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Das Volk greift ein

Bald darauf erhielt Frau Pauline mit der ›Mittagspost‹ eine Nachricht, die sie laut auflachen ließ. Sibylle teilte mit:

»Wenn nicht alle Zeichen trügen, hintergeht man den Major mit dem Notar. Schon weiß es die Köchin. Von ihr hab' ich's. Weitere Auskunft erteilt Agentur Ad astra (die übrigens mit dem Notar und Geschichtsforscher identisch ist, sozusagen seine eigene Konkurrenz. Weiß ich ebenfalls von der Köchin.) Warum ist Paul heute nicht gekommen?«

Antwort:

»Er hat Arrest, weil er in der Schule überhaupt nicht mehr aufpaßt.«

Rückfrage:

»Freut mich, daß er nicht aufpaßt. Er gehört nicht mehr in die Schule. Muß er unbedingt bis zum Sommer drinbleiben?«

Zweite Antwort:

»Er muß. Ohne Abitur kann er nichts anfangen.«

Zweite Rückfrage:

»Warum wird er nicht Chauffeur bei der »roten Linie«? Ich fahre dann immer mit, und niemand merkt, daß ich hinke. Wenn ich gesund werde und nicht mehr hinke und er bereit ist, mich zu heiraten (dies im strengsten Vertrauen! er denkt nicht daran, aber ich!), muß er der Witwe die Entschädigung entreißen, und damit kaufen wir die »rote Linie«. Hat er Ihnen von seiner Eremitin gesprochen?«

Dritte und letzte Antwort:

»Nein. So viel Geheimnisse wie hier oben gibt es in der ganzen Welt nicht wieder. Der Major muß höllisch aufpassen. Große und Kleine intrigieren. Lebe wohl, ich fahre nach Toulon, muß Paul sprechen und den Direktor.«

Es dauerte nicht lange, da wurde die Verlobung der Witwe auch in Ranas-sur-mer bekannt, und zwar unter dem vom Notar selbst dem ehrenwerten Doktor Blanc ins Ohr geflüsterten Sprichwort: »Ich habe ein Grab gesprengt und erwarte dafür die Glückwünsche der Lebenden in Ranas und Umgebung.«

Die Nachricht erregte begreiflicherweise Aufsehn, und die Boule-Mannschaft, der Louis, der Chauffeur, angehörte, brannte am Hafen auf eigene Kosten ein Feuerwerk ab, eine Ehrung, die seit Menschengedenken keiner in den Ehestand tretenden Jungfrau zuteil geworden. Es handelte sich aber auch nicht um ein alltägliches, gewissermaßen natürliches Ereignis, sondern um eine Art Wunder, niemand in Ranas verschloß sich der Ungewöhnlichkeit des Vorganges.

Trotz wiederholten Zuspruchs von Seiten des Pfarrers beging die Braut den gröblichen Fehler, sich nach wie vor im ›Krönungsmantel der Trauer‹ zu zeigen und damit die vom Volke gefeierte Grabsprengung ausdrücklich in Frage zu stellen.

Am Haus des Notars, es war ein schönes, altes Haus am Kai, der Vater hatte es schon bewohnt und der Großvater, blieben tagsüber die Fensterläden geschlossen, als ob ein Toter darin läge, Burguburu ließ sich nicht mehr auf der Straße blicken und wurde, kaum daß dies Zeichen der Beschämung erkannt war, aus einem Uhu für Spaßvögel zum Gegenstand des Mitgefühls und der Achtung.

Die ›Mittagspost‹ wußte von Auftritten zwischen dem Brautpaar zu berichten, und einmal hieß es sogar, der Major sei mit Gewalt aufs Gesicht gedreht worden, und dabei wären ganze Kuchen von Spinnweben ans Licht gekommen.

Paul, der am nächsten Sonntag Sibylle auf der Veranda besuchte, konnte im Vorbeigehn noch Spuren der Gewalttätigkeit feststellen. Das Glas des Bildes war in einer Ecke gesprungen, und außerdem fehlte dem an der unteren Rahmenleiste befestigten Kreuz der Ehrenlegion ein Zacken, was auf einen zweiten, bisher unbekannt gebliebenen Gewaltakt schließen ließ. Denn vom Umdrehen allein konnte der Zacken nicht abgebrochen sein. Da man Sibylle gegenüber, leise vor sich hinweinend, ein Wort von einem ›abscheulichen Mordversuch an einem Toten‹ hatte fallen lassen, ohne Näheres beizufügen, blieb es zweifelhaft, ob der Anschlag beim Umdrehen des Bildes oder beim Abbrechen des Zackens oder beide Male erfolgt war. Sibylle behauptete, die mütterlichen Tränen seien Tränen des Zornes gewesen, Paul, aus Dankbarkeit für die Abwesenheit der Witwe und auch in Erinnerung an Sibylles eigene Tränen in La Cadiére, bestand auf echtem Schmerz als Pumpe des Tränenbrünnleins.

Bis Mittag konnten Paul und Sibylle mit ziemlicher Sicherheit unbehelligt auf der Veranda zusammenbleiben. Emma paßte auf, nötigenfalls war Paul mit zwei Sprüngen über dem Zaun und im Garten des Hauses Rosmarin. Mit ihm nochmals auszufahren, weigerte sich Sibylle, sie wollte warten, bis sie wieder unter blühenden Bäumen tanzen konnte – Geduld, blühende Bäume gab es zu jeder Jahreszeit in der Provence! Inzwischen blühte da im Garten eine Mimose mit kugelrunden Blüten – mit der gedachte sie es zuerst zu versuchen, allerdings nicht am Sonntagmorgen, dafür war der Sonntagmorgen zu kostbar. Und sie lobten die ›frommen Werke‹ der Witwe, denen sie ihr ungeschmälertes Zusammensein verdankten.

Dem Gottesdienst folgten nämlich Sitzungen eines wohltätigen Damenkomitees, die Juliette Bosca bis Mittag und manchmal, man sollte es nicht für möglich halten, trotz ihres gesunden Appetits sogar darüber hinaus festhielten. Sie besuchte mit Leidenschaft arme, kranke und gebrechliche Frauen, aber die armen Kranken und Gebrechlichen empfanden den Besuch nicht als Wohltat, sondern als Plage. Das lag daran, daß die Witwe sich nicht abbringen ließ, ihre ›lieben Schutzbefohlenen‹ übereilig auf den Tod vorzubereiten, während die Armen ihren Tod für weit entfernt und darum weniger beachtenswert hielten als die nächste Mahlzeit. Da die Witwe zwar selbst kein Geld gab, als verschwiegene Sammlerin jedoch von Geld, Nahrungsmitteln und Kleidungsstücken in der Gemeinde nicht ihresgleichen hatte, stießen die Klagen der armen Kranken und Gebrechlichen sowohl bei den andern Damen des Komitees als auch beim Pfarrer auf taube Ohren.

Kein Wunder, daß die Einfältigen in die Leidenschaft, die der gute Pfarrer etwas verstiegen und nicht ohne weiteres verständlich den ›Götzendienst des Todes‹ nannte, tiefer hineinschauten als er selbst. Sie auf ihrem Krankenlager waren die ausgesuchten Opfer des dunklen Triebes. Gutmütig und lebenskundig, wie die Menschen der Provence (zumal die Armen) sind, freuten sie sich zuerst alle aufrichtig über die Verlobung der Witwe und rechneten mit einer günstigen Wirkung auf ihre Sinnesart. Sie hätte nur in hellen Kleidern zu erscheinen brauchen, damit ihre Schutzbefohlenen das Wunder der Verwandlung eines Grabengels in einen Erhalter und Ansporner des Lebens als verbürgt in den Kalender eintrügen. Ja, sie zeigten sich zu dieser Zeit bereit, aus der Beibehaltung des Witwenkleides auf ein gewisses Zartgefühl, eine Scham vor den Ansprüchen des Ehestandes, vielleicht eine Ängstlichkeit angesichts der wiedergefundenen Lebensfülle zu schließen. »Im Grund ist sie womöglich ein kleines Mädchen geblieben, wer kann es wissen!« hörte man sagen, »man muß ihr Zeit lassen.«

Man ließ ihr Zeit, die Witwe nützte sie nicht. So begann der Schleier wieder die züngelnden Schlangen der Empörung und andrer häßlichen Gefühle hinter sich herzuziehn, auch fuhr Juliette unentwegt fort, ihre lieben Schutzbefohlenen auf den Tröster Tod vorzubereiten, statt für gute Ernährung und einen Ausblick auf den Frühling zu sorgen. Es war ein herrlicher Frühling in diesem Jahr. Ranas-sur-mer strahlte wie in Festbeleuchtung von der Freude der Menschen. Seitdem er herrschte, regnete es auch nicht mehr, ein schöner Tag folgte dem andern, was die Lebenslust erhöhte und ihr einen Zug von Ewigkeit verlieh. Vom Frühling aber wußte die Witwe nichts zu sagen, als daß er erfahrungsgemäß nicht nur Alte und Gebrechliche gern hinwegraffte, sondern auch Junge in der Blüte des Alters.

Eines Abends nach Beendigung des Boulespiels betraten die sechs Fischer, ihr »Wenn der Wind weht – über das Meer ...« summend, im Gänsemarsch das Café de la Marine und stellten die Sache der Witwe, die noch vor dem Hochzeitsbett nicht abrüsten wollte, zur Erörterung. Da alle Volksmeinungen vertreten waren, kam auch das kleine Mädchen, das Juliette Bosca vielleicht noch war, wer konnte es wissen, und zwar vom ehrenwerten Doktor Blanc an der Hand geführt, ins Männergefecht. Vor der Tatsache, daß es der Doktor war, der eine so erstaunliche Vermutung anbrachte, verstummte erst einmal das Gespräch. Alle saßen und standen da und sammelten rasch ihre Kenntnisse vom Weibe, sowohl in bezug auf ihren Körper als auf ihre Seele, und überdachten sie eine nach der andern ... Louis (er fühlte sich des Feuerwerks wegen persönlich betrogen) brach den Bann, indem er ausrief:

»Na ja! Vielleicht hat sich die Witwe ihre Tochter aus der Wade gezogen, wer kann es wissen!«

Als nach einem langanhaltenden Hallo wieder Ruhe eintrat, befragte der Alte mit dem Kardinalskopf das Volk:

»Meint ihr nicht, daß etwas von uns aus geschehen müßte?«

Mit Ausnahme des Doktors waren sie alle der Meinung, es müsse unbedingt etwas geschehen. Aber was?

»Wir sollten«, erklärte Louis und zwinkerte mit einem Auge, »wir sollten der Witwe unter die Arme greifen. Sonst tut sie's nicht! Und insofern greifen wir auch dem Notar unter die Arme, wofür uns der arme Mann nur dankbar sein kann.«

Darauf schlug er die Bildung eines Ausschusses vor.

Der Ausschuß brauchte nicht erst gewählt zu werden, er bestand, die Natur selbst hatte ihn in Gestalt der sechs Fischer vor die Theke gestellt, und wenn ihm jetzt noch Louis beitrat, so konnte der Ausschuß durch ein dreifaches Rühren der Hände mit anschließendem Tusch die Weihe des Volkes samt Vollmachten empfangen. Der Vorschlag fand Annahme und sofortige Ausführung. Und als eine Gruppe beurlaubter Matrosen in der Tür auftauchte (niemand hatte die Torpedobootflotille kommen sehn, sie war unbemerkt vor die Mole geglitten und hatte lautlos festgemacht), wurde der jüngste und hübscheste zu einem Trunk eingeladen und mit Handschlag in den Ausschuß aufgenommen – ›als Ehrung für unsere Marine‹.

Die Grammophonplatte »Wenn der Wind weht – über das Meer« wurde aufgelegt, und die sechs Fischer, gefolgt von den beiden Amtsgehilfen, dem Chauffeur Louis und dem hübschen Matrosen, begaben sich im Gänseschritt die Treppe hinauf in das Billardzimmer, um zu beraten, wie dem unglücklichen Brautpaar unter die Arme gegriffen und der Natur zum Siege verholfen werden sollte.

Nach fünf Minuten kamen die Männer zurück und verließen unter dem Jubel der Gäste wortlos und mit wiegenden Hüften, Mann hinter Mann, das Café de la Marine...

Die Nacht war still und warm.

Eine schlanke Mondsichel ruhte, von Windwolken eingerahmt, blaß und müde am Himmel. Der Chorführer erklärte es für eine gute Vorbedeutung.

Als sie im Park Stellamare ankamen, vernahmen sie ein Geräusch, als ob der Wald brenne. Sie folgten dem Knistern und glaubten, in einem halbfertigen Haus den Brandherd entdeckt zu haben. Erst als sie unmittelbar an der Baustelle standen, sahen sie, daß das Knistern in Wahrheit ein Plätschern war – der Wasserturm lief wieder einmal über. Das Wasser stürzte aus der Höhe auf den felsigen Boden und strömte von dort in das Untergeschoß eines Neubaues gegenüber der Santa Maria. Die Bewohner der Kolonie schienen mit dem Geräusch vertraut. Der überlaufende Wasserturm weckte niemand, und wer doch einmal aufwachte, der wußte, was das Geräusch bedeutete, und schlief ruhig weiter.

In Erwartung des Chauffeurs Louis, der noch etwas in der Stadt besorgen mußte, begannen die Männer, das Wasser vom Neubau abzuleiten, und als sie damit fertig waren, suchten sie sich von den Gerüststangen die zwei höchsten aus und trugen sie, um jeden Lärm zu vermeiden, über den Rundweg und die Landstraße hinab vor das untere Gartentor der Villa Santa Maria.

Dann kam Louis mit einem Pickel auf der Schulter und einem Paket unter dem Arm. Sie kletterten über die Mauer und gruben dort zu beiden Seiten des Gartentors ein Loch. Dann sagte Louis leise: »Achtung!« und wickelte das Paket auf. Das Paket enthielt zwei schöne frische Nachthemden. Das eine gehörte ihm, das andre seiner Freundin, und dieses war hellrosa und reich mit Spitzen verziert.

Louis richtete sie kunstvoll mit zwei Stöcken als Banner her, indem er beim Herrenhemd den Stock durch die langen Ärmel, beim ärmellosen Damenhemd den Stock durch die Schulteröffnung schob, beide an den Enden festband und die Schnur, im Dreieck zusammengeführt, an der Spitze der Stange befestigte. Auf diese Weise mußten die Prunkstücke ehelicher Vertraulichkeit denkbar ausdrucksvoll im Winde flattern. Die Stangen wurden hochgehoben, im Boden festgetreten und mit Rücksicht auf ein mögliches Auftreten des Mistrals mit Draht an das Gartentor angeschlossen.

Darauf kletterte der bevollmächtigte Ausschuß wieder über die Mauer und ging im Gänseschritt bis zur unteren und im Gänseschritt bis zur oberen Kurve der Landstraße und vergewisserte sich der Tragweite seines Werkes. Von beiden Stellen fielen die Banner jedem, der des Weges kam, unweigerlich ins Auge, sie beherrschten die ganze Umgebung, selbst in dieser halbdunklen Nacht, und noch bevor der Wind sich eingemischt hatte, um auch seinerseits dem Brautpaar unter die Arme zu greifen.

Vom Hafen aus, stellte der Ausschuß fest, waren die Hochzeitsbanner ebenfalls zu erkennen, jetzt freilich nur als weiße Flecken über dunklen Bäumen, aber bei Tageslicht mußten die Flecken zu unmißverständlichen Signalen werden, zumal da bis dahin alle Welt wüßte, was sie bedeuteten, und gar auf der See würde man sie winken sehn wie Arme und Beine gestrandeter Sirenen. Der Chorführer legte dem kleinen Matrosen und Amtsgehilfen nahe, bei seinem Kommandanten vorstellig zu werden, damit die Flottille morgen früh bei der Ausfahrt die Aufforderung zum Glück an die Witwe Bosca mit den bei festlichen Gelegenheiten üblichen einundzwanzig Salutschüssen begrüße. Der Matrose versprach lachend, sein Bestes zu tun, wonach der Ausschuß sich ebenso rasch auflöste, wie er sich gebildet hatte.

»Mut, gnädige Frau, Mut!« rief der Chorführer mit einer Armbewegung hinauf nach Stellamare.

»Los, Alter, drauf!« riefen die andern zu dem Haus Burguburus hinüber.

Nach diesem Abschiedsgruß trennten sich die Männer, und da sich herausstellte, daß die Freundin des Matrosen und die Freundin Louis' in der gleichen Gasse wohnten, gingen die beiden das Stück zusammen, und Louis schenkte dem neuen Kameraden, einem Bretonen, den Rest seiner Zigaretten.

»Sie will nicht, daß ich bei ihr rauche, verstehst du?« erklärte er.

»Trinkt sie?« fragte der Matrose.

»Nein«, sagte Louis erstaunt.

»Die meine säuft wie eine echte Seemannsbraut.«

»Dann stammt sie aber auch nicht, von hier? Die unsern tun das nicht.«

»Bewahre, irgendwo aus der Gegend des Nordpols ist sie her. Ganz was Feines. Sie malt und spielt Klavier. Was soll ich dir sagen? Eine Dame!«

»Ach so!« Louis war im Bild. »Sonntag vor acht Tagen hatte ich sie bei der letzten Fuhre aus Toulon. Sie war stinkbesoffen, muß ich dir sagen.«

»Richtig! Da habe ich sie kennengelernt. Es hat halt jede ihren kleinen Schönheitsfehler. Eigentlich liebe ich nur Frauen, die viel vertragen. Meine jetzige kriegt im wichtigsten Moment das heulende Elend. Kannst dir vorstellen, wie unbequem das ist!«

Louis gab ihm beruhigende Versicherungen. Die Dame aus dem hohen Norden, in Ranas war es bekannt, erlag auf ihre Weise dem Andrang des Frühlings – Alkohol und Abenteuer! In den übrigen Jahreszeiten war sie ganz ordentlich.

»Vorhin war sie nicht zu Hause«, erklärte der Matrose. »Ich kenne die Leute nicht, bei denen sie wohnt, bin das erstemal hier. Ich habe hinterlassen, daß ich wiederkomme. Glaubst du, man hat es ihr ausgerichtet?«

»Wollen mal sehn«, sagte Louis. Nach einigen Schritten deutete er auf ein erleuchtetes Fenster. »Aber natürlich! Das ist sie.«

Sie schüttelten sich die Hände, Louis ging weiter, er hörte hinter sich einen Pfiff, der dem erleuchtenden Fenster galt, und verschwand in einem Haus.

 

Der folgende Tag war ein Mittwoch.

In Ranas war jeden Morgen Markt, den ›großen Markt‹ aber, nicht nur vor dem Rathaus, auch gegenüber am Hafen, den Wochenmarkt, zu dem sich die fliegenden Händler mit ihren Wohn- und Frachtautos einfanden und mit Trommel, Geige und Flöte die Verkäufer der neuesten Schlager, den gab es nur am Mittwoch, von acht Uhr bis Mittag. Er begann nach Ende des Gottesdienstes. Eine Verbindung zwischen dem Ende der Messe und dem Marktbeginn bestand nicht, es war ein zufälliges Zusammentreffen. Die Marktweiber, mit dem Aufschlagen ihrer Verkaufsstände beschäftigt, mochten vielleicht in Gedanken der Messe beiwohnen (ein paar Alte brüsteten sich damit), ihr Platz aber vor Gott und der Welt war jetzt nicht in der Kirche, sondern zu beiden Seiten der Straße, auf den ihnen zugewiesenen und teuer bezahlten Quadratmetern freisinnigen Ranasser Bodens.

Als der Pfarrer aus der Kirche trat, stürzten ihm von ihren Fisch- und Gemüseständen vier Frauen entgegen, drängten den verdutzt Widerstrebenden in die Ecke zwischen Kirche und Apotheke und wisperten mit erregten Gebärden auf ihn ein.

Ihr Benehmen hatte wenig Sinn, die Angelegenheit, die sie da geheim zu behandeln vorgaben, beschäftigte die Öffentlichkeit seit dem Eintreffen der ersten Marktwagen. Dies war auch der Grund, warum es heute mit dem Abladen und dem Einrichten der Verkaufsstände nicht vorwärtsging und die Wagen, die aus einer andern Richtung als der von Cantal eintrafen, von ihren Besitzern alsbald im Stich gelassen wurden. Die Verkäufer samt ihren Frauen und Kindern mischten sich entweder unter die Fischer, die, Hände in den Hosentaschen, Zigarette im Mundwinkel, einen bestimmten Punkt des Kais besetzt hielten und nach Stellamare hinaufschauten, oder sie eilten in Trupps bis vor das Gartentor der Villa Santa Maria.

Das Gartentor war zur allgemeinen Haltestelle geworden. Jeder Wagen und Autobus aus dieser oder jener Richtung verweilte hier eine herrliche Minute lang, bevor er unter übermütigem Hupen und Krächzen weiterfuhr.

Die Stockung im Marktbetrieb allein hätte den Pfarrer aufklären sollen, daß die Saat der von den Weibern berichteten Untat bereits aufgegangen war und er sich unnötig von ihnen aufhalten ließ. Sein erster Gedanke galt dem Namen der Villa, Santa Maria. Er warf sich vor, nicht rechtzeitig den Versuch gemacht zu haben, das Haus seines allzu verpflichtenden Namens zu entkleiden. Eine so beunruhigende, undurchsichtige, das Schlangenzischeln unfrommer Gedanken hinter ihrem Schleier herziehende Dame konnte und sollte nicht unter einem Namen wohnen, der die Reinheit und das Licht in Person war. Nichts verabscheute die Kirche so sehr wie das Ärgernis.

Als er nun wahrnahm, wie das bisher nur in seinem Gewissen erwogene Ärgernis öffentlich zu werden und sich zur Blasphemie zu steigern drohte, stieg dem guten Pfarrer das Blut zu Kopf. Selbst die entfernteste, noch so äußerliche Verbindung des schönsten, des süßesten aller Namen mit dem heutigen Ereignis erschien ihm als eine Unwürdigkeit, die keine wohlgeartete Seele ertragen konnte, ob gläubig oder nicht. Eine Zeitlang stand er stumm und ratlos zwischen den endlich ebenfalls verstummten und neugierig auf seine Meinung lauernden Weibern, dann machte er sich los und eilte zu seinem unwürdigen Nachbar, dem Anstreicher in der Kirchgasse.

Der Anstreicher war ein Kirchenfeind, und da er bereits von den Hochzeitsbannern der Villa Santa Maria gehört hatte, empfing er den Pfarrer mit einem breiten Grinsen. Aber die ersten Worte des Greises stimmten ihn ernst, er hörte ihn freundlich an und billigte sein Vorhaben.

»Ich verstehe, Herr Pfarrer«, sagte er, während er einen Eimer mit Farbe und Pinsel an die Hand nahm. »Nicht wahr? Sie haben ja auch meine Frau auf den Namen getauft.«

»Wenn es nur nicht zu spät ist!« murmelte der Pfarrer.

Der Anstreicher sprang zum ehrenwerten Doktor und Bürgermeister Blanc hinauf, und in dessen Wagen fuhren sie zu dritt an den Ort des Übels.

Unterwegs erklärte der Doktor plötzlich: »Ich habe es erwartet! Ja, offen gestanden, ich habe Schlimmeres erwartet!«

»Schlimmeres?« schrie der Pfarrer auf. »Was kann es Schlimmeres geben!«

Der Doktor sagte: »Nun, es ist ihr doch nichts geschehn! Sie hätten sie zum Beispiel ... in aller Heimlichkeit ... vergewaltigen können ...

Sie hatten da einen jungen, hübschen Matrosen mitgenommen, der so aussah, als sei er zu allem bereit.«

Der Pfarrer dachte nach, dann legte er den Mund an das Ohr des Doktors:

»Doktor«, sagte er, »Gott verzeihe mir! Mir wäre es lieber gewesen

Sie bogen um die Kurve, und der Wagen stand still, als habe ihn das gemeinsame Erschrecken der Insassen zum Halten gebracht.

»Zu spät!« flüsterte der Pfarrer.

Eine lachende, durcheinanderquirlende Menschenmenge versperrte die Straße, und plötzlich dröhnte die Luft vom Tuten, Krächzen, Heulen, Kreischen der Autosirenen, als hätten die wüsten Kerle alle zusammen den Pfarrer im Hintergrund der schwarzen Limousine erspäht und hießen ihn teuflisch willkommen.

Dort, wo das Knäuel am dichtesten war, unmittelbar vor dem Gartentor, hielt ein Autobus der ›roten Linie‹, und auf seinem Dach hatten sich die bei Volksaufläufen stets und überall bevorzugten Persönlichkeiten versammelt, nämlich jene, die am besten klettern konnten.

An der Spitze der beiden Stangen flatterten die Hochzeitsbanner, das weiße und das rosa. Der Meerwind schüttelte sie, blähte sie auf. Er schuf Formen aus den Hemden, dem weißen, langen und dem kürzeren, rosenfarbenen, deutlich unterscheidbare, menschliche Formen, und er verwandelte sie. Das eine Mal erstanden sie stürmisch, mit raffender Gebärde. Das andre Mal schienen sie sich zu versagen, sie gaben sich verlegen, unwirsch, verschlafen. Dann wieder sammelten sie sich, sie zögerten, suchten, sie erhoben sich wild, und zuweilen antwortete das eine Hemd auf eine Bewegung des andern, was jedesmal einen Sturm von Gelächter und Zurufen hervorrief. Manchmal schienen sie sich müde in Zärtlichkeiten aufzulösen, sie vergingen – und schlappten plötzlich an der Stange hinunter. Dies geschah, sooft der Wind sich für kurze Zeit legte, dann verstummte auch das Rauschen der Bäume, und durch die Menge lief ein Seufzen und Murmeln scherzhaft innigen Mitgefühls.

Alle menschlichen Gemütsarten erfuhren in schneller, oft rasender Aufeinanderfolge ihre Darstellung, so wahr sagt das Sprichwort: ›Kleider machen Leute‹, und das Nebeneinander der beiden Hemden stellte eine Beziehung her, deren Spiel das Gelächter und festliche Tuten auf der Straße keinen Augenblick verstummen ließ. Der Wind zeigte eine unerschöpfliche Erfindungsgabe, und in der Vorstellung der Zuschauer wuchsen die Witwe und der Notar in das Reich der Sage, wo die mächtigen Liebespaare wohnen und übermenschlich ihre Kräfte regen.

»Das würde mir alles nichts machen«, gestand der Pfarrer, »wenn nur der Name nicht wäre!«

Der Anstreicher öffnete die Tür des Wagens.

»Ich geh' und lösche ihn aus«, sagte er. »Ich überpinsle einfach das Santa, dann sehn sie auch alle, wie's gemeint ist.«

»Nein«, widersprach der Pfarrer, »das Ganze, lieber Mann, bitte, das Ganze!«

»Gut, das Ganze. Aber mit Respekt zu sagen, Herr Pfarrer, ich finde die Strafe zu streng. Der Witwe gewissermaßen gleich das ganze Haus auf einmal nehmen! Mir persönlich schiene es hinreichend, wenn wir nur das Santa–«

Der Pfarrer warf die Arme in die Luft:

»Machen Sie, was Sie wollen! Aber dick Farbe drauf! Doktor, wir fahren heim.« Er schlug die Türe zu.

Rückwärts fuhren sie den Berg hinab, weil sie zwischen den Autos, die ihnen ununterbrochen entgegenkamen, nicht wenden konnten. Aus den Wagen sahen lauter lachende Gesichter.

Der Pfarrer murmelte:

»Du lieber Gott! Sie wissen es schon alle ... Bald wird auf der einen Seite halb Toulon, auf der andern halb Marseille versammelt sein ...

Nicht zu reden von den Parisern, die immer unterwegs sind.«

»Ich telephoniere nach Ollioules«, sagte der Doktor.

Der Pfarrer hielt den Atem an.

»An die Gendarmerie ... Doktor, das müssen Sie wohl, Sie sind der Bürgermeister. Aber, Doktor – es ist der Gipfel des Skandals! ... Die gute Frau Bosca fängt an, mir herzlich leid zu tun. Und, bitte, Doktor, sorgen Sie dafür, daß in den Berichten der Gendarmerie nur von einer Villa Maria die Rede ist ...«

Droben auf der Ehrentribüne der Versammlung, dem Dach seines Autobusses, hockte der Chauffeur Louis, er rauchte Zigaretten und beobachtete die Häuser Rosmarin und Santa Maria.

Als Sitz diente ihm ein Koffer, und da sein Wagen ohnehin weder vorwärts noch rückwärts konnte, der Fahrplan demnach durch ›höhere Macht‹ außer Kraft gesetzt war, fühlte er sich unantastbar sowohl im Gewissen wie in seiner Bequemlichkeit.

»Ha! Jetzt reicht unser Parkplatz schon von Cantal bis Ranas, und alles schreit und will heraus aus dem Wurstkessel«, sagte er, als wieder ein wüstes Konzert der Autosignale einsetzte. »Uns kann nur die Feuerwehr helfen, und zwar die von Toulon mit den Motorspritzen. Die unsre ist zu klein, sie käme unter den erstbesten Wagen wie ein Dackel, wenn sie sich auf die Straße traute, und was von ihr übrigbliebe, könnte man mit dem Besen zusammenfegen.«

»Verzeihung«, sagte einer der Ehrengäste, »sind die Leute in Ranas alle solche Langschläfer? In der Villa links hat sich einmal eine weißgekleidete Dame gezeigt, dort am Fenster des ersten Stocks.«

»Das links war Frau Tavin«, klärte Louis ihn auf. »Auch eine Witwe, aber, wie Sie richtig bemerkt haben, in Weiß. Nicht zu verwechseln mit der andern rechts, die ist tief schwarz – auch im Bett. Offenbar hat sie einen Schlaf wie der Tod.«

»Habt ihr sie am Ende narkotisiert?«

»Pst!« machte Louis. »Gleich geht's los. Da, auf der Veranda! Das ist die Kleine – die Tochter des Hauses. Sie geht am Krückstock – unsere Konkurrenz hat sie mal angefahren ... Juppdich, ins Haus! Sie läuft schon ganz nett ... Jetzt die Köchin, ein dummes Ding, aber brav, die wird jetzt gleich hier sein, paßt mal auf! Die Leute schlafen halt nach dem Park hinaus, und die Küche liegt auch auf der andern Seite.«

»Emma!« rief er. »Emma!«

Die Köchin kam durch den Garten gerannt, in Sprüngen, zwischen denen sie lauernd stehnblieb wie eine Katze, Neugier trieb sie, Angst vor dem Unbekannten hielt sie zurück. Oberhalb des Tores machte sie halt. Ihre Blicke wanderten auf und ab zwischen den Hochzeitsbannern und der Menschenmenge. Dann sah sie, durch die Latten des Tores, den Anstreicher am Werk, sie eilte die Stufen hinab und fragte leise:

»Was machen Sie da?«

»Bin gleich fertig, mein Kind. Habe das Santa zwischen Villa und Maria auf höheren Auftrag schwarz zugestrichen, von Heilig kann hier keine Rede mehr sein, verstehst du? – und damit es nicht so auffällt und das Gottesgericht etwas in Grenzen gehalten wird, bin ich dabei, den Rand des Schildes ebenfalls in Schwarz anzustreichen.«

»Emma!« schrie Louis. »Emma, lebt sie, oder ist sie tot?«

Emma beachtete ihn nicht. Er wandte sich zu seinen Ehrengästen:

»Kinder, die Witwe hat vor Schreck die Unschuld verloren und ist gleich darauf verschieden. Das Glück hat sie getötet.«

Die Köchin blickte zu den Hemden hinauf und wollte etwas sagen. Im gleichen Augenblick brach der tierische Lärm wieder los, Emma mußte den Mund in einen Spalt zwischen den Latten drücken, um sich verständlich zu machen.

»Sie schlafen noch«, erklärte sie. »Woher weiß man, daß der Notar heute nacht bei ihr war?«

Der Anstreicher ließ den Pinsel sinken und glotzte sie an. Er brachte das Gesicht ganz nahe an das ihre und fragte mit stockendem Atem:

»Kind, ist das wahr?«

»So wahr ich lebe«, versicherte das Mädchen. »Ich habe es mit eigenen Ohren gehört.«

»Was hast du gehört?« fragte der Anstreicher mit einem breiten Grinsen.

»Wie er zu ihr einstieg.«

»Einstieg?«

»Auf einer Leiter vom Neubau. Sie steht jetzt noch.«

»Das muß ich sehn. Mach mal auf!«

Sie öffnete die Tür, ließ ihn eintreten, schloß wieder ab.

»Nimm vorsichtshalber den Schlüssel mit«, riet er. »Sonst kommen andre nach, und es gibt einen Auflauf im Garten.«

Louis droben auf der Ehrentribüne verkündete, jetzt ginge der Anstreicher die Leiche beschauen. Es könne nicht mehr lange dauern, bis man Bescheid wisse, denn der Anstreicher sei ein anständiger, wahrheitsliebender Mann.

Von der oberen Kurve pflanzte sich ein Ruf über die Straße fort:

»Die Gendarmerie!«

Am hinteren Eingang der Villa stießen der Anstreicher und die Köchin mit einem Gendarmen zusammen. Ein zweiter stand am Eingang des Rundweges und verwehrte den Neugierigen den Zutritt. Der erste hielt sein Fahrrad und fragte mit gespielter Strenge die Bauarbeiter, die ihn im Halbkreis umstanden:

»Warum habt ihr nicht schon längst eure Leiter weggenommen?«

»Wir wußten nicht, ob das Tor auf war oder nicht ... Außerdem hat unsre Leiter noch nie so schön gestanden. So ein Glück und eine Ehre hat sich unsre Leiter nicht träumen lassen, Herr Gendarm.«

Der Gendarm vermochte nicht länger ernst zu bleiben.

»Nehmt sofort die Leiter weg, ihr Halunken«, befahl er lachend, dann schob er das Rad in den Hof und betrat, unter Vorantritt des Mädchens, durch die Küchentür das Haus.

Der Anstreicher wechselte einige Ergötzlichkeiten mit den Arbeitern, und nachdem er der Verbringung der Leiter an die Baustelle bis zum Ende beigewohnt, schlug er den Feldweg ein, auf dem auch die Gendarmen von Ollioules herübergekommen waren. Er ging langsam wie bei einem der sehr seltenen und deshalb feierlichen Familienspaziergänge und überlegte, wen in Ranas-sur-mer er als ersten mit der Neuigkeit beglücken sollte, daß die Hochzeitsbanner zu Recht vor der Villa Santa vor der Villa Maria wehten und durch Fügung des Schicksals statt Hohn und Spott überschwengliche Glückwünsche ausriefen ... Und daß demnach das Gedränge von Ranas bis Cantal in Wahrheit die Hochzeitsgesellschaft darstelle, die sich lediglich um einen Tag verspätet habe.

Er schwankte zwischen dem Pfarrer, der in der Nachricht eine Milderung seiner Gewissensängste fände, und seiner Frau, die ihre Arme, zarte Mädchenarme, in die Hüfte stemmen und mit zurückgeworfenem Kopf kräftig loslachen würde ... Erst entschied er sich für diese, weil es Frühling war und ihr beim Lachen zwei Grübchen auf die Wangen traten und mit den knospenhaften Brüsten um die Wette tanzten, während das Gebiß auf dem purpurnen Hintergrund der Mundhöhle verheißungsvoll blitzte – und dann für den Pfarrer, weil Kummer schneller Hilfe brauchte als Freude und die Frau ihm ohnehin nicht davonlief.

Er näherte sich einer einzelstehenden, für ihn denkwürdigen Pinie (unter ihr hatte er, wie viele Ranasser, zum erstenmal ein Mädchen geküßt), als er in ihrem Schatten eine Gestalt wahrnahm. Die Gestalt kauerte, den Rücken gegen den Stamm, am Boden und wischte sich mit einem Schnupftuch umständlich den Kopf. Der Arm mit dem Tuch sank herab, und der Anstreicher erkannte den Schädel des Notars Burguburu. Er lief auf den Kauernden zu, stellte den Eimer neben sich und rief:

»Gottverdammichnicht, Herr Notar! Sind Sie's, oder sind Sie's nicht? Ich denke, Sie sind bei der Witwe? Ich habe, so wahr ich lebe, mit diesen meinen Augen die Leiter gesehn!«

Burguburu maß ihn mit müdem Blick.

»Lieber Mann«, sagte er, »ich weiß nicht, was das für eine Leiter sein soll. Wie Sie mich hier sehn, komme ich schnurstracks von Paris.«

Er trug eine Sportjacke, Kniehosen und gelbe Schuhe, die voll Erde waren, der Schweiß rann über die Backen in das weiße Sarazenenbärtchen, verklebt, schief und unordentlich stand es vom Kinn ab. Brocken roter Erde hingen darin – vielleicht hatte er versucht, die Schuhe von Erde zu reinigen, und sich dann an den Bart gefaßt, vielleicht war er beim Lauf über die Äcker gefallen ...

»Gestatten Sie!« sagte der Anstreicher.

Er hob die Reisemütze auf, die mitten auf dem Weg lag, und bettete sie sorgsam neben den Notar.

Die Augen Burguburus starrten glasig und gerötet. Aus dem Knopfloch guckten das rote Bändchen der Ehrenlegion und das violette der ›Akademischen Palmen‹ und waren das einzig Frische, gleichsam Unverletzte am ganzen Mann.

Er deutete mit dem Daumen hinter sich, und als der Anstreicher vortrat, sah er hinter dem Baumstamm ein Köfferchen stehn.

»Ich wollte es hier lassen, um es nicht den Berg hinaufzuschleppen ... Ich bin von der Station Ollioules im Sturmschritt gelaufen, da über die Felder ... Nicht wahr? Sie verstehn, ich wollte nicht durch unsere Stadt ... Beim Aussteigen aus dem Zug habe ich die Nachricht erhalten – wie eine Kugel mitten in die Brust – die Freude dieser rachsüchtigen Olliouler hätten Sie sehen sollen ... Wissen Sie, mein Lieber, daß Soldaten mit einem Volltreffer in der Brust erst einmal ruhig weiterlaufen, ganz ruhig, als sei nichts geschehn? Nein? Nun, dann sehn Sie mich an! Bis hierher bin ich gelaufen, aber jetzt ist es aus ... Lieber Mann, seien Sie so gut, und bringen Sie meiner Wirtschafterin das Köfferchen da. Aber gehn Sie von hinten ins Haus, und verschließen Sie das Bild des Jammers, auf das Sie an diesem herrlichen Frühlingsmorgen gestoßen sind, fest in Ihrem Busen ... Dafür können Sie nächste Woche das Anstreichen meines Hauses in Angriff nehmen. Nichts zu danken, mein Lieber, das Haus hat es längst nötig, und es kündet sich eine gute Saison an, nichts zu danken. Wir stehn und fallen alle mit dem Schicksal unseres Kurortes ... Verschwiegenheit vorausgesetzt, lieber Mann! Verschwiegenheit, bis einen von uns der Tod erlöst... Nun können Sie gehn.«

Kopfschüttelnd machte sich der Anstreicher auf den Weg. Die Schöße des weißen Kittels flatterten im Wind. Burguburu blickte ihm nach, wie er, den Farbeimer in der einen Hand, in der andern den Koffer, eilig dem nahen Städtchen zustrebte.

Mit den fast fensterlosen Häuserwänden seiner Südseite und dem alten Turm machte es einen wehrhaften Eindruck, obwohl nicht die Spur einer Befestigung zu sehn war. Die Häuser und auch der sie überragende viereckige Turm prangten in goldgelber Farbe, die das Morgenlicht zugleich erhellte und dämpfte. Der Notar dachte, indes die Augen ihm zufielen: Goldgelb, königliche Farbe der Provence ...

Das Goldgelb der Stadt vermischte sich mit dem Sonnenschein über den Weinäckern.

Zwischen den niederen Rebstöcken, deren junge Blätter sich in die Sonne streckten wie Kinderhände aus einer Wiege, sprangen Rotkehlchen – ihr Zwitschern klang, als würden kleine Rasseln gerührt. Die Pinie schaukelte leise im Wind.

Mit dem Wind kam von weither ein Lärmen von Autosignalen und begab sich im leisen Sausen und Wiegen des Baumes zur Ruhe.


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