Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Sibylle

Zu Ostern kam Paul nach Hause. Frau Pauline holte ihren Sohn in Toulon ab, und als er, frisch nach Kölnischem Wasser duftend, auf sie zukam, wäre sie beinahe an ihm vorübergegangen, so hatte er sich in den sechs Monaten verändert.

Er war sorgfältig gekleidet, kamelhaarbraun, von Kopf zu Füßen, eine sehr vorteilhafte Farbe für Blonde, jedes Stückchen an ihm machte den Eindruck des Neuen. Aber das war nicht alles.

»Ha!« sagte Frau Pauline und tat erschrocken. »Vorsicht! Du bist ja – du bist, kurz gesagt, ein Mann geworden.«

Es lag nicht nur an dem blonden, seidigen Schnurrbart, der ihm wie zwei gewellte Strähnen ihres eigenen Haares zierlich unter der Nase hing, auch nicht am Gesichtsausdruck, dessen Verschlossenheit ein jäh aufsteigendes Lächeln erhellte, um ebenso rasch wieder zu verschwinden, es war vor allem sein selbstbewußtes Gehaben, wie er auf die Mutter zukam, sie umarmte und auf die Stirn küßte. Die Kindlichkeit, die eine Umarmung entweder hinnimmt oder aber in sie hineinflüchtet, war der Gewohnheit des Mannes gewichen, die Frau als den schwächeren Teil des Geschlechtes in Besitz zu nehmen, wenn auch nur, um sie zu beschützen und kraftvoll ein Stück durchs Leben zu geleiten. Sicher und geschickt bahnte Paul der Mutter einen Weg durch das Menschengedränge, bezahlte den Gepäckträger, ohne ihn anzusehn, und half ihr, wenigstens andeutungsweise oder sinnbildlich, in den Wagen. Er setzte sie ohne weiteres neben das Steuer, sich selbst aber davor.

»Ja, nun – wenn ich aber selbst Lust hätte zu fahren?« fragte sie lächelnd.

»Hast du bestimmt nicht«, versetzte er, und schon fuhr er los.

Die Bemerkung, er habe sechs Monate lang an keinem Steuer gesessen, kam als Entschuldigung für seine Eigenmächtigkeit ein wenig spät. Er unterhielt sie gemessen und freundlich wie ein älterer Bruder, mit allen Zeichen der Verehrung, aber auch mit Betonung seiner kreatürlichen Überlegenheit. Ein- oder zweimal kam ihm sein Ernst selbst etwas komisch vor, er lächelte sie verlegen und wie um Nachsicht bittend an – ohne die Kenntnis vom erprobten Reiz dieses Lächelns ganz verleugnen zu können. Danach wußte Pauline genug über seine Beziehungen zu Marianne. Das Rätsel, über dem sie sechs Monate gegrübelt hatte, war in fünf Minuten gelöst, sie brauchte mit keinem Wort daran zu rühren.

»Und Sibylle?« erkundigte er sich unvermittelt. »Seit Weihnachten schreibt sie nicht mehr. Was ist los?«

»Später«, sagte sie.

Es herrschte sommerliche Wärme und dabei klare Sicht, er kam aus dem Norden und war entzückt. Er entdeckte, daß die Umrisse der Berge, diese maßvollen, klaren Formen, messerscharf aus dem Horizont geschnitten schienen, und was wie Schnee auf ihrem Gestein lag, das reinste Licht war, das der Himmel vergeben konnte. Vom übermannshohen Schilf am Straßenrand behauptete er, ›zu seiner Zeit‹ habe es nicht so schöne Federbüsche getragen, den Äckern stellte er das Zeugnis aus, sie seien sauberer als die Place de la Concorde, und obwohl Frau Pauline nicht daran zweifelte, beteuerte er zu wiederholten Malen, das Wort von der duftenden Provence sei keine poetische Übertreibung, sondern schlichte Wahrheit – nur wer den Benzingestank der Hauptstadt noch in der Nase habe, vermöge es zu würdigen. Ja, er war nun ein Mann geworden, ein junger Mann, ein Mensch in den Anfängen des Mannstums – nie wieder in seinem Leben würde er so sehr Mann sein! Seine Urteile klangen bestimmt und duldeten so wenig Widerspruch wie seine Erscheinung.

Beim Anblick des kleinen, hellblauen Autos vor der Villa Maria, das wie der adelige Sproß von Paulines Wagen aussah, rief er: »Was ist denn das? Der Renner der Witwe? Großartig! Endlich hat sie uns überflügelt.« Und während er der Mutter aus dem Wagen half, rechnete er nach, was der Wagen gekostet habe.

»Etwas mehr als die Zinsen von Sibylles Entschädigung. Den Rest mußte wohl Marius drauflegen. Und was bekam er dafür?«

»Den Kopf des Majors«, vermutete Pauline.

Im Zimmer der Mutter, mit dem Blick auf die Colline, die Ranasser Bucht und das Vorgebirge, sprachen sie am gleichen Abend über Sibylle, ›seine kleine Braut‹. Er saß auf der einen, sie auf der andern Seite des Tisches. Er spielte mit dem Bild des lachenden Majors, schob es bald hierhin, bald dorthin, stellte es auf die Kante und ließ es unter seinem Finger kreisen, bis Pauline es ihm aus der Hand nahm und auf ihrer Seite aufstellte. Da erst merkte er, mit wem er so umgesprungen war. Er entschuldigte sich, sie sahen den Major an, alle drei lachten sich zu, und Paul knüpfte daran die Frage, wie wohl das andre, das düstre Bild in der Villa Maria zustande gekommen sei. Pauline meinte, Juliette werde von ihm eine Aufnahme in Paradeuniform verlangt haben, ›nicht einmal, sondern zwanzigmal‹, und als sie ihn schließlich bis zum Künstler geschleppt habe (sie wohnten in einer kleinen Garnisonstadt des Südens), wäre sie nicht abzuhalten gewesen, mit den anspruchsvollen Manieren des Meisters zu wetteifern und die vom Opfer einzunehmende Haltung mitzubestimmen, wobei in ihren Augen zweifellos die Genugtuung geglänzt habe, mit ihrem Willen durchgedrungen zu sein.

»Oh! ich kann es mir ganz gut vorstellen«, sagte sie lachend. »Er war der unfeierlichste Mensch, er sah an allem die komische Seite. Um bei der Hinrichtung unter den Augen der Gattin ernst zu bleiben, muß er an schreckliche Dinge gedacht haben.«

Nach einer Pause rief der Junge leise:

»Wie kann er eine solche Frau geheiratet haben!«

Sie blickte aus dem Fenster, und als sie Paul das Gesicht wieder zuwandte, war es friedlich gesammelt. Der Ernst lag darauf wie ein durchsichtiger Goldflaum, ähnlich dem Abendlicht, das draußen das Land verschönte. Sie strich mit der Hand flüchtig über die Narbe auf ihrer Stirn.

»Das Mädchen hat viel von ihm, wenn es gut aufgelegt ist«, sprach sie zögernd, »und hätte er gelebt, es wäre sein Ebenbild geworden. Er beschäftigte sich viel mehr mit dem Kind als mit seiner Frau – er sprach wenig von Juliette Bosca, wohl aber viel und gern von Sibylle. Er trug ein Medaillon mit einem Bildchen von ihr auf der Brust. Er liebte sie zärtlich und wurde selbst zum kleinen Jungen, wenn er von ihr sprach. – Aber siehst du«, sagte sie auf einmal heftig, »das gerade wurde Sibylle zum Unheil. Die Mutter hatte nur den einen Gedanken, Sibylle sich zu eigen zu machen, sie gewissermaßen in ihre eigene Form hineinzupressen und danach umzugestalten – verstehst du, Paul? Damit von seinem Kind nichts übrigbleibe, damit er nichts andres lieben könne als wiederum nur eine kleine Juliette ... Die Frau besitzt einen so starken Willen! Sie ist töricht und eigensinnig und selbst ein ausgewachsenes Kind und, möglicherweise, auch etwas lasterhaft, ganz im geheimen, wie Kinder es sein können. Jedenfalls sah er sie so ... Und dann, sie muß ein schönes Mädchen gewesen sein ... und beunruhigend für ihn – ungebildet, ein Stück rohe Natur, das wird ihn, der ein zarter, vergeistigter Mensch war, gelockt haben, denke ich mir. Ich weiß, daß er aus ähnlichen Gründen zu den Kolonialtruppen ging...«

Ihre Augen ruhten auf dem Mann im Schlafanzug, der die Sonne anlachte, die Sonne und zugleich, als ihr menschliches Bild, eine Frau, die man auf dem Bild nicht sehn konnte, weil sie ja vor ihm stand, den Apparat in den Händen, und abwechselnd in den Sucher blickte und in seine strahlenden Augen, diesen atmenden, geschmeidigen, lebendigen Spiegel seiner Lebenslust...

Langsam stieg ein Lächeln in ihre Züge.

»Schade um Sibylle!« sagte sie. »Du solltest sie nicht im Stich lassen, Paul. Ich verlöre dabei ebenso viel wie sie.«

»Ich weiß, Mutter«, erwiderte er halblaut.

Sie waren noch nie so vertraut gewesen. Beide empfanden es mit heißer Freude und mit Bangen ...

Zur gleichen Zeit lag Sibylle im Nebenhaus auf der Veranda, das Gesicht in den Kissen des Liegestuhles, sie wußte, welches Gespräch in diesem Augenblick zwischen Pauline und ihrem Sohn stattfand. Von seinem Ergebnis hing es ab, ob sie Paul wiedersehn sollte oder nicht. Wenn die Unterredung günstig verlief, so war es zwischen den Frauen abgemacht, würde Pauline in den Garten treten und singen, irgend etwas, ganz gleich was ... Dies aber – dies würde sie hören, und wenn sie einen Meter tief unter der Erde läge! Und alles andre wollte sie nicht hören.

Über ihr in der Höhe zog ein Flugzeuggeschwader dem Meere zu. Sein Brausen erfüllte die Finsternis, in der sie sich verschanzt hielt. Sie dachte, wie nichtig ihre Ängste und ihre Liebe seien im Vergleich mit dem, was allein auf Erden zähle, weil es über Leben und Tod von Hunderttausenden gebot und Gesetzen unterstand, die um so erschreckender waren, als sie ihr eigenes Begriffsvermögen überstiegen. Sie fragte sich, ob diese Flieger, die sich übten, Tod und Verwüstung auszustreuen, fühlten und liebten wie sie und um ihr Glück zitterten, das doch ganz und gar irdisch war, klein und verborgen, nicht unähnlich dem eines Wurmes – und so verletzlich ...

Die Menschen, stellte sie für sich fest, die ihrem Leben nachgingen, als habe es einen höheren Wert als den eines bloßen Zufalls, als sei es ihnen von Gott geschenkt, um es nach dem Gesetz der Liebe zu erfüllen, sahen sich gräßlich betrogen. Alle ohne Unterschied waren wie die Bevölkerung eines Kriegshafens, über den sich unversehens Feuer und Schwefel ergießen konnten. Auch ohne Krieg und zerstörende Naturereignisse schwankte jedem einzelnen täglich der Boden unter den Füßen, und einmal öffnete er sich für jeden und begrub ihn für immer und so lang hörte die Bedrohung nicht auf. Wo du dich hinwendest, überall stößt du auf das höhnische Grinsen des Räubers, der dir mit vorgehaltener Pistole den Weg vertritt... Angst, Angst, ein Leben lang Angst – und warum? Die Menschheit war ein Gewürm, und über ihm schwang der Teufel den Dreizack.

Mutter und Sohn Tavin wollten ernstlich nicht an den Teufel glauben, aber Sibylle wußte es besser. Sie hatte ihn mehr als einmal leibhaftig gesehn, sie spürte ihn sogar im Rücken, und dies um so deutlicher, je näher etwas Gutes heranzurücken drohte – ja, das Gute rückte immer Hand in Hand mit dem Bösen heran. Konnte es da vertrauenswürdig sein? Schob der Böse es nicht nur als Lockung vor, um es im letzten Augenblick niederzuschlagen zugleich mit dem, der die Hand danach ausstreckte? Mußte sie nicht unter der unfaßlichen Drohung eines Vaters aufwachsen, der als Popanz an der Wand des Salons hing? Und dann, als sie längst erwachsen war und mit Ketten behangen, die angeblich im Bund mit jenem Vater geschmiedet worden waren, dann erst stellte sich der Irrtum heraus: ihr Vater hatte strahlende Augen! Er konnte lachen! Er war gut und gerade! Wenn er zu andern von ihr sprach, feuchteten sich seine Augen und schimmerten vor Zärtlichkeit! Er wollte nicht sterben! Er wollte kein Heiliger sein!... Er wollte leben und lieben – und sündigen, wenn es sein mußte, ja, auch das! Darum hatte man sie betrogen, und jetzt war es zu spät, sich um die lachende Vatergestalt zu ranken und in der Sonne zu wachsen, die er mit seinen Augen verbreiten konnte ... Sie hatte auf dem weißen Stein gesessen, um Paul vorübergehn zu sehn und auch, um sich ihm zu zeigen – ein ganzes Jahr. Es war ein großer Entschluß gewesen, vorher hatte sie ihn nur aus dem Hinterhalt belauert. Sie dachte, er werde niemals ihre Liebe erwidern – sie spuckte ja Blut. So sollte er wenigstens erfahren, daß sie ihn liebte: »wie der Himmel vom Meer geliebt wird«, sagte sie sich damals vor. Doch ohne es zu ahnen, befand sie sich schon auf dem Weg der Genesung. Da kam der Unfall... Der Unfall führte sie zusammen, tausend Menschen brachen ein Glied und wurden wieder wie vorher. Da weigerte sich die Mutter, einen Chirurgen zu Rate zu ziehen. Und nun blieb sie ein Krüppel fürs Leben!

Aber selbst dann (welch langer, zäher Kampf gegen den Dreizack!), selbst dann erwies sich die Liebe als mächtig genug, die Hölle zu beugen, und Paul wurde ihr gut und vertraut wie ihr eigenes Gesicht. Und wiederum hielt der Teufel in einem kleinen, gelben Haus, dem sie es gleich ansah, ein gutgewachsenes Geschöpf bereit, das sich nur zu zeigen brauchte, um alles wieder zum Bösen zu wenden ... Wozu dies alles, wenn nicht ein Gott war, der die Geduld der Menschen prüfte und die Leichtsinnigen von den Schwermütigen schied, die Flatterhaften von jenen, die ihr Herz ungeteilt bewahrten, wozu, wenn es nicht etwas andres gab, eine Welt im Herzen der Gerechtigkeit, wo die vielen, die so entsetzlich nach Glück hungerten, endlich gespeist und in ihrer großen Unruhe befriedigt würden?... Wozu?... Wozu?... Sie wiederholte die Frage so oft, so beschwörend, sie führte Beispiel um Beispiel an für den erbärmlichen Mangel dieser Welt, sie öffnete sich weit und zeigte ihre Bereitschaft zum Glück, bis die Frage unversehens zur Antwort wurde und die Gewißheit in einer Flut von Licht über sie kam. Und die kleine Braut, bäuchlings ausgestreckt auf dem Stuhl ihrer Qual, das Gesicht in den Kissen vergraben, drückte die gefalteten Hände unter sich gegen das Herz und begann inbrünstig zu beten. Der Lärm der Flugzeuge verzog sich. Der Garten kehrte mit seinen Vogelstimmen in den lichten Tag zurück.

»Sieh mal, Junge«, sprach Frau Pauline, »du schreibst mir: ›Was macht meine kleine Braut?‹, Marianne aber, die offenkundig ihre Stelle vertritt, bleibt unerwähnt – bis zu diesem Augenblick. Du wirst mir nicht verargen, wenn ich daraus meine Schlüsse ziehe.«

Es komme auf die Schlüsse an, sagte Paul... Sollte er sich in seinem ersten Semester mit einem Mädchen verbinden und ihm zehn Jahre lang blind die Treue halten? Früher war das wohl vorgekommen, wenigstens sofern man gewissen vergilbten Schmökern Glauben schenkte. Solche eisernen Verlobungen gehörten ins Altertumsmuseum, zu den Sänften, turmhohen Frisuren, Postkutschen und culs de Paris. Selbst ein Notar Burguburu würde es komisch finden, wenn ein junger Mann sonntagsvormittags mit einem Blumenstrauß anträte, um der Tochter unter den elterlichen Augen ehrbar den Hof zu machen. Und dies zehn Jahre lang! Er war im Auto groß geworden, unter Mädchen, die neben ihm auf der Schulbank saßen und genau soviel, wenn nicht mehr, von Liebesdingen wußten wie die Jungen.

Sibylle war seine erste Liebe, er hoffte, sie werde auch seine letzte sein. Wenn er sie seine kleine Braut nannte, so wollte er damit sagen, daß er sich niemand lieber als seine zukünftige Frau vorstellte. Er betonte dies auch anderen Frauen gegenüber auf die Gefahr hin, sie in ihren Empfindungen zu kränken, er legte Wert darauf, niemand über sich und seine Absichten zu täuschen – nicht einmal in Gedanken. Er gab sich Mühe, ein anständiger Kerl zu sein. Die kleine Braut war die einzige von seinen Vertrauten, die dies Wort niemals aus seinem Munde gehört hatte. Sie hatten sich ein einziges Mal geküßt, beim Baden, draußen im Meer, wo ihnen allein schon das Element, in dem sie sich befanden, die gebotene Zurückhaltung auferlegte. Er hatte es aber nicht als unverbindliche Spielerei aufgefaßt, obwohl sie damals noch Kinder waren.

Hier erlaubte [sich] Pauline darauf hinzuweisen, daß der Zustand der Kindheit immerhin erst um Monate zurücklag. In seinem Alter, versetzte er, konnten Monate so viel zählen wie Jahre. Er bestritt nicht, daß in der Folge Ereignisse eintraten, die nicht ohne Rückwirkung auf seine Beziehungen zu Sibylle blieben. Er war närrisch verliebt gewesen, und dann, dann erst lernte er die Frau kennen, und unwillkürlich begann er, auch in Sibylle die Frau zu sehn statt des verliebten Mädchens. Er glaubte sie dementsprechend schonen zu müssen – indem er ihr gewissermaßen die Zukunft einräumte, in der Gegenwart aber sich von ihr zurückzog, wohlverstanden nur, soweit es sich um Liebe handelte. Er wollte sie in keiner Hinsicht im Stich lassen, andrerseits konnte er nicht Vorstellungen bei ihr nähren, die weder seinem Gefühl noch seinen Absichten für die Gegenwart und die nächste Zukunft entsprachen.

»Ich verstehe«, bemerkte Frau Pauline, »du willst den Bären waschen und ihm den Pelz nicht naß machen.«

»Ja!« bekannte er. »Genau das will ich.«

Er hatte gefunden, die Haupttätigkeit der Menschen bestehe in solcher Bärenwäsche. Die Weltgeschichte zeigte, wie schlecht die Versuche ausgingen, den Bären einmal gründlich zu waschen. Es war jedesmal eine Katastrophe, und meist kostete sie nicht nur dem Bären das Leben. »Paul, ich sehe wieder, was für ein kluges Mädchen Sibylle ist«, erklärte darauf die Mutter. »Sie bewundert deine Weisheit, die du in so kurzer Zeit erworben hast, aber sie behauptet, das sei eine Weisheit, die das eine Mal als Maske, das andre Mal als Schild und Waffe, das dritte Mal als Mimikry diene, um sich hinter der Weltgeschichte zu verstecken. Sie bewundert deine Weisheit und beargwöhnt die praktische Anwendung, die du von ihr machst. Deine Briefe an sie müssen richtige Vorlesungen gewesen sein – und keineswegs medizinische.«

Paul erwiderte, Sibylle sei gewiß eine sehr kluge Frau, und es könnte ihm nur recht sein, wenn sie ihn durchschaue. Dann solle sie aber gefälligst auch gleich bis auf den Grund blicken.

»Wo«, ergänzte sie, »das freundliche Immergrün deiner Reservat- und Zukunftsliebe zu sehn ist.«

Paul runzelte die Stirn und gab keine Antwort.

»Du denkst jetzt«, sagte sie, »ich lasse es an etwas fehlen, wovon Sibylle zu viel hat, nämlich an Ernst. Und es ist auch wirklich nicht möglich, Paul, daß du so zu ihr sprichst. Du würdest sie zur Verzweiflung bringen... Wenn du erlaubst, versuchen wir beide es einmal anders. Wo ist Marianne?«

Ohne die Augen von der Ranasser Bucht und dem Vorgebirge wegzunehmen, antwortete er: »In Paris ... Ich bin gekommen, um die Osterferien mit Sibylle zu verbringen.«

»Gut, mein Junge. Vierzehn Tage scheinen dir also genügend, um Sibylle so über dich aufzuklären, daß es zehn Jahre vorhält... Mir scheint, Sibylle ist etwas fremd geworden. Darf ich dir einiges von ihr erzählen. Es kann zur Auffrischung ihres Bildes dienen.«

»Mutter, sag mir bitte erst, warum du sie von hier hast weggehn lassen.«

»Einverstanden! Fangen wir damit an ...«

Die Stille! Die Stille im Haus Rosmarin war es gewesen, die Sibylle verjagt hatte! Oder vielmehr die Folgen der Stille ... Sie behauptete zwar, die Stille zu lieben, und beklagte sich nur über deren Rückschläge in Form von lärmenden Angstträumen, die sie heimsuchten. In Wirklichkeit fehlte ihr, wie sich bald herausstellte, die Unruhe des mütterlichen Hauses. Eine Zeitlang war sie nachts in Paulines Arbeitszimmer geschlichen und hatte heimlich den lachenden Vater an ihr Bett geholt. Aber dann war regelmäßig im Traum der Major von der Wand des Salons herabgestiegen und hatte ihr übel mitgespielt. Aus Eifersucht, betonte Sibylle, die sich bemühte, die Sache von der komischen Seite zu nehmen, aus Eifersucht, weil sie an der Seite Paulines leben durfte. So wurde ihr, was sie tagsüber vermißte, nachts im Übermaß zuteil: Lärm und Bewegung, die Wechselfälle des Familienfischerstechens, bei dem die Bosheit der Lanzenträger nach der empfindlichsten Stelle des andern zielte und der Sieger, vom eigenen Stoße hingerissen, oft genug eine Sekunde nach dem Getroffenen ebenfalls ins Wasser purzelte – der ständige Feldzug der Mutter gegen die Tochter, der Ehegatten widereinander, der Ehegatten gegen die übrige Welt. Gebet und sorgsames Überwachen der Gedanken beim Einschlafen halfen wenig, die verlassene Familie nahm Rache und holte nachts den gewohnten Mitspieler zurück. Sibylle sah sich schlafend in die Villa Maria überführt und ins Handgemenge geworfen.

Vielleicht war dies auf die Dauer ermüdender als der frühere Zustand, da sie in der Übung von Abwehr und Angriff bewußter zu leben, ja eine Aufgabe zu erfüllen meinte und schlimmstenfalls (letzte Zuflucht der Schwachen) die Genugtuung genießen konnte, schuldlos zu leiden. Sie fand keinen Widerstand im Haus Rosmarin, sie konnte weder besonders gütig, noch besonders böse sein, weder brennend glücklich, noch brennend unglücklich, es herrschte jene Lauheit, von der es hieß, Gott speie sie aus seinem Munde aus – ein Wort, das Sibylle einmal in heiligem Zorn über Pauls Briefe seiner Mutter ins Gesicht geschleudert hatte.

Frau Pauline versicherte, nach ihrer festen Überzeugung sei Sibylle tagelang von Heimweh nach ihrer ›Hölle‹ geplagt worden.

»Siehst du«, bemerkte Paul, »es ist die alte Sache. Sie will unglücklich sein.«

»Warte«, sagte die Mutter ...

Darüber also war es Weihnachten geworden. Sibylle hatte Paul seinem Versprechen zufolge spätestens am ersten Feiertag erwartet. Als das Telegramm mit der Absage eintraf, packte sie das wenige, das ihr gehörte, und verließ Haus Rosmarin.

Zur Begründung ihres Schrittes äußerte sie zweierlei. Paul, sagte sie einmal, halte sie, seitdem sie bei seiner Mutter wohne, für versorgt und sich selbst für frei und aller Sorge um sie ledig, das andre Mal behauptete sie, ihre Gegenwart versperre ihm das Haus, weil er sie ernstlich nicht wiedersehn wolle. Im einen Falle schloß sie demnach auf Leichtsinn, im anderen Falle auf bösen Willen.

Von diesen zwei Ansichten ging Frau Pauline nunmehr aus, um Paul die Zwiespältigkeit von Sibylles Erwartungen klarzumachen. Einesteils kehrte Sibylle in die Hölle zurück mit dem ausdrücklichen Willen, sich nur von ihm und für ihn daraus befreien zu lassen, und dies, meinte Pauline, käme doch wohl einem Eheversprechen gleich. Andrerseits wollte sie ihn lieber unter den früheren Umständen sehn als gar nicht und war bereit, die damit verknüpften häuslichen Mühen und Beleidigungen in Kauf zu nehmen. Das letzte hielt Frau Pauline für den Beweis, daß Sibylle ihm ihre Liebe unter allen Umständen zu erhalten wünschte, in der Hoffnung, ihn endlich doch für sich zu gewinnen.

Paul, der die Freundin ebenfalls nicht verlieren wollte, gab der letzten Deutung den Vorzug, er sagte, sie leuchte ihm ohne weiteres ein. Sibylle gewissermaßen zu rauben und als seine Braut unter die Obhut Frau Paulines zu stellen, erklärte er sich außerstande.

Tatsächlich befürchtete Sibylle (was Frau Pauline aus Takt verschwieg), Paul sei nur gekommen, um mit ihr zu brechen – in dem kleinen, gelben Haus säße das Geschöpf mit den strammen Schenkeln und lauere auf die Entscheidung, die er schriftlich nicht habe herbeiführen können, weil seine letzten Briefe unbeantwortet geblieben seien. Hatte sie nicht gerade deshalb nicht mehr geantwortet, weil die Fortsetzung des Briefwechsels ihrer Meinung nach unweigerlich zu einem Bruch führen mußte?

Frau Pauline sah keinen andern Weg, Sibylle zu helfen, als den, auf den sie ihren Sohn jetzt führte. Er bedeutete ein doppeltes Wagnis, seitdem für sie feststand, daß Marianne Pauls Geliebte war. Aber nach monatelangen Erwägungen erschien er ihr als der einzig mögliche.

»Paul, was auch aus eurer Beziehung werden mag«, sagte sie, »vergiß nicht, daß eine Sibylle ein Geschenk des Himmels ist für jeden, der sich nicht mit der fleischgewordenen Alltäglichkeit begnügt... Es ist Sturm in ihr und auch Stille, der Mistral und jener Hauch, den wir Wiegenwind nennen. Ich habe dir die Frage, warum sie von hier wegging, wahrheitsgemäß beantwortet, ich habe nichts beschönigt. Aber was das Herz betrifft, ist die kleine Braut eine Riesin, vergiß es nicht. Danke dem Himmel, daß es eine solche Gestalt war, die als erste die Liebe in dir weckte ... Wie kläglich beginnt für die meisten der Weg der Liebe! Frage deine Kameraden ... Frage die Greise. Wem ist die Liebe, die große, die unbedingte Liebe, die Liebe als sechstes Element, begegnet, und welchem Glücklichen mehr als einmal im Leben!«

Als sie gewahr wurde, daß Paul trotz Anzeichen von Ergriffenheit dem Ansturm ihrer Schilderung mit verlegenem Lächeln standhielt, ging sie, aus unklaren Gründen selbst verlegen geworden, dazu über, von Sibylles Leben im Haus Rosmarin zu erzählen. Wie das Mädchen nachts den Kater Marius als Tröster empfing und halblaute Gespräche mit ihm führte und ihn morgens zur Frühstücksstunde als Spion in die Villa Maria schickte, weil hier im Haus so gar nichts Dramatisches geschah. Wie dies Ansinnen dem männlichen Charakter des Katers offenbar zuwiderging und er sich zwar stellte, als gehorche er, aber stets ohne Nachrichten zurückkam und ärgerlich zu schnurren begann, sobald Sibylle ihm Vorhaltungen machte. Schließlich entschuldigte sie ihn damit, daß auch er schon an die Stille gewöhnt sei. »Ach! Frau Pauline, bei Ihnen ist es so friedlich, daß ich manchmal meine, wir alle hier seien Luftspiegelungen...« Aber Frau Pauline zeigte auch, wie die Kleine im Garten eine Blüte zu sich herüberbog und ihr ins Gesicht schaute, um sie dann sorgsam wieder in ihre frühere Lage zurückzubringen.

Abends am Kamin pflegte Sibylle ihre Gedanken in Geschichten zu verwandeln. Die traurigen blieben gewöhnlich ohne Schluß. Im Augenblick, da die entscheidende Wendung eintreten sollte, brachen sie ab. Die heiteren wurden ausnahmslos zu Ende geführt. Da trafen sich zum Beispiel auf dem Rundweg die beiden Majore, der aus der Villa Maria und der andere aus dem Haus Rosmarin. Sie gingen mit neugierig musternden Blicken aneinander vorüber, zweimal, dreimal, der eine steif und düster, die Hand am Säbel, seine Brust wölbte sich, als trüge er ein Felsstück unter dem Rock, und wenn er sich vorbeugte, um dem andern Major ins Gesicht zu sehn, wippte das Kreuz der Ehrenlegion am roten Band – während der andre lautlos lachend, als wüßte er schon Bescheid, leichten und lockeren Ganges vorbeischritt. Er trug einen hellen Strandanzug und blinzelte dem Doppelgänger einladend aus einem Auge zu. Bei der vierten Runde stellten sie sich vor und wechselten Ausrufe wie: »Bist du's? Bist du's nicht? Ja, bist du's denn richtig? Zeig mal, hast du dir den Schnurrbart nicht angeklebt?... Na, und mach mal den Mund auf, da links unten muß doch eine Plombe sein – gut, gut, da ist sie!« Arm in Arm setzten sie ihren Weg fort. Auf einmal, sie kamen in munterem Gespräch daher, stutzten sie, machten halt und krochen dann flugs wie zwei Schulbuben, kichernd und mit eingezogenem Hals, ins Gebüsch, um sich dort ungestört weiter auszusprechen. Am Fenster der Villa Maria hatte sich das Goldhaupt der Witwe gezeigt...

Und als Juliette am Abend ihren Major aus dem Versteck hervorholen wollte, war er weg. Sie beschuldigte Marius, ihn gestohlen zu haben, und die beiden überschütteten sich mit vertraulichen Kennzeichnungen ihrer Eigenschaften. Aber auch Frau Pauline sah ihren Major nicht wieder. Die Herren hatten sich zusammengetan, um mit vereinten Kräften ein neues Leben zu beginnen, und der erste Schritt, den sie in der Richtung unternahmen, war, daß sie, ein Leib und eine Seele, mit der tugendhaftesten Frau von Ranas, Madelon Plaisir, der Gattin des Posthalters, durchbrannten... Die Ehe Burguburu wurde glücklich... Frau Pauline heiratete einen Mann, der ihrem Sohn aufs Haar ähnlich sah, nur war das Haar mit einigen grauen Fäden durchzogen, und sein Mund konnte weder lügen noch weise Reden halten. Ferner hatte der Mann eine Abneigung gegen Frauen, die mit strammen Schenkeln in wehenden Gewändern herumliefen und, indes ihr Haar wie ein Drahtgeflecht von ihrem Kopf abstand, minderjährige Mediziner verführten – »Frauen, die die Mütter der armen Jungens sein könnten«, schloß ingrimmig Sibylle ... Ein andermal endete die Geschichte so, daß die beiden Majore sich aufmachten, um einen gewissen jungen Mann, der in Paris seine Freundin mit einer Zigeunerin betrog, die falsche Weisheit auszutreiben. Und zuletzt töteten sie sich gegenseitig im Duell, um endlich ein Mißverständnis aus der Welt zu schaffen...

»Also, mein Junge!« sagte Frau Pauline. »An deiner Stelle würde ich Marianne für vierzehn Tage in den Kleiderschrank stecken – ich meine, in Gedanken. Wie ich sie kenne, wird sie darin nicht umkommen. Und dann sei vergnügt! Und sorge dafür, daß Sibylle es auch ist. Du weißt gar nicht, wie lustig sie sein kann. Und dein männlich ernster Ausdruck, verbunden mit Heiterkeit der Seele, kann Wunder wirken – versuch's mal! Sie hat dich ja noch gar nicht als Mann gesehn. Sie weiß überhaupt nicht, was ein Mann ist – es sei denn, du hieltest den Notar dafür. Sie selbst tut dies wohl nur mit Einschränkung... Wie dein Lächeln so unerwartet aus der Finsternis des Mannstums bricht, das wird sie blenden, sage ich dir. Und paß auf, daß sie nicht zu sehr erschrickt, wenn sie sieht, wie dieses Lächeln die Strenge deiner Haltung bricht. So bricht die Hand der Fee den stärksten Baum – man würde es nicht für möglich halten, wenn der Baum nicht tatsächlich entzwei wäre! Es muß erschreckend süß für ein Mädchen sein, so etwas mit eigenen Augen zu erleben. Natürlich sollst du ihr Zeit lassen, ihre Augen an das Helldunkel zu gewöhnen, das dich umgibt, seitdem dir die gewaltige Macht des Mannes über die Schöpfung aufgegangen ist.«

Vielleicht war Paul in diesem Augenblick mehr in seine Mutter verliebt als in Sibylle, aber da sie von Sibylle erzählte, gewissermaßen als Sibylle auftrat, übertrug sich sein Gefühl unmerklich auf die kleine Braut. Es gelang Frau Pauline, den jungen Mann mit Haut und Haaren aus seiner Zurückhaltung hervorzulocken, genau so, wie sie ihn als Kind aus dem Brunnen tiefster Betrübnis herauszog, indem sie ihm eine ›afrikanische Geschichte‹ erzählte. Das waren Geschichten, die mit Afrika nichts andres gemein hatten, als daß die rosige Mutter zum Neger ernannt wurde und sich als solcher mit düsterer Miene auf das Sofa niederließ und, immer finstrer werdend, die komischsten Redensarten führte. Man nahm an, Neger könnten nicht lachen, dazu seien sie viel zu unglücklich über ihre Schwärze, wohingegen der weiße Zuhörer sich schüttelte vor Lachen, bis ihm der Atem ausging. Damit der arme Neger schließlich auch lachte, durfte man ihn nachher im Nacken kitzeln, worauf er sich prompt in die Mutter zurückverwandelte. Die Erinnerung an das kindliche Vergnügen brachte Paul um den Rest seines Ernstes, der Ritter und Kreuzfahrer begann mit den Beinen zu strampeln. Er bog sich vor Lachen, er krähte, schlug sich auf die Schenkel wie die Kerntruppe der Ranasser im Café de la Marine, wenn der Chorführer eine verfängliche Frage an das Volk richtete, er warf die Arme und flehte um Gnade, und dann sprang er auf, und statt Frau Pauline im Nacken zu kitzeln, schloß er sie in die Arme.

Durch das Fenster kam, in Flut und Ebbe, der Duft von Mimose und Mispel. So sanft war das Abendlicht, daß es selbst das Rasseln der Autobusse und der Motorräder auf der Straße zu dämpfen schien. Die Flugzeuge kehrten zurück, in großer Höhe tauchten sie über dem Vorgebirge auf, bald als glänzende Punkte, bald als Striche, und zogen surrend über die Bucht.

Wie ein Raubvogel, der eine Beute erspäht, beschrieben sie auf einmal einen Kreis und noch einen, aber mit jedem stiegen sie höher, verschwanden völlig und zeigten sich sekundenlang wieder, und dann glitt eine Zerstörerflottille in die Bucht und blieb reglos stehn, wie eingegossen in die graublaue Dämmerung, mit kleinen Lichtern gespickt. Hoch oben, wo die Flugzeuge kreisten, leuchtete noch in rosiger Bläue der Himmel. Frau Pauline eilte die Treppe hinunter.

Sie trat auf die Terrasse, und schallend klang es durch den Garten:

»Ihr, die ihr Triebe des Herzens kennt...«

Paul lehnte sich oben aus dem Fenster und stimmte ein:

»Sagt, ist es Liebe ...« »Die so brennt«, rief, halb klagend, halb jubelnd, eine dritte Stimme von der Veranda des Nachbarhauses...

Gleich danach verabredeten Paul und Sibylle eine Fahrt durch den ›Garten‹ und tief hinein in das ›Land der Freunde‹. Als sie zu ihm einstieg, sagte sie nur:

»Herrlich, daß du gekommen bist, Paul! Wie lange bleibst du?«

Er küßte ihr beide Hände.

»Vierzehn Tage. Sie gehören dir, Sibylle.«

»Lieber Gott! Du hast ja einen Schnurrbart«, stellte sie fest und strich sich über die Hände. »Darf ich ihn gelegentlich als Nagelbürste benutzen? Und – kannst du mir versprechen, diese vierzehn Tage nicht weise zu sein?«

Er versprach's und hätte auf Verlangen noch mehr versprochen, so wohlig hüllte ihn bei der ersten Berührung jenes Unnennbare ein, was wie der Atem ihres Wesens war und, ob es sich gleich der grobsinnlichen Wahrnehmung entzog, eine alle Sinne beschäftigende Anziehung ausübte. Das bißchen Veilchenduft diente nur dazu, den zarten, brenzlichen Geruch ihrer Haut zu versüßen, und beides zusammen beschwor einen Frühlingsmorgen mit der Frische des jungen Grases, dem blauen Rauch der Kamine und der Klarheit der Luft, in der jede Stimme trägt, als riefe sie über das Wasser. Und das Herz sagt dir, so ähnlich müsse es gewesen sein, so viel nachhallende Angst, so viel Jubel, als die Wasser der Sintflut zurückgingen und der erste der Überlebenden, der in das Land hineinging, sich umdrehte und zu den andern zurückrief ... Ganz gleich, was er sagte, die Stimme allein war das Wunder der Erneuerung.

»Du schmeckst so gut, Sibylle«, sagte Paul leise ...

Es war gleich wieder wie früher, wie ganz zu Anfang, als sie einander, um sich kennenzulernen, aus ihren Verstecken trieben und sich in allerhand tiefsinnigem Unsinn versuchten. Die Vogelscheuchenfamilie auf der Straßenböschung bekam eine Nase gedreht. Bei der abschüssigen Stelle, wo es zum Badestrand ging, fragte sie, ob es nicht an der Zeit sei, daß er seine Laufbahn als Wassermörder wieder aufnehme, was er, stark bremsend, mit dem Vorschlag beantwortete, unverzüglich miteinander ins Wasser zu steigen.

»Splitternackt?« fragte sie.

Er gab zu bedenken, daß sie über zwei Taschentücher verfügten. Wie die Tücher befestigen? Mit dem Abschleppseil natürlich.

Es genügte ihr nicht, es war nicht fest genug. »Du bist verwöhnt«, bemerkte Paul. Gleichzeitig schleuderte Sibylle gegen den Leuchtturm der Schildkröteninsel den Vorwurf, er sei alt geworden, er brauche doppelt so lang, um das Auge aufzuschlagen, und dann bringe er es gar nicht mehr zu.

Die Gassen von Cantal boten Sibylle die erste Gelegenheit, ihren Freund bei Licht zu betrachten.

»Aber Paul«, rief sie, »du hast dich ja als Gentleman verkleidet! Gilt das mir oder –«

»Meinem Alter«, sagte Paul, etwas verdrießlich – was zur Folge hatte, daß ›Wir zwei Alten‹ jenseits der Cantaler Höhe die Versicherung erhielten, so jung wie heute sei man überhaupt noch nicht gewesen. Das Mädchen erhob sich vom Sitz und rief es ihnen im Augenblick zu, da der Scheinwerfer die beiden Bäume der Dunkelheit entriß. Ebenso jäh stürzten sie in die Finsternis zurück, und Sibylle sagte befriedigt:

»Hast du gesehn, wie sie erschrocken sind, die Alten? Darauf waren sie nicht gefaßt, wahrscheinlich schliefen sie und träumten von Weisheit und andern dicken Suppen.«

Es wurde Nacht. Sie verfielen in Schweigen. Vor Cassis machten sie kehrt – die ›Krone Karls des Großen‹ ragte mit bleichem Schimmer in den Sternenhimmel.

Auf dem Heimweg entboten sie diesem und jenem von Paulines Freunden in den einsam gelegenen Häusern einen Gutenachtgruß, es führte sie kreuz und quer über die Felder. Die Leute waren entweder schon zu Bett gegangen oder im Begriff, es zu tun, aber alle, Männer wie Frauen, zeigten sich eifrig bereit, die jungen Leute zu bewirten. Das Paar dankte lachend, ihm war es genug, einen Zeugen seiner Eintracht aus der Stille der Nacht aufgerufen zu haben.

Als der kleine Wagen unter den Bäumen des Parks Stellamare hielt, wo er die Nacht zu verbringen pflegte, schlug die Kirchenuhr von Ranas zwölf.

»Glaubst du an Geister?« fragte Sibylle.

»Nein«, erwiderte er streng.

»Aber ich«, sagte sie, nicht weniger bestimmt.

Er mußte mit ihr auf dem Rundweg spazierengehn, bis die Geisterstunde vorbei war. Sie schritten sehr langsam. Sie fühlte nicht, daß sie hinkte. Sie glaubte es nicht. »Hinke ich?« fragte sie ihn.

»Keine Spur«, erwiderte er. »Oder es hinken auch die Sterne. Sieh nur!« Er zeigte in den Himmel.

Ja, die Sterne zwischen den Pinien blinzelten, und doch strahlten sie ohne Makel und waren große Sonnen.

Tags darauf entdeckten sie den verwunschenen Wald.


 << zurück weiter >>