da legte Sibylle hastig die Hand auf Pauls Arm und rief: »Sehen Sie, Herr Paul – fahren Sie bitte etwas langsamer, sehn Sie dort die zwei vom Mistral zu Krüppeln geschlagenen Pinien, hier gerade über der Straße? Sooft ich vorbeikomme, immer ärgern sie mich. Deshalb blieb ich meistens auch lieber auf dem weißen Stein sitzen, als spazierenzugehn.«
Paul kannte sie. Durch ihre ungeschützte Lage von allem Anfang zum Leiden verurteilt, hatten sie erst gar nicht groß werden können, und dann hatte ihnen der Mistral zugesetzt, und es war nichts von ihnen übriggeblieben als der Stamm mit drei, vier kläglichen Wedeln statt Ästen, die alle fast waagerecht in die Windrichtung zeigten.
»Die beiden Vogelscheuchen«, meinte Sibylle, »stehn da wie ein krankes, verwahrlostes Liebespaar – finden Sie nicht auch?«
Paul lachte, aber sie sagte ernst:
»Es ist gut, daß sie zu zweit sind. Da können sie einander wenigstens trösten. Für einen allein wäre es schlimm.«
»Sie sind sogar zu dritt, Fräulein Sibylle. Sie haben noch eine kleine Vogelscheuche zwischen sich.«
»Zu dritt?« Sie drehte sich um. »Tatsächlich, das Kindchen hatte ich vergessen. Eine Familie also – in solcher Armut, wie schrecklich! ... Ob das mein Los ist?«
»Ihr Los? Verzeihung, Sie sind doch jetzt ein wohlhabendes Fräulein wenn Sie es nicht schon vorher waren.«
»Sie meinen die Entschädigung der ›roten Linie‹? Um die werde ich doch selbstverständlich betrogen.«
Er schwieg verlegen, dann sagte er:
»Fräulein Sibylle, mir scheint, Sie geben sich zu leicht trüben Gedanken hin. Ihre eigene Mutter wird Sie doch nicht betrügen.«
Nach einer Pause, er sah sie eine Grimasse schneiden, die ein Lächeln sein sollte, antwortete sie:
»Ich habe sonst niemand, der mich betrügen könnte.«
Du lieber Himmel, dachte er, das ist ja entsetzlich – und auch noch an einem Sonntagmorgen!
»Und an alledem ist das verkümmerte Liebespaar von Pinien schuld«, rief er mit gemachter Lustigkeit. »Schon haben sie uns Unglück gebracht, die gute Laune ist weg.«
Als müßte sie sich gegen eine ungerechte Beschuldigung zur Wehr setzen, sagte sie eifrig: »Sie müssen wissen ... Verzeihen Sie ...«, stockte und begann von neuem:
»Sie müssen wissen, beim Anblick dieser Krüppel habe ich zum erstenmal Blut gespuckt. Es wurde mir schlecht, aber es war eben Blut, das ich spuckte. Sie können sich denken, wie ich erschrak, es war das erstemal. Jetzt bin ich fast gesund, es geschieht nur noch selten ... Aber am Tag, als ich überfahren wurde, wollte ich meiner Mutter nach Cantal entgegengehn, da sah ich sie auf einmal wieder, die Krüppel, sie streckten ihre armseligen Arme gegen mich aus, und ich kehrte um. Und gleich darauf wurde ich überfahren.«
Paul wollte seinen Frühlingstag, seinen Tag mit Sibylle, er wollte sie fröhlich und sich zugewandt! Darum erklärte er einfältig:
»Wirklich? ... Ein Zufall!«
Sie lehnte sich leicht gegen ihn, nur eine Sekunde:
»Dann war es auch Zufall, daß Sie im Wagen saßen, der mich umstieß ... Und daß Sie mich auf den weißen Stein setzten, gerade auf ihn. Und daß Sie mich nach Hause brachten, Sie und nicht der Chauffeur Louis. Dann war das auch Zufall, und alles ist gut! ...«
»Ja, liebes Fräulein Sibylle, lassen Sie es gut sein, wenigstens für heute.«
»Nicht nur für heute!« rief sie, und nun war es Sibylle, endlich seine Sibylle, die in das Sonntagslicht aufstieg, und er sah im kleinen Spiegel, der an der Windschutzscheibe hing, wie ihr Gesicht schimmerte, mit lauter Blitzlichtern um den roten Mund und in den dunklen Augen. Die Brauen hoben und senkten sich, zärtlich und versonnen, wie wenn ein Vogel beim Erwachen die Flügel regt ...
Er fuhr schneller, das Meer kletterte die Böschung herauf, die Berge rückten heran, der weiße Riesenkasten des Grand-Hôtel Cantal flog vorüber, und erst als in der engen Einfahrtsstraße von Cantal die Leute auseinanderstoben, merkte Paul, daß er gleichsam im Begriff war, mit hundert Kilometer Geschwindigkeit durch einen Hühnerhof zu sausen. Er bremste, Sibylle sagte aufatmend:
»Schade! ...« Gleich hinter dem Ort entfernte sich die Straße von der See und führte durch Erde, die nicht für die Fremden da war, sondern für die Bauern.
Ganze Wälder von Mandelbäumen standen in Blüte, und auch wo sie spärlicher oder gar einzeln auftraten, verliehen sie dem Land ein festliches Aussehn.
Gerade die einzelstehenden Bäume schienen besonders sinnreich verteilt, man konnte stundenlang hügelauf, hügelab fahren, überall, im einsamsten Tal, aus der verlorensten Ecke, winkte ein Mandelbaum einfach nur, weil in der Woche des Frühlingsbeginns kein Stück dieser Erde ohne ihren Blütenbaum sein durfte. Jedenfalls wollte Paul es so verstanden haben, und Sibylle pflichtete ihm bei. Zuweilen war es nur ein junges Gewächs, nicht höher als ein Weihnachtsbaum, und manchmal blieb so ein kleiner Mandelbaum auch ganz allein zwischen den roten Furchen der Weinäcker, am Straßenrand oder auf der Höhe der aus Mauern und Mäuerchen emporwachsenden Terrassen, für die Geschlechter von Bauern die Steine zusammengetragen, bis jeder Hügel ein hängender Garten geworden war. Manchmal guckte er nur flüchtig hinter einem Haus hervor, aber er war da, er war bestimmt da, selbst in den seltensten Fällen, wo man ihn suchen mußte.
In La Cadière verließen Paul und Sibylle den Wagen. Sibylle behauptete, sie könne ganz gut gehn, wenn man sie ein bißchen stütze.
Es war ein uraltes Bergstädtchen, Römer und Sarazenen hatten darin gehaust, später die Grafen und Barone der Provence mit ihrem Anhang, bis die großen Könige die Hand darauf legten und die überflüssig gewordenen Stadtmauern und schließlich die Häuser verfielen. Wie überall stand auch hier ein Kriegerdenkmal, eine viereckige Säule mit der unbegreiflich langen Liste der Gefallenen. Weil es im Städtchen zu eng war, hatten sie das Denkmal vor das Tor gesetzt, das heißt dorthin, wo früher das Tor war, neben die altersgraue Stadtmauer, und dafür eigens einen Platz hergerichtet und ihn mit Steinplatten ausgelegt. Auf diesem Platz verweilten die beiden, Arm in Arm dem Leben hingegeben, wie es nicht großartiger sein konnte in seiner Stille.
Sie schauten über ein langes, breites Tal, es war zwischen Hügeln gelagert und in der Ferne von einer Bergkette überragt. Die Berge leuchteten schneeweiß in der Sonne. Es war aber nur das nackte Gestein, das so leuchtete, und als sie länger hinsahen, verwandelte sich die Farbe in ein dünnes Lila.
Unter dem Wandern ihres Blickes entfaltete sich das Land, ja, es entfaltete sich, es schob Fläche um Fläche vor, sie erkannten, daß es bis in die hintersten Winkel, bis auf die Bergspitzen aus einer Unsumme von großen und kleinsten Ebenen bestand. Selbst die Rundungen schienen aus lauter winzigen Geraden gemacht ... Dazu kam, daß die Menschen beim Bebauen des Landes seiner natürlichen Anlage entgegenkamen, indem sie es wiederum in lauter Flächen aufteilten. Eine mühevolle Arbeit – sie mußten jeden Hügel und jeden Hang in Terrassen zerlegen, um zu verhindern, daß der Regen den dünnen Humus über der Felserde wegschwemmte. Und dies verlieh dem Lande einen geradezu lehrhaften Ausdruck. Dem Beschauer wurde der tapfer und weise mit der Fruchtbarkeit des Bodens Hand in Hand gehende Fleiß der Bewohner in zahlreichen Lesarten vor Augen geführt, jedermann verständlich.
Gelehrig priesen die beiden die Schöpfung und den Menschen, der sich der Erde friedlich bedient, als Sibylle ausrief:
»Und gerade hier gibt es keine Mandelbäume!«
»Sicher nicht?« sagte Paul. »Lassen Sie uns mal suchen!«
Sie gingen planmäßig vor, indem sie am Ende des Tales anfingen, und wo sie zuerst keinen einzigen blühenden Mandelbaum hatten entdecken können, fanden sie in kurzer Zeit mehr als ein Dutzend. Einer hing sogar gleich am Gemäuer unter ihnen, weiß und rosig – eine hellere Lampe über dem hellen Tal ... Wie hätte auch, gab Paul zu bedenken, gerade diesem Fleck der namentliche Segen des Frühlings fehlen sollen!
Mit den Weltgesetzen zufrieden wie Kinder, die am Weihnachtsabend hinter jedem Fenster der Stadt den Weihnachtsbaum an seinem Platze sehn, setzten sie sich langsam in Gang und betraten die Ortschaft.
»Ich meine, Fräulein Sibylle«, sagte Paul, »so muß unser Leben sein, klar und gerade, übersichtlich, mit festlichen Zeichen und –«
Er suchte vergebens weiter nach Worten. Er war seiner Sache nicht ganz so sicher wie seine Mutter, die ihm einmal ähnliches an dieser Stelle vorgehalten.
»Sehr schön«, versetzte Sibylle.
Schon nach den ersten Schritten ergriff sie die Angst, die Unternehmung könnte ein schlechtes Ende nehmen. Sie hing förmlich zwischen Pauls Arm und ihrem Krückstock. Unter großen Schmerzen lernte sie, den Boden mit dem kranken Bein kaum zu berühren und statt dessen mit dem Stock aufzutreten. Dies wiederum ermüdete nicht nur den Arm, sondern auch Hüfte und Rücken. Aber sie wollte, sie konnte ihre Mühsal nicht eingestehen, wo er mit der Geschmeidigkeit eines Turners neben ihr schritt und nicht im geringsten zu empfinden schien, daß er sie fast trug.
Langsam, mit häufigen Ruhepausen, erstiegen sie die Gassen. Die Hauptstraße war immer noch eine schmucke Kulisse. Erst als sie in die engen Seitengassen einbogen, entdeckte Sibylle, daß hinter der Kulisse die Häuser wortwörtlich zu Staub zerfielen. Und was für Häuser! Häuser, für die Ewigkeit gebaut, so dick waren die Mauern, sie verrenkten sich schier den Hals, wenn sie an ihnen emporsahen. Aber die Häuser besaßen weder Fenster mehr noch Türen. Aus den Stockwerken wuchsen Grasbüschel und manchmal ein Baum. Es gab Häuser, die noch zur Hälfte standen oder zu einem Drittel, während von andern nur der hohle Zahn eines Erdgeschosses übriggeblieben war, darin das Unkraut so üppig gedieh, daß Paul vor der Lebenskraft der Natur ehrfürchtig verstummte. Andre Gebäude waren nur mehr Trümmerhaufen, und viele nicht einmal mehr das, man hatte sie abgeräumt bis auf die Grundmauern.
Ein paar Schritte weiter, Paul jubelte, war alles schon wieder vollkommen zu Erde geworden, über den verschwundenen Häusern wuchsen Ölbäume, Artischocken, Levkojen, Narzissen, und schauen Sie nur, Fräulein Sibylle, da hatte sich zu den Gärten ein neues Haus gesellt. Es war frisch gestrichen – im königlichen Goldgelb der Provence.
Vielleicht hatte man auch nur ein eingestürztes großes Haus benutzt, um ein kleines daraus zu machen ... Wer mochte hier wohnen, Sibylle? Es mußte ein Abenteurer sein, einfach nur, weil er da wohnte einsam und vergnügt über dem grausigen Absturz zweier Jahrtausende! Jedenfalls wollte Paul es so haben, und Sibylle, wenn auch zögernd, pflichtete ihm bei.
Paul grüßte in Gedanken den Eremiten wie einen kühnen Verwandten. Vielleicht war es aber eine Frau? Großartig, wenn es eine Frau wäre wie Fräulein Sibylle?
»Eine Frau?« meinte sie. »Was sollte eine Frau hier in der Einöde suchen?«
»Oh, es gibt kühne und merkwürdige Frauen«, versicherte er. Sibylle fand ihn albern und mußte sich zusammennehmen, um es ihm nicht ins Gesicht zu sagen.
»Wir wollen heim«, bat sie, »ich bin wie zerschlagen.«
»Wirklich? Wie schade! Vor dem ersten Abenteuer, das sich zeigt, reißen Sie aus.«
Sie gingen den Weg zurück, Sibylle hinkend an seinem Arm, ihr Bein schmerzte, sie fühlte sich bedrückt, Paul voll zuversichtlicher Gedanken an Eremiten, die sich über dem Einsturz zweier Jahrtausende ein kleines, gelbes Haus erstellten und am Ende gar weiblichen Geschlechtes waren.
Sie verirrten sich, was Sibylle vollends durcheinanderbrachte, und gerieten auf einen Platz, den hohe Gebäude umgaben. Ein Platz, was in einer Siedlung ein Platz hieß, war es nicht. Vermutlich hatte hier ein Palast gestanden, die Grundmauern verrieten noch die Stattlichkeit des Gebäudes, andre Spuren fehlten. Es war ein großes Viereck, fast ein Kellerloch, der Boden gestampft und sauber, vier Männer spielten Boule, und in der Mitte, auf einer runden, mit Steinen eingefaßten Erhöhung aus Erde – Sibylle, schauen Sie nur, Sibylle, eigentlich sollten wir niederknien –, in der Mitte des Platzes war ein Mandelbaum – der hob eine Opferschale voll weißen Feuers!
Der Umstand, daß er künstlich erhöht stand und daß die Krone waagerecht gestutzt war, gab ihm ein feierliches, beinahe rituelles Aussehn. Hier, erklärte Paul, hatte jemand eingegriffen, der über die Bestimmung des Mandelbaumes im Frühlingsgottesdienst der Provence Bescheid wußte, ein religiöser Geist, eigenwillig und treu. »Jemand wie Sie«, ergänzte spöttisch Sibylle.
Er überhörte es und trat an die Männer heran, die mit der Gewissenhaftigkeit von Künstlern ihre Kugel schoben, und fragte, wer den Raum zwischen den hohen, brüchigen Häusern zum Tempel gemacht habe. Die Männer verstanden ohne weiteres die hochtrabende Frage, was in Sibylle Verwunderung und Ärger weckte, und gaben mit freundlich zustimmendem Lächeln Auskunft. Es war eine Dame, die »ganz da oben« in einem gelben Häuschen wohnte. Man nannte sie nach Landessitte beim Vornamen: Marianne.
»Die Eremitin!« rief Paul.
Sibylle antwortete nicht. Ihr körperliches und seelisches Unbehagen hatte einen Gegenstand gefunden, an dem es sich auslassen konnte, sie war eifersüchtig auf die Eremitin. Wenn es mit Rücksicht auf ihr Bein möglich gewesen wäre, hätte sie den Arm des Freundes von sich gestoßen.
War nicht die Fremde im Augenblick gekommen, wo sie selbst zum Umsinken müde war und sich nicht wehren konnte? Trotzdem hatte Paul sie angenommen, nein, er hatte sie ausdrücklich gerufen! Er hatte sich im Umsehn eine Geliebte genommen, aus der Luft, ein gesundes, kräftiges Mädchen natürlich, eine jüngere Ausgabe seiner Mutter, und betrog sie mit ihr, an ihrem Arm, vor ihren Augen ... Sie hätte heute nicht ausgehn dürfen, es war zu früh, der geringste Atemzug des Lebens warf sie um! ... Hatte er deshalb darauf bestanden, sie mitzunehmen, um sie schwach zu sehn, ganz schwach, elend und eifersüchtig auf ein Gespenst?
Sie schlichen weiter die steilen Gassen hinab. Paul hing ahnungslos mit spielerisch verliebten Gedanken an der Fremden, deren Lebens- und Wesensart er sich und Sibylle großzügig ausmalte. Das Mädchen zitterte vor Erschöpfung und einem unbezwinglich aufsteigenden Zorn auf den Jüngling, der ihr mit jedem Schritt, mit jedem Wort zu helfen suchte – als hätten Krankheit und Ratlosigkeit dieselben Farben, dieselben Schwingen wie Gesundheit und Seelenstärke, als wäre das Leben für beide gleich, als brauchte die Tochter der Witwe Bosca nur zu wollen, um ebenso glücklich zu sein wie einer, der glücklich war, ohne sich anzustrengen! ... Sie hinkte immer stärker. Die riesigen Häuser tanzten vor ihren Augen.
Wie ist es möglich, fragte sie sich erbittert, daß Menschen glücklich sind, wenn andre leiden? Wie können sie so frech sein, zu zeigen, daß sie satt sind, wenn andre hungern? Wie können sie es wagen? Woher nehmen sie den Mut, den Hochmut, den nichtsahnenden Leichtsinn, dem Schmerz auch noch Gewalt anzutun mit ihrem Anblick? Wahrscheinlich waren sie gar nicht glücklich, sie spielten es nur den andern vor, um sie zu demütigen und zu quälen, um ihnen Freude und Gesundheit wie einen Spiegel vorzuhalten, in dem das häßliche Gesicht des Leidenden vor sich selbst zurückprallte ...
Ein Gespräch mit der Witwe kam ihr in den Sinn, ein düsteres Gespräch an einem düstern Abend.
Sie wohnten damals auf der Colline, und auch Frau Tavin wohnte noch dort. Sie kam mit der Mutter von Ranas herauf, den geraden, steilen Weg, der wie eine Schneise aussah. Es stürmte und regnete, sie gingen beide unter demselben Schirm. Der ›Schmuggelverkehr‹ mit Pauline hatte schon begonnen, aber die Mutter ahnte es so wenig wie heute.
»Warum grüßen wir Frau Tavin nicht, wo wir doch fast alle grüßen?« fragte Sibylle. – »Sie hat zuerst zu grüßen«, antwortete die Mutter, und nach einer Weile (wahrscheinlich war ihr eingefallen, daß sie ja viele Leute zuerst gegrüßt hatten) fuhr sie mit ihrer gewohnten sanften Stimme fort: »Wir haben uns schon während des Krieges gesehn, im Garten des Lazaretts, einige Tage nach dem Tod deines Vaters. Frau Tavin pflegte dort, vielleicht hat sie auch deinen Vater gepflegt, ich weiß es nicht. Es liefen viele anlockende Personen in schmucker Kleidung herum. Als Frau Tavin mir begegnete, sahen wir uns an, wir schienen einander zu kennen, vielleicht nur durch die Schilderung gemeinsamer Bekannter, jedenfalls so, als wüßten wir voneinander und würden uns jetzt auch erkennen ... Ich schloß daraus, daß sie es war, die deinen Vater zu Tode pflegte, und da der Arzt mir gesagt hatte, dein Vater sei in aufopfernder Weise gepflegt worden, drängte es mich, ihr zu danken – für den Fall, daß sie es war, verstehst du? Denn merkwürdigerweise hatte der Arzt vergessen, welche der Damen deinen Vater gepflegt hatte, er entsann sich nur, daß es in aufopfernder Weise geschehn war ... Merkwürdig – wie? ... Nun, mein Kind, wenn sie es war, so hätte sie sich mir doch zu erkennen geben können, nicht wahr? Vermutlich war ihr meine Erscheinung nicht unbekannt, dein Vater trug mein Bild immer auf dem Herzen, es war ein gutes, ein deutliches Bild. Als ich kam, stand es auf dem Nachttisch neben dem Toten ... Sie hätte sich mir zu erkennen geben müssen, sagte ich. Es hätte sich geschickt. Statt dessen musterte sie mich frech, von oben bis unten, kann ich dir sagen, wie solche Personen tun, wenn es sich nicht um ihresgleichen handelt, und ging kaltblütig an mir vorüber. Ist sie mehr als ich? Wir sind vom gleichen Stand. Vielleicht hat sie etwas mehr Geld, sicher sogar – ein Grund mehr für eine Christin, sich zu beugen. Aber das ist es, für nichts in der Welt, vor nichts und niemand will die sich beugen, so eine ist sie ... Wie willst du, daß ich sie danach zuerst grüße? ... Ihren Namen konnte ich leicht erfahren. Ich ging hinter ihr her und fragte den erstbesten Verwundeten ... Nein, mein Kind, ich fühle nicht das geringste Bedürfnis, sie zu kennen. Sie soll ihres Weges gehen, ich gehe meinen ... Schwöre, mein Kind, daß du keiner Seele etwas verrätst von dem, was ich dir erzählt habe. Hebe die Hand auf und schwöre!«
Sie waren stehngeblieben in Regen und Sturm, die auf den Schirm einhieben, in völliger Dunkelheit, und Sibylle hatte die Hand erhoben und bei der Mutter Gottes und allen Heiligen Verschwiegenheit gelobt, Verschwiegenheit, »bis einen von uns der Tod erlöst«. Sibylle erschauerte, als sie sich, zum erstenmal wieder nach Jahren, den nächtlichen Auftritt in der Schneise vergegenwärtigte ... Warum die Verschwiegenheit nur dauern sollte, bis einen von ihnen der Tod erlöste, und warum nicht für den andern Teil auch noch darüber hinaus, konnte sie sich nie ganz klarmachen. Vielleicht handelte es sich um eine festgelegte Formel, oder aber die Witwe rechnete damit, daß sie alle überlebte.
In ihrem Innersten hatte Sibylle nie geglaubt, daß Frau Tavin die Schwester gewesen sei, die ihren Vater ›zu Tode pflegte‹. Sie nahm an, daß sie es ihr sonst gesagt hätte, innig befreundet, wie sie inzwischen geworden waren. Außerdem traute sie Frau Tavin kein so schlechtes Benehmen zu. Und schließlich war sie längst mißtrauisch geworden gegen das Böse, das die Mutter von andern erzählte ... Sie suchte das Böse bei jedem. Sie gab keine Ruhe, bis sie es herausgefunden hatte. Und sie fand es immer.
In diesem Augenblick jedoch, die tanzenden Riesenhäuser, an denen sie vorbeikamen, rochen nach Tod und Verwesung, es fiel ihr entsetzlich schwer, zu gehn, ja, sich aufrecht zu halten, in diesem Augenblick trat die Erzählung der Mutter mit allen Zeichen der Wahrhaftigkeit vor ihre Seele. Sie wohnte der Begegnung im Spitalgarten bei, es war Frau Tavin, die da kam und kaltblütig vorüberschritt, Frau Pauline mit allen Eigentümlichkeiten ihres Sibylle so vertrauten Ganges und Mienenspiels – sie war es und keine andre. Wie alle Gesunden ging sie über Leichen ... Wie alle Glücklichen wartete sie nicht einmal, bis sie tot waren, um sich über weniger Begünstigte hinwegzusetzen ... Und dies hier war ihr Sohn, ihr Sohn in jeder Faser, mit jeder Bewegung, in jedem Wort und jedem Blick.
Oh, diese Glücklichen, diese Gesunden! Die Söhne und Töchter des Höllengottes waren sie und verbrachten ihre Tage damit, die ewige Seligkeit zu verscherzen, und verführten die Menschen zur Sünde, wo sie standen und gingen. Dafür waren sie ausgesandt – oh, jetzt war es ihr klar! Die Welt lag offen vor ihr, eine Welt des Leides, durch die sie, die Glücklichen, lächelnd und musizierend schwebten, Rattenfänger der Hölle, aber dort, am Ende des frühlingshaften Weges, dort, am Rande der Erde, wo der schwefelgelbe Schlund klaffte, dort wurden sie erwartet! Höhnisch grinsende, schwarze Gesellen griffen nach ihnen, zogen ihnen die schmucken Kleider aus, peitschten sie und fielen mit Dreizacken über ihr blühendes Fleisch her – ein erschreckend schönes Schauspiel ...
Die Kranken indes, die Verzerrten, die, die vorher die ›Bösen‹ hießen, die Unbequemen, Unerfreulichen, die ernsten Erdulder des Lebens, sie wurden an einer strahlenden Rampe von Engeln empfangen, und jetzt, jetzt begann für sie, für sie jetzt das Lächeln und Musizieren, das Glück der blühenden Bäume und unverwelklichen Liebesworte! Jetzt war es an ihnen zu lachen, und wer zuletzt lachte, lachte am besten, der Himmel war ein einziges Lachen über die törichten Leiber, die kopfüber in die Hölle stürzten ...
Auf einmal, sie waren vor dem einstigen Stadttor angelangt und näherten sich dem Wagen, drückte Paul Sibylles Arm und sagte leise: »Sie sind böse, Sibylle. Ich spüre es. Es tut mir weh.«
»Ja, ich bin böse«, stieß sie hervor.
»Warum?«
»Ich hasse den Frühling und die Mandelbäume.«
Er beugte sich vor und sah ihr ins Gesicht.
»Sie meinen etwas andres«, sagte er mit einem Zögern in Wort und Blick, das sie zum Aussprechen der Wahrheit ermahnen sollte.
Als sie nicht antwortete, fragte er:
»Denken Sie wieder an Ihre Mutter?«
»An meine Mutter?«
Sie blieb stehn, hob den Blick zu seinem Gesicht und forschte es aus. Sie fand darin, nacheinander, Kummer, Sorge, einen Rest von Heiterkeit, der sich ängstlich verkroch, als sie ihm auf die Spur kam, eine Spitze Besserwissen, einen Schimmer unmerklich lächelnder Überlegenheit – zu viel und zu wenig für Sibylles Herz, das zwischen Taumel und Erstarrung schwankte.
Heftig warf sie den Kopf nach vorn.
»Ich dachte nicht an meine Mutter«, log sie. »Sie haben mich erst darauf gebracht, und es ist gut, daß Sie mich daran erinnern, ich muß es Ihnen einmal sagen. Meine Mutter und ich, wir gehören zusammen! Ich bin ihre Tochter, in Geist und Fleisch, ich bin meine Mutter und will nichts andres sein! Ihr seid die Bösen, ihr beide, nicht wir! So, nun haben Sie's gehört.«
Damit löste sie den Arm aus Pauls Umklammerung und versuchte, die paar Schritte bis zum Wagen ohne seine Hilfe zurückzulegen.
»Sibylle!« schrie er und griff sie, als sie gerade hinfallen wollte. Sie wurde hochgehoben, fortgetragen. Eine Weile kämpfte sie noch, dann warf sie in erlösender Verzweiflung die Arme um seinen Hals und brach in Schluchzen aus.
»Sie sind ein Kind«, hörte sie ihn flüstern, ein wunderbar geringes und ach so unmißverständliches Wort der Versöhnung – »ein gutes Kind!« Doch dies letzte klang wiederum wie ein Vorwurf, weil damit die Güte des Kindes zur Mutter gemeint sein konnte, und Sibylle verdoppelte ihr Schluchzen.
»Verzeihung«, stammelte sie, »Verzeihung! Sie ahnen ja nicht, was ich von Ihnen gedacht habe. Es ist schrecklich!«
Paul setzte sie im Wagen ab und sagte: »Schafskopf!«
Und dies erst, zeigte sich, war das rechte Wort.
Im Tränenmeer erschien eine Sonne, nicht größer als das kleine Zauberwort selbst, aber es genügte, um über der Sintflut den Mittag heraufzuführen, die Wasser verliefen sich, und die Taube kam vom nächsten Ölbaum mit einem Zweig im Schnabel geflogen.
»Pudern Sie sich, machen Sie sich ein bißchen zurecht«, befahl Paul. »Man braucht nicht zu sehn, daß Sie geweint haben.«
Sibylle gehorchte. Während sie sich vor dem winzigen Spiegel mit kurzen, unwirschen Stößen der Puderquaste über ebenso viele Gesichtsverzerrungen hermachte, gab sie zu bedenken: für den Fall, daß sie erwischt würde, sei es vorteilhafter, weinend vor das Gesicht der Mutter zu treten als vergnügt.
»Weinen Sie vor Ihrer Mutter?« fragte Paul mit Strenge.
»Nein«, behauptete sie erschrocken. »Nie.«
Und als sie an der krüppelhaften Pinienfamilie vorbeifuhren, drohte sie den dreien scherzhaft mit der Faust.
Sie bogen in den Rundweg von Stellamare ein, da sagte sie:
»Ich muß Sie etwas fragen, Paul.« (Sie war mit sich übereingekommen, nicht mehr ›Herr Paul‹ zu sagen. Sie hatte schamlos vor ihm geweint – und außerdem hatte auch er droben im Städtchen wiederholt Sibylle gesagt.) Paul nickte.
»Wann ist man glücklich?« fragte sie wichtig. »Was ist Glück?«
»Entschuldigen Sie, Sibylle, darüber muß ich erst nachdenken. Wenn ich's habe, schicke ich's mit der Mittagspost hinüber.«
Die Witwe Bosca war noch nicht zurückgekehrt, Emma öffnete und verschwand sofort.
Nach dem Essen, die Witwe hielt ihren Mittagsschlaf, wurde die ›Mittagspost‹ eingeholt.
Von der Veranda der Santa Maria flog etwas an einer langen Schnur in den Nachbargarten. Das Etwas war ein marokkanischer Tabaksbeutel, eine Reliquie des Majors.
Paul versenkte einen Zettel in den Beutel, zog signalisierend an der Schnur und warf dann beides über den Zaun zurück.
Langsam wurde die Schnur eingezogen, der Beutel hüpfte an der Mauer hinauf und verschwand.
Die Botschaft lautete:
»Sibylle, offen gestanden, allein hätte ich's nicht gefunden. Ich habe meine Mutter gefragt. Das Glück besteht darin, daß man an das Glück glaubt, und wer es zuversichtlich erwartet, der ist glücklich.«
»Hm!« machte Sibylle laut. »Hm! Hm!«
Paul hörte es und lächelte.
Natürlich. Einem Mädchen, das trotz seiner neunzehn Jahre in vielem ein Kind war und zum Beispiel noch vor der Mutter weinte, konnte diese Begriffsbestimmung nicht genügen. Doch dafür war vorgesorgt. In der unteren Ecke des Zettels stand: »Bitte wenden!«
Sibylle drehte das Papier um und las:
»Weitere Auskunft erteilen Herr Notar Burguburu und Agentur Ad astra.«
Eine Springflut heller Lachtöne spritzte über die Brüstung der Veranda.
Ein bestürztes Schweigen folgte.
Paul floh ins Haus. An der Tür machte er halt und lauschte.
Alles blieb ruhig. Gute Juliette! Ein festes Schläfchen heute?
Im Mandelbaum neben der großen Agave sprang ein Vogel von Zweig zu Zweig, und jedesmal, wenn er sich niederließ, rieselte ein Blütenregen zu Boden. Es war der erste Baum gewesen weit und breit, der geblüht hatte, so war es in der Ordnung, daß er als erster verblühte ... Paul nickte ihm freundlich zu. Der Baum hatte seinen Beruf erfüllt, er hatte den Frühling gefeiert und ihm Mut gemacht, nun kam der Frühling leicht ohne ihn weiter ... Dieser Frühling endet nie, dachte Paul mit einem Gefühl, weit und hoch wie die Welt – er hinkt noch ein bißchen, aber bald wird er laufen und tanzen. Er heißt Sibylle!
Die Schneise auf der Colline glich dem ausgedörrten Bett eines Sturzbaches, die Pinien zu beiden Seiten standen schwarz und stumpf, die roten Dächer kochten an der Sonne. Alles verkündete: Frühling! Und: Sibylle!
Die Jahreszeiten wechseln leise in der Nacht. Du siehst sie, du hörst sie nicht kommen. Eines Morgens wachst du auf und hast einen neuen Schatz.