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Im Café de la Marine setzte Louis den Ranassern auseinander, warum nach seiner Meinung die Ehe der Frau Marius Burguburu, geborenen Witwe Bosca, bedenklich zu schlingern beginne:
»Ihr Alter reist öfter über Land und kommt mit einem Schwips nach Hause – er, der mäßigste Mann der mäßigen Provence! Wenn er wegfährt, ist er stumm und finster, bei der Heimfahrt aber erzählt er den Leuten tolle Geschichten vom König Heinrich IV.«
Das Volk, vom Chorführer befragt, urteilte verschieden.
Die einen riefen: »Sie schlaucht ihn, bis er so dünn wird wie ein Regenwurm«, andere: »Nein, es ist die Geschichte mit der Stieftochter, und außerdem hat er so strengen Dienst, daß er sein Geschäft vernachlässigt, die Kundschaft läuft weg.« Andere wiederum vermuteten, es sei ein Kind unterwegs, und die Witwe rappele wie eine alte Uhr, die man nach Jahrzehnten zum erstenmal aufziehe. Einer prophezeite sogar, sie werde demnächst der Unkeuschheit der Welt entsagen und endgültig den Witwenschleier nehmen – schon bereite sie ihre armen Kranken und Gebrechlichen wieder kräftig auf den Tod vor.
Schließlich einigten sie sich, daß die Unruhe des Ehepaares Burguburu von der Frühlingsahnung herrühre.
Die Jahreszeiten wechseln leise in der Nacht ... Doch diesmal kam der Frühling wie eine parfümierte Mänade daher.
Die Häuser bebten bis in die Grundmauern, die Ziegeldächer hoben und senkten sich wie Blasebälge, die Kamine, alle Röhren wurden zu Orgelpfeifen, und obwohl Fenster und Türen und sogar die Läden fest geschlossen waren, erfüllte der Duft des Mispelbaumes und der Mimosen die Zimmer. Am folgenden Sonntag kämpften die Bauern, die den Autofahrern blühende Mandelzweige anboten, sich Schiffbrüchigen gleich bis an die kurz anhaltenden Wagen durch und krochen schnell wieder hinter die Sträucher und in die Aushöhlungen der Böschung. Die schwarze Landstraße war hart und blank wie Stahl.
Und als der Mistral drei Tage getobt hatte und noch nicht aufhörte, wußte man, nun würde er wieder drei Tage so weitermachen, und als er sich auch am sechsten Tag nicht legte, wußte man, vor dem neunten gäbe es keine Ruhe.
Danach folgten Tage der Stille, in denen eine mächtige Sonne wieder aufrichtete, was der Mistral gebeugt hatte. Bisweilen meldete sich, wie leichte Reue, ein Wind, klein und arglos, ein Wind um eine Wiege. Dann lagen die Maisfelder, Äcker, Rebgärten, die frisch ergrünenden Weiden schlafbefangen, die Sonne hielt ihre Goldhände darüber, alle Kreatur bemühte sich, lautlos zu sein in ihrem Wandel. Still blickte der Himmel auf das reglose Meer, ein Ausdruck rührender Sorglosigkeit verklärte die Schöpfung. Und alle kleinen Gegenstände am Boden erinnerten an Spielzeug, das auf das Erwachen eines Kindes wartet.
Die Provence wurde wieder zum Land der Troubadoure. Überall lockten Singhöfe und Spielplätze, unter safttreibenden Bäumen oder sorgsam hingestellt zwischen Blumenbeete und streng bemessene Terrassen.
Das geringste Dorf erfreute sich eines Marktplatzes mit reihenweise ausgerichteten oder in scheinbarer Unordnung kunstvoll verteilten Platanen. Die Kugeln der Boulespieler rollten schillernd durch die Lichtkringel am Boden, die luftigen Kinderstuben der Bäume waren voll Lärm und Bewegung. Der Schatten von Ast und Blatt hob sich genau, wie mit Tusche gemalt, von der Erde ab. Zwischen den rollenden Kugeln hüpften und flatterten, etwas verwischt, die Schatten der Zeisige, Rotkehlchen und Amseln. Ihre Rufe schwammen klar in der durchsichtigen Luft.
Für einige Zeit war jeder Mann in der Provence, auch der älteste, ein Troubadour und jeder Marktplatz ein Liebeshof. Jedes Mädchen, gepflegt und mit hellen Augen, schritt wie eine Prinzessin. Obwohl es dort keine Bäume und keine Boulespieler gab, eröffnete sich auch der Hafenkai von Toulon als Singhof und Spielplatz. Seine Eigenart bestand in Wasserspielen und Begegnungen mit dem Morgenland. Aus der nahen und weiten Umgebung strömten die Troubadoure in die Stadt und sammelten sich auf dem Kai, wo sie zu wandelnden Zeigern von Sonnenuhren wurden. Als Troubadoure glichen sie den Eintagsfliegen, die lange im Dunkel leben, um wenige Stunden in der Sonne zu tanzen und dann zu sterben.
Selbst in Notaren und Katasterbeamten, in Geschäftsreisenden und schwer beweglichen Rentengenießern weckte der Frühling den Spieltrieb, die Lust am Abenteuer, eine Ahnung vom Wert scheinbar nichtsnutzigen Beginnens, das ein Körnchen von Gottes Allmacht und jener Freiheit enthält, der die Kunst ihr Dasein verdankt.
Freilich, der ehrenwerte Doktor Blanc hatte so unrecht nicht, wenn er auf der Terasse des Café de la Rade, eingekeilt zwischen Frau Tavin und Gesandten aus dem ›Land der Freunde‹, die Lage mit den Worten kennzeichnet: »Wir trinken unsern Tee auf einem Pulverfaß.« Denn, nicht wahr? – genau gesehn, war hier der erste Kriegshafen Frankreichs, innen und außen und meilenweit im Umkreis mit feuriger Drohung geladen. Aber auch der Doktor mußte Frau Pauline zustimmen, als sie erwiderte: »Lieber Doktor – die Pulverfässer sind heutzutage so umfänglich! Ich meine, es ist ziemlich gleich, wo man sitzt, falls sie losgehn. Wir hier befinden uns in einem sauberen, etwas überlaufenen Freiluftsalon, und so gewaltig scheint die Sonne herein, daß ich an den Gefechtsmasten der Kriegsschiffe die kleinen Blätter vermisse, wie wir sie überall unterwegs ihre Hände nach uns ausstrecken sahen ... Ich wundere mich, daß die im Boden versteckten Panzerkuppeln der Forts auf der andern Seite der Bucht nicht plötzlich verräterisch als blühende Rondelle dastehn.«
»Wer weiß, vielleicht hat die Festung ersten Ranges weiter draußen tatsächlich schon Knospen angesetzt«, meinte der Bildhauer Saint-Paul, und er schlug eine Fahrt durch die äußere Reede vor, um sich darüber Gewißheit zu verschaffen.
Der Hafen von Toulon besteht aus einer kleineren, geschützten und einer größeren, dem Meere zu offenen Reede, in der aber, außer bei Besuchen fremder Geschwader, selten einmal Schiffe ankern. Die Einfahrt in die große Reede bewacht ein Schlachtkreuzer. Auf der Nordseite der durch eine äußere und eine innere Mole geschützten Bucht liegt Toulon, südöstlich die Werftstadt La Seyne.
Mit Ausnahme des Wachtschiffes sind alle im Dienst befindlichen Einheiten im kleinen Hafen versammelt – auf der einen Seite die Torpedoboote und Zerstörer, auf der andern die Kreuzer und Schlachtschiffe. Man kann es nicht leugnen, die Schiffe haben die Schönheit aller in ihrer Zweckmäßigkeit vollkommenen Geschöpfe, eine fraglose, auf den ersten Blick überzeugende Schönheit, wie wir sie an Raubtieren und hauptsächlich an den großen Katzen mit Entzücken wahrnehmen – zumal wenn wir durch ein festes Gitter vom Gegenstand unsrer Bewunderung getrennt sind.
An rund dreihundert Tagen des Jahres ist der Hafen von Toulon eine strahlend blaue, aus einem großen auf einen kleineren Platz mündende Meerstraße, an deren Ende der Quai de Kronstadt in gelber Sonne leuchtet.
Die Häuser, hoch und schmal, stehn ausgerichtet wie zur Parade, sie sind in ihrer ersten Garnitur angetreten, auffallend sauber und fast alle in der gleichen gelben Farbe. Abends funkeln ihre kleinen Fenster wie die Knöpfe und Litzen einer Uniform.
Auf den Fliesen des Kais bewegen sich gemächlich Spaziergänger beiderlei Geschlechts, eine lebende Farbtafel der menschlichen Haut, eine Orgel der menschlichen Stimme. Die Farbtafel reicht vom Milchweiß des Nordländers bis zum verschwitzten Kohlschwarz des Senegalesen, die Stimmtafel vom kindlichen Singsang des Malaien bis zum harten Falsett des Tuaregs. Unmöglich können alle harmlos sein, doch verstößt das zweifellos vorhandene Gesindel niemals gegen den Anstand eines gemäßigten Müßigganges, der an Festlichkeit grenzt. Abgründig finstere Neger in der grünen Uniform der Kolonialtruppen stolzieren auf ihren Storchbeinen und passen auf, was sie grüßen dürfen. Unter den Marineoffizieren sieht man Gelehrtenköpfe von seltsam strenger Niedlichkeit und bei vielen die zugleich klaren und verträumten Gesichtszüge des Mathematikers – vermutlich sind dies Ingenieure oder Lehrer der Marineschule. Fast alle haben kleine, untersetzte Gestalten. Daneben wirken die Neger wie wandelnde Riesenbäume des Urwalds. Die Neger grüßen ehrerbietig, aber man könnte ihre Vorgesetzten dutzendweise an ihnen aufhängen.
Die Straßenhändler scheinen eher an der Sonne zu träumen als einem bestimmten Geschäfte nachzugehn, ganz gleich, ob sie wirklich nur mechanisches Spielzeug über die Steinplatten laufen lassen und algerische Teppiche feilbieten, oder ob sie außerdem mit Rauschgiften handeln.
Von Zeit zu Zeit stürzt eine dunkelblaue Schar Urlauber aus den Barkassen wie Jungen aus dem Schulhof. Sie tragen die beste Uniform, engen Sweater, breite Hose, eine Tellermütze mit weißem Querstreifen und rotem Puschel, die Mütze sitzt möglichst keck, sie haben Knabengesichter und ähneln ihren Müttern, wie diese als Mädchen oder junge Frauen aussahen. Eigentümlich ist ihnen nur die Neigung des Männchens zu Gewalttätigkeit und Laster, die unverhohlen in ihren zu weichen Zügen geschrieben steht.
Am Kai entlang ziehen sich die Bars und Kaffeehäuser, die Schaufenster der Geschäfte, worin Seefahrer sich mit allem Nötigen versehn. Es gibt da hunderterlei ›Andenken an Toulon‹, feststehende Messer und Mundharmonikas, Koffer und Seekisten, Mauserpistolen, die neuesten Erscheinungen auf dem Büchermarkt für die Herren Offiziere und dann Bilder, ein- oder mehrfarbig, von freundlichen Mädchen. Ihr Lächeln verrät die Anstrengungen ihres Berufs, das einzig Frische an ihnen ist die Leibwäsche, und die gehört den Photographen, der sie nur für die Dauer der Sitzung ausleiht.
Unter den herabgelassenen Sonnensegeln an den Tischchen der Cafés wechseln die Gäste wie im Wartesaal einer Großstadt, aber alle haben sie offenbar die Abfahrtszeit ihrer Züge genau im Kopf, sie zeigen keinerlei Unruhe. Der geringste Matrose erhebt sich mit der Würde eines Kapitäns von seinem Platz, das ausgehungertste Mädchen nähert sich dem vermutlichen Liebhaber mit der Gelassenheit einer Fürstin. Es geht festtäglich zu, im Hinblick auf die Unrast einer Hafenstadt wie Marseille könnte man sagen, weltmännisch, obgleich an den kleinen Matrosen, die das Bild bestimmen, zumeist noch die Eierschalen ihrer bäuerlichen Herkunft kleben.
Ganz herrlich ist die Barkasse des Admirals, die gegen Abend am Kai festmacht. Die ausgewählt feine Bemannung landet wie an der Küste einer Liebesinsel. Ein Teil wartet in tadelloser Haltung auf dem Hinterdeck, der andre steht auf dem Kai und hält das glänzende Fahrzeug mit Schiffshaken fest, die gleich Heroldstäben und Turnierlanzen im Abendlicht glänzen. Zur selben Stunde weht von den Geschwadern ein kurzes Trompetensignal herüber, man sieht, wie die Wimpel der Flaggschiffe eingeholt werden, in den Luken leuchten reihenweise die Lichter auf.
Da kommt der Admiral, ein unscheinbares, schmuckes Herrchen. Die Mannschaft steht anmutig, geordnet wie zur Quadrille, der kleine Mann steigt ein. Die Barkasse verläßt Cythere und verschwindet im schwärzlichen Blau des Abends.
Toulon, im Vertrauen gesagt, ist ein Rokokokriegshafen.
Der Frühlingskorso auf dem Kronstädter Kai war vom Wetter begünstigt.
Die schönen Tage bildeten eine goldene Kette, der jeder Sonnenaufgang ein neues Glied hinzufügte, und das gehobene Bürgertum von Ranas-sur-mer fand reichlich Gelegenheit, die Tätigkeit seiner Angehörigen am Touloner Liebeshof zu verfolgen und allerhand mehr oder minder abenteuerliche Beobachtungen nach Hause zu bringen. Sie bereicherten den abendlichen Familienklatsch und bisweilen auch die Träume.
Herr und Frau Marius Burguburu, die das Frühjahrsmodell eines bekannten kleinen Autos besichtigt hatten, begegneten dem Pfarrer von Ranas, als er auf dem Weg zu seinem Amtsbruder, dem Pfarrer von Sainte-Marie-Majeure, blinzelnd über die lichtspiegelnden Steinplatten des Kais schlurfte. Der Notar, der keine Pfaffen grüßte, beeilte sich, die Gattin auf eine Merkwürdigkeit draußen im Hafen aufmerksam zu machen, Juliette jedoch merkte die Absicht und guckte erst hin, nachdem sie das Haupt vor dem Gottesmann gebeugt hatte, und da war die freidenkerische Merkwürdigkeit aus Ärger spurlos verschwunden.
Der ehrenwerte Doktor Blanc wurde von Madelon Plaisir, der Frau des Ranasser Posthalters, dabei getroffen, wie er in Gesellschaft von Frau Tavin und ihrer ›Clique von Spionen‹ mit solcher Kraft Gummi kaute, daß der Vollbart wie eine Kreissäge herumging. Damit sägte er, meinte Madelon, all das ab, für dessen Erhaltung er bezahlt wurde: seine Kranken, die Gemeindesorgen, den Präfekten (der ihm neuerdings sein Mißfallen bezeigte, weil Blanc das Städtchen gleich mit drei palastähnlichen Bedürfnisanstalten ausstattete, davon eine mit indirekter Deckenbeleuchtung), die Beschwerden des Posthalters über zunehmende Störung der Nachtruhe durch Lautsprecher, kurz ganz Ranas-sur-mer, wie es lebte und litt. Frau Marius Burguburu wiederum beobachtete ein paar Tage später, wie der Chauffeur Louis an der Rathausecke einer ihr unbekannten, anlockenden Person im Vorbeigehn freundschaftlich auf die Wölbung unterhalb des Rückens klopfte. Juliette, sie merkte es zu spät und erschrak über ihre Unbedachtsamkeit, lächelte ihm zu, Louis zog verwundert die Mütze – ach! er konnte es ja nicht wissen, sie schwebte heute auf dem hohen Seil, auf dem die Engel im Himmel sich im Gleichgewicht üben, und hatte alle wagemutigen Geister zu Verbündeten und Freunden. Marius hatte ihr zur Feier des Frühlings denselben, nur viel neueren, nur viel bequemeren und statt rahmgelb hellblau lackierten Wagen geschenkt, den auch Frau Pauline Tavin besaß! Jung und frisch wie ihr Wagen, kam sie von der ersten Fahrstunde und freute sich, bei einer Tasse Schokolade im Café de la Rade auszuruhn und ungeahnte, zum erstenmal erlebte Wonnen und Qualen nachzukosten.
Das Lenken eines Wagens, der schneller sein konnte als die großen Züge der P.L.M.-Bahn, erschien ihr als die höchste, die beseligendste aller Gefahren. Abwechselnd fühlte sie sich zu ihrer Verwunderung Marius entrückt, als sei er kürzlich verstorben, und zu ihm hingezogen wie zum Gegenstand einer neuen Liebe – mit ihm durch das Land zu sausen und sein Leben in der Hand zu haben, bedeutete den Gipfel des Eheglücks ... Der heutige Tag war ein Wendepunkt und der Chauffeur Louis der erste, dem ihr Lächeln davon Kunde gab.
Er wiederum, grobkörnig, wie die Söhne des Volkes sind, dachte im Weiterschlendern, sie müsse ihrem Alten einen Streich gespielt haben, da die Zeichen ihrer guten Laune wahllos von ihr abfielen wie überreife Früchte vom Baum.
Am gleichen Abend gestand Juliette ihrer Tochter, sie sei drauf und dran, in die Reihe der verhaßten Glücklichen einzurücken. Die Welt liege gedemütigt vor ihr – kein Millionär oder asiatischer König könne großartiger darauf hinabsehn. Sie dürfe nach Belieben mit ihr schalten – Menschen totfahren oder sie verschonen, in ihrem Ermessen liege es, dem einen Achtung zu erweisen, indem sie hinter ihm zurückbleibe, und den andern grausam zu überholen. Sie konnte mit dem Signal Hohn kreischen oder den Vordermann freundlich anreden, ihn grüßen, sie konnte aber auch gerade so gut unter Triumphgeheul um eine Ecke brausen wie der leibhaftige, sechszylindrige Tod ... Und alles straflos. Sie war versichert.
»Kind, paß auf!« rief sie strahlend. »Du bekommst eine neue Mutter und mein Marius eine neue Frau, und was die Dummen ein harmonisches Familienleben nennen – wir werden es haben und auswalzen und Nudeln daraus schneiden. Wenn es geht, bin ich sogar bereit, noch ein Kind zu bekommen ... Schade, daß ich es nicht am Steuer empfangen kann, bei hundertundzwanzig Stundenkilometer Geschwindigkeit!«
Es war das erstemal, daß Sibylle ihre Mutter begeistert von greifbaren Dingen sprechen und ein Entzücken äußern hörte, das glaubhaft war, das sich nachprüfen ließ. Und obgleich sie sehr wohl unterschied, welchen Anteil die Bosheit an Juliettes Freude hatte, schloß sie die Mutter in einer Aufwallung von Zärtlichkeit in die Arme. »Eine neue Mutter – das könnte ich jetzt gerade brauchen!« sagte sie leise.
Indessen mußte Juliette die Fahrstunden unterbrechen, weil die Regenzeit begann und der Scheibenwischer in seiner provenzalischen Wasserscheu den Dienst versagte, darin heimlich unterstützt vom Fahrlehrer, der es ablehnte, mit der Schülerin auf den glitschigen Straßen ums Leben zu kämpfen. Sie hatte den Mut eines betrunkenen Akrobaten, und er war ein nüchterner Schlosser.
Es regnete die ganze Küste entlang, von den Pyrenäen bis zu den Alpen. Der junge Mann, der an einem dieser Märztage die Öde des Café de la Rade mit seinen ausdrucksvollen Augen belebte, war von der bretonischen zur provenzalischen Küste gefahren, ohne auch nur stundenweise aus dem Regen herauszukommen, und nun sah er zu, wie es auf den Hafen von Toulon herabgoß. Er wunderte sich, seiner Meinung nach hatte es früher kaum einmal hier geregnet, in seiner Erinnerung wölbte sich ein ewig blauer Himmel über der Stadt und den schneeigen Hügeln.
Untersetzt, blond und dunkeläugig, steckte er in einem schwarzen Anzug, der vor dreißig Jahren dem Vater für die Hochzeit angemessen worden war. Aber der Junge hatte ja Zeit genug hineinzuwachsen, und vorläufig half das Festgewand, seinen jetzigen Besitzer beträchtlich älter erscheinen zu lassen als seine Jahre, was ihm willkommen war. Der junge Mann trug Sorge um seine Würde.
Er saß hier in der Hoffnung, den einen oder andern Kameraden vom Torpedoboot E 124 wiederzusehn, einen von denen, die aus Verlegenheit um einen ordentlichen Beruf oder aus andern Gründen ›dabeigeblieben‹ waren. Leider hielt das Wetter die gesamte Besatzung der Flotte an Bord zurück. So vertrieb er sich die Zeit damit, eine schlanke Mulattin zu bezaubern, die, sehr aufrecht, an der gegenüberliegenden Wand vor einem Glas Wasser saß und in illustrierten Zeitschriften blätterte. Halb Wolf, halb Reh, umschritt er sie mit seinen Blicken in einem Halbkreis, der jeweils in einem Spiegel endete. Sie rieb sich an ihm, indem sie auszuweichen schien, und sooft er wegsah, schloß sie die Augen und lächelte hilflos, als bedrohe er sie mit Hilfe der Spiegel im Rücken. Es war ein schönes Mädchen, besonders ihr Hals gefiel ihm, er war lang und bewegte sich auf ihren Schultern wie eine gebräunte Ähre im Wind. Ihr Mund, obwohl nicht geschminkt, leuchtete tief rot, eine saftige Frucht aus den Tropen, sie war auch nicht gepudert, was er ihr hoch anrechnete, und als sie einmal das Glas an den Mund hob, schien sie statt Wasser roten Wein zu trinken, so glühte das gesammelte Blut in ihren Lippen.
Er genoß ihren Anblick, ohne weitergehende Absichten zu verfolgen. Denn einmal handelte es sich erfahrungsgemäß um einen Offiziersbissen, der ihm und seinen Mitteln nicht zustand, und dann fühlte er sich in seinem schwarzen Anzug als Ehemann gekennzeichnet, nicht weniger, als wenn er den Trauschein auf der Brust getragen hätte.
Diesen Umstand deutete er auch getreulich an, indem er zwischen die Pirschgänge seiner Blicke Pausen einlegte, während deren er, ein Bild der Entsagung, traurig, aber entschlossen, ja mit frömmelndem Ausdruck statt in die Spiegel durch das Fenster auf den Hafen blickte. Dort war alles grau – wie Schiefer der Himmel und das Wasser des Hafens, silbergrau die lange Reihe der Torpedoboote.
Je mehr die Dunkelheit zunahm, desto heller wurden die Schiffe, eine Weile waren sie richtig blau. Licht sah er keins außer einen Funken auf dem Flaggschiff seiner ehemaligen Flottille. Es mußte auf der Kommandobrücke sein – leider konnte er sich nicht entsinnen, was es damit für eine Bewandtnis habe. Jede halbe Stunde kam und ging die Dampffähre von La Seyne und brachte etwas Abwechslung in die Eintönigkeit. Mit seiner roten und grünen Laterne und dem goldenen Licht, das in Strähnen aus der Kabine auf das dunkle Wasser fiel, weckte es in ihm Erinnerungen an die bretonische Küste und an ein andres Schiff, das ihn und Emma nach einem zwölfstündigen Hochzeitsessen auf die andre Seite der Bucht und zu dem Haus gebracht hatte, in dem sie seitdem wohnten... Er bedachte die Mulattin mit einem feurigen Blick und schüttelte bedauernd den Kopf. Unter dem nassen Sonnensegel unterhielten sich zwei wachhabende Marineschützen mit einem Polizisten. Die Soldaten waren kräftige Burschen, sie trugen Seitengewehr und Revolver, die Hosen steckten in kurzen Stulpstiefeln, und alle drei stapften sie mit den Füßen, als ob sie furchtbar frören, wobei der Polizist die Hände ängstlich unter seinem kurzen Umhang verbarg. Davon wurde auch ihm schließlich kalt. Er ging mit sich zu Rate, ob er einen Grog bestellen sollte, rief den Kellner, fragte nach dem Preis des Getränkes und begnügte sich nach kurzer Überlegung damit, seinen Kaffee zu bezahlen. Als er aufbrach, schenkte er dem Mädchen zum Abschied einen von Liebe und Entsagung feuchten Blick, den sie demütig, aber erfolglos mit einem Angebot selbstloser Hingabe erwiderte. Hustend und spuckend verließ er das Café de la Rade und begab sich zur Fähre. Von nahem gesehn war sie eine elende Kiste, die nur Schüler und Arbeiter beförderte, die Kabine roch, als sei darin ein Ziegenbock spazierengefahren. Er ließ sich dicht unter einer elektrischen Birne nieder, zog ein Lichtbild hervor und betrachtete es bald mit düsterer, bald mit heiterer Miene.
In La Seyne bestieg er den Autobus der ›roten Linie‹, von Louis erst nicht erkannt, dann aber auf das lebhafteste begrüßt.
»Kerl, wo kommst du her?« fragte Louis.
»Ich bin auf der Hochzeitsreise.«
»Und wo hast du deine Frau?«
»Die ist daheim und säugt ihr Kind.«
Louis kniff ein Auge zu und lachte ihn an.
Nach seinem Gepäck befragt, zog er verschmitzt lächelnd ein großes, rotes Taschentuch hervor.
»Mein Handtuch für Gesicht und Füße«, erklärte er. »Das andre mache ich mit der bloßen Hand.«
Als Louis im weiteren Verlauf der Unterhaltung erfuhr, daß der Mann wahr und wahrhaftig die Emma der Witwe Bosca zur Frau hatte, machte er einmal »Pst!« und schaute sich vorsichtig um.
»Da hinten sitzt der Notar«, sagte er leise, »der hat nämlich die Witwe geheiratet, mußt du wissen. Gib acht, was du sagst ... Wie heißt du eigentlich?«
»Emil.«
»Also, Emil, mir scheint, der Notar spitzt schon die Ohren. Er ist die letzte Zeit verdammt argwöhnisch. Die Leute reden halt über ihn ... Er hat wohl auch wieder einen Schwips, nur kommt es nicht heraus wegen der Nähe der Kirche, da nimmt er sich zusammen, verstehst du, Emil? Er hat Angst vor dem Pfarrer da hinten ... Es geht nicht mehr recht mit der Alten ... Sie hat ihn unter sich am Boden, platt wie ein Bügelbrett, er ist ausgezählt ... Das hätte ich ihm gleich sagen können, daß er mit dem Schwergewicht nicht fertig wird ... Und was macht die Emma? Auf einmal war sie weg von hier. Schade, ein sauberes Mädel... Du kannst von Glück reden, daß du die gekriegt hast.«
Aber statt Bescheid über die Emma zu geben, guckte Emil angestrengt nach hinten und suchte herauszubekommen, wer von den drei Männern im Hintergrund des Wagens der Gatte der Witwe Bosca sein mochte. Keiner entsprach der Vorstellung, die er sich von einem Notar machte, doch lag dies möglicherweise daran, daß sich die Notare in der Bretagne von ihren Kollegen im Süden ebenso unterschieden wie ein bretonisches Haus von einem provenzalischen – die einzigen Personen, die sich hier und dort gleichsahen, waren die Pfarrer. Emil erkannte den guten Pfarrer von Ranas und zog den Hut.
»Welcher von den beiden andern ist es?« fragte er Louis.
»Der neben dem Pfarrer. Er kann ihn nicht leiden, drum gafft er andauernd zum Fenster hinaus, obgleich es da in der Dunkelheit nichts zu sehn gibt – außer vielleicht dem Spiegelbild des Pfarrers in der Fensterscheibe. Er muß sich schön ärgern, der Alte. Wo er hinguckt, stößt er auf Rom.«
Emil drehte sich um, und als er nach längerer Zeit wieder gerade saß, auf seinem Platz neben der Tür, seitlich hinter Louis, sagte er nur »Aha!« und versank in Nachdenken.
Louis bemühte sich vergeblich, die Unterhaltung in Gang zu halten, Emil schwieg hartnäckig. Ein einziges Mal tauchte er aus seiner Versunkenheit auf, das war, als er Louis unvermittelt das Lichtbild eines Säuglings unter die Nase hielt mit der Aufforderung, es genau zu betrachten. Eine ganze Minute lang teilte der Chauffeur seine Aufmerksamkeit zwischen der Straße und dem Säugling, der nackt auf einem Kissen lag und grinste.
»Er gleicht dir, Emil«, versicherte er schließlich.
»Das will ich meinen«, sagte Emil und versenkte das Bild in die Brusttasche. »Der Photograph hat auch fünfzig Franken dafür genommen ... Es ist das schönste Kind von der Welt – und lieb wie ein Vögelchen.«
»Be-be-la«, machte er, die Säuglingslaute nachahmend, und bewegte närrisch den Kopf über dem Bild.
Als er die Photographie einsteckte, bekam er gleich wieder eine finstere Miene und sprach kein Wort mehr, überhörte auch die wiederholte Frage, wo er hinwolle, und paßte nur auf, wer ein- und ausstieg. In Ranas erhob er sich von seinem Platz und wartete mit dem Hut in der Hand, bis der Pfarrer vorbei war, worauf er sich wieder hinsetzte. Beim Park Stellamare verließ der Notar den Wagen. Emil nickte Louis bedeutungsvoll zu, ließ einige Sekunden verstreichen und stieg dann ebenfalls aus. Louis sah ihn hinter Burguburu im Dunkel verschwinden. Er pfiff durch die Zähne und fuhr weiter.
Die Ranasser irrten, wenn sie meinten, mit dem Notar ginge es abwärts.
Zumindest war es falsch, ihn für endgültig besiegt und ›ausgezählt‹ zu halten gleich einem erledigten Ringkämpfer. Mochte er zur täglichen Kraftprobe infolge seiner Gutmütigkeit als der Schwächere, scheinbar von vornherein Unterlegene antreten und sich in seiner Lässigkeit gegen die Anforderungen des Kampfes sperren, so gut und so lange es ging, am Ende nahm er immer wieder eine Stellung ein, vor deren Unerschütterlichkeit Juliette das Feld räumte. Überdies teilte Juliette das Los aller großen Feldherren, sie lehrte den Gegner siegen. Was ihm von Natur an List und Gewalttätigkeit fehlte, ging mit der Zeit von ihr auf ihn über, und schließlich gab die körperliche Kraft den Ausschlag. Sein Jähzorn, der wie eine fremde Gewalt über ihn kam, machte die verwegensten Künste Juliettes zunichte, entführte ihn in einem Wirbelsturm des Gemütes dorthin, wohin er aus freien Stücken niemals gelangt wäre.
Er war noch immer der mäßigste Mann der mäßigen Provence, er vernachlässigte auch nicht seine Geschäfte, im Gegenteil, er hatte, von den steigenden Bedürfnissen der Familie gedrängt, seine Einkünfte nahezu verdoppelt. Was die Leute als Beweis zunehmender Erschlaffung verzeichneten, die kleinen hitzigen Fluchtversuche, die ihn einen Tag oder zwei von der ehelichen Gemeinschaft fernhielten, die geschwätzige Leutseligkeit bei der Heimkehr, die Art, unter Bekannten ein Glas Wein zum Munde zu führen, als sei er im Begriff, mit einem Schluck die Keller der Provence zu leeren, dies alles sprach in Wirklichkeit für die Festigung seiner Beziehungen zu Juliette und die Klarheit seiner Selbsterkenntnis. Es waren Abenteuer von geringem, wohlüberlegtem Umfang, mit denen er die Ehe würzte, die ihn für Beruf und Familie frisch erhielten. Er ›bewegte‹ die Liebe, wie man Pferde bewegen muß, damit sie brauchbar bleiben, und darin kam er auf seine eigene, harmlose Weise den Bedürfnissen Juliettes entgegen. Wenn die Konflikte sich nicht von selbst einstellten, schuf er sie.
Vermutlich war Juliette zu selbstbewußt, um ihren gelehrigen Schüler zu durchschauen. Sie sah in seinen Seitensprüngen ›Zuckungen des Opfers‹, die sie mit Genugtuung wahrnahm, bisweilen auch mit Angst und Zweifeln über den Ausgang des Abenteuers, wobei sich jedoch ihr Selbstvertrauen leicht über solche Anwandlungen hinwegsetzte. Ihr Bedürfnis, zu herrschen und zu gebieten, war so stark, daß der Gedanke, Marius könnte sie betrügen, indem er sich aus einer scheinbaren Niederlage ein Fest machte, gar nicht erst in ihr aufkam. Nun kehrte er also wieder einmal von einem ›Fluchtversuch in die Freiheit‹ an ihre Brust zurück, die nach Hyazinthen duftete und sich ihm bereitwillig darbot – ein ›Brunnen seligen Vergessens‹. Ihre Arme öffneten sich wie das Tor eines Gefängnisses, und wieder einmal lachte er heimlich in sich hinein, weil er ja dies Gefängnis, dem Schergen zum Tort, über alles liebte.
»Sooft ich unsern Pfarrer sehe, ärgere ich mich«, versicherte er, nachdem der Überschwang des Sichwiederfindens voll beiderseitiger Heuchelei und erster Regung der Sinne sich gelegt hatte. »Ich sage mir, der Mann – du kannst nicht leugnen, Juliette, daß ein Pfarrer ein Mann ist, der Mann weiß Dinge von dir, die ich nicht weiß.«
Er stand aufrecht in der Mitte des Salons, Juliette, vom unerwarteten Ansturm der Leidenschaft erschöpft, hing an seinem Hals. Die gewaltigen, erdroten Hände lagen breit auf ihren Schulterblättern. Spielend suchte er deren Umrisse zu ermitteln. Als ihm dies selbst mit Hilfe der Nägel nicht gelang, drückte er die ganze Fülle des Weibes an sich und behauptete:
»Es geht mir nicht in den Kopf, mein Schatz, daß die Ehemänner sich eine so unsittliche Vertraulichkeit gefallen lassen. Jede Beichte ist eine Kriegserklärung der Kirche an die Natur. Man sollte sie gesetzlich verbieten.«
»Oh, ich habe nur eine einzige Sünde auf dem Gewissen«, frohlockte sie. »Und die weiß nicht einmal unser Pfarrer. Mit Rücksicht auf dich, Marius, habe ich sie nicht ihm, sondern dem Pfarrer von Sainte-Marie-Majeure in Toulon gebeichtet.«
Sie warf den Kopf zurück und blickte ihm von unten gespannt in die Augen. Aber die erwartete kleine Flamme blieb aus... Er taugte nicht mehr viel als Mann, zumindest war er unberechenbar, seine Eifersucht versumpfte zusehends. Er fragte, ob sie die Sünde nach ihrer Eheschließung begangen habe, und als sie verneinte, sagte er leichthin, was vor seinem Regierungsantritt geschehen sei, gehe ihn nichts an, und damit setzte er sie ab – wie der Bäcker den vollen Mehlsack absetzt, dachte sie. »Uff!« machte sie enttäuscht, setzte aber gleich hinzu: »Du bist noch immer stark wie ein Bär, Marius – obwohl du abmagerst.« Es hielt sie nicht, sie mußte es ihm versetzen: »Weißt du, mein Lieber, unter uns gesagt – ein gesunder Mann, den eine Sünde seiner Frau, vorehelich oder nicht, so gar nicht ein bißchen aus dem Häuschen bringt, der ist – das ist wie ein Baum, der den Wurm hat. Man sieht es ihm vielleicht nicht einmal an, aber er ist futsch. Er taugt nicht einmal mehr zu Brennholz. Und der Mann, den kann man bald im Rollstühlchen fahren.«
Marius hörte sie mit pfiffigem Schmunzeln an, und sie setzten sich auf das Sofa, der Wand gegenüber, wo das fast lebensgroße Bildnis Großvater Burguburus hing, des ersten Notars der Familie.
Im Augenblick, da die Stahlfedern unter ihrem Gewicht aufseufzten, ein Laut, der bei dem Ehepaar mehr vorsätzlich als ungezwungen Heiterkeit und anzügliches Äugeln bewirkte, klopfte es an der Haustür.
»Es wird die Gasrechnung sein«, vermutete Juliette und sah erwartungsvoll lächelnd auf die Pranke des Gatten, die, einem Polypen mit gierig witternden Saugnäpfen gleich, durch die Luft auf ihr Kinn zugeschwommen kam. Die Erwartung kitzelte mehr als die spätere Berührung. Wenn die Hand nahe genug wäre, würde Juliette ein Grunzen ausstoßen und nach ihr schnappen, worauf der Polyp, so war es ein für allemal abgemacht, auf die Beute losschießen, das quellende Kinn unter mörderischem Kneten in seinem Innern versammeln und angeregt verdauen sollte.
Bevor es jedoch so weit kam, öffnete sich die Tür, und an Sibylle vorbei, von der man nur die Küchenschürze sah, trat Emil ins Zimmer.
Der Polyp fiel klatschend auf das Knie des Notars. Juliette flog, wie von einem Kran ergriffen und hochgehoben, von der Mitte in die Ecke des Sofas, Marius, den Kopf in Flammen, erhob sich und brüllte:
»Wer sind Sie? Lassen Sie sich gefälligst erst anmelden! Ich bin hier nicht geschäftlich zu sprechen. Ich –«
Er verlor die Sprache, weil er sah, wie der Eindringling, ohne ihn zu beachten, auf seine Frau losging und augenscheinlich tief ergriffen zwei Schritte vor ihr stehenblieb. Seine Blicke sprangen an ihr hoch wie Hunde.
Juliette saß zurückgelehnt, die Fäuste auf dem Polster, sie kniff die Lippen und starrte unter gesenkten Lidern hervor auf die Erscheinung.
»Wie heißen Sie?« fragte, unsicher geworden, Marius, und als er wieder keine Antwort erhielt, wandte er sich hilfesuchend an seine Frau.
Sie bewegte leise den Kopf:
»Ich frage ihn lieber nicht.«
Da machte der Fremde eine kurze Verbeugung und sagte: »Emil.«
Und als Juliette sich seiner noch immer nicht entsinnen wollte, sprang er ihrem Gedächtnis mit einem leichten, aber eindringlichen, einem freundschaftlich ermunternden Nicken des Flachskopfes bei, dem ein jähes Erröten und das Niederschlagen der Augen folgten.
Was aber ging mit Juliette vor?
Burguburu trat beunruhigt näher.
Juliette schien in ihrem vollen Umfang zu beben ... Es fing langsam mit einem Kräuseln der Oberfläche an, drang mit einem Schlag in die Tiefe, erfaßte die ganze Gestalt. Kaum hatte er sich überzeugt, daß er recht sah, wurde das verhaltene Schütteln stärker, das Sofa zitterte, und aus den gefederten Polstern drang ein Wimmern. Das Gesicht Juliettes blieb starr und krampfhaft verschlossen. Auf einmal platzte es wie eine Roßkastanie, die auf dem Boden aufschlägt, und ihr Mund entließ ein wieherndes Gelächter.
»Marius! Die Sünde ... Da steht sie!... Die Sünde!« Sie richtete sich auf den Armen auf und sprach unaufhörlich lachend: »Aber Geld kriegen Sie nicht, mein Junge ... Hahaha! Von uns nicht! Hahaha! Gucken Sie nur – sehe ich aus, als ob ich mich erpressen ließe?! Ein Wort – und ich benachrichtige die Gendarmerie! Hahaha! Was bilden Sie sich denn ein, mein Junge? Wir sind ein festes Ehepaar, hahaha! Im Feuer erprobt, du lieber Gott! Wir halten zusammen – auch gegen hübsche, kleine Matrosen, die nachts auf Leitern – zu Dienstmädchen einsteigen.«
Sie schöpfte Atem und fragte in verändertem Ton:
»Wieviel wollen Sie eigentlich haben? Ich biete hundert Francs – und das Reisegeld. Unter der Bedingung, daß Sie, ohne mit einer Seele in Ranas zu sprechen, auf der Stelle abreisen.«
Das Lachen packte sie von neuem, sie rief:
»Marius, er ist zu komisch, der Kleine! Hahaha! Du lieber Gott, sieh nur, wie hübsch er lacht! Er hat zwei Grübchen rechts und links, unvergeßliche Grübchen ... Und Augen – Augen! Marius, was sagst du zu den Augen? Halb Wolf, halb Reh – was meinst du? Du lieber Gott, ich ersticke vor Lachen...«
Emil inzwischen lachte ungezwungen mit, winkte aber, eine lustige Vogelscheuche, mit Kopf und Armen ab, und auch seine Augen bemühten sich, Juliette eine Geschichte zu erzählen, die sie, immer noch von Lachen geschüttelt, plötzlich verstand. Es drohte ihr keine Gefahr von ihm – ihr nicht!... Sie beruhigte sich und nickte, tief aufatmend, Marius zu, der steif wie ein Soldat im Glied sich überlegte, ob er nicht den Eindringling und mutmaßlichen Vorreiter seines Eheglücks kurzerhand niederschlagen sollte. Was ihn davon zurückhielt, war das Bedenken, ein von Juliette so bereitwillig, ja begeistert abgelegtes Sündenbekenntnis könne unmöglich der Wahrheit entsprechen, vielmehr stelle es eine jener Fallen dar, wie die Dicke sie zu stellen liebte – sie zeigte einem die Falle, zeigte sie ausdrücklich, man sah sie, man war auf der Hut, und dann geriet man erst recht hinein. Wie in einem Blitz sah er die Leiter an ihrem Fenster stehn, und die Leiter blieb leer – obwohl er scharf hinsah, solang die Helligkeit währte. Zum erstenmal zweifelte er allen Ernstes, daß die Leiter dazu gedient habe, sie ihrer Witwenunschuld zu berauben. Emma hatte tatsächlich geträumt, und der Anstreicher war ein Dummkopf, der sich jeden Bären aufbinden ließ – warum nicht auch eine Leiter?... Die Leiter war erfunden worden, um ihn zu quälen!
Seitdem sie Auto fuhr, fiel es ihm schwer zu unterscheiden, was bei ihr letzte Verschlagenheit, was brutale Offenheit war, das eine verwandelte sich oft blitzschnell in das andre, anscheinend wußte sie selbst nicht, was in ihr arbeitete und wo die einmal begonnene Bewegung ihres Gemütes enden sollte. Bisweilen hielt er sie für wahnsinnig. So blieb ihm nichts übrig, als auf ein Stichwort zu lauern, das ihn unzweideutig ins Bild setzte.
»Ach, Marius!« sagte sie, »ich glaube doch schon, meine heimliche Sünde, mein ganzer Stolz, mein Herzensliebling sei dem Pfarrer von Sainte-Marie-Majeure davongelaufen, um mir seine Aufwartung zu machen – und dich bei der Gelegenheit ein bißchen anzuschnorren. Deshalb, verstehst du, habe ich sie dir auch gleich vorgestellt, Marius meine hübsche, kleine Sünde. Ach! Es war, wie ich jetzt sehe, eine Verwechslung... Du mußt begreifen, Schatz: meine Sünde hat kein sehr deutliches Gesicht – verstehst du? Nachts sind alle Katzen grau ... Du mußt noch ein wenig Geduld haben, mein Guter. Du lernst sie bestimmt einmal kennen ... Aber hören Sie mal, Sie«, wandte sie sich an Emil, der sie kreuz und quer mit ausdrucksvollen Blicken abmaß, »wollen Sie nicht endlich dem Herrn Notar verraten, wer Sie sind?«
Emil kehrte in seine frühere, bescheiden nachdenkliche Haltung zurück, und es trat ein Schweigen ein, das Burguburu benützte, um sich auf einen Stuhl zu setzen und mit dem Taschentuch über Kopf und Hals und rund um den Nacken zu fahren.
Es beschlich ihn eine Ahnung, als habe die Unterhaltung versteckterweise eine für ihn ungünstige Wendung genommen. Etwas in der Luft, im Licht des Zimmers, etwas auf der Welt hatte sich verändert, er wußte nur nicht, was. Die Miene der Gattin zeigte spöttische Erwartung. Sie zwinkerte ihm verständnisvoll zu, was ihn vollends verwirrte. Denn er verstand nicht das geringste, und außerdem pflegte dies Zwinkern das Signal für den Anmarsch der ›Moskitos‹ zu sein. Er fühlte sich aber den schwer faßlichen, dafür um so giftigeren Äußerungen von Juliettes Ironie im Augenblick nicht gewachsen.
Emil räusperte sich und sagte zu Burguburu, wiederum mit einer kurzen Verbeugung, wobei er den Hut zwischen Daumen und Zeigefinger pendeln ließ:
»Ich heiße Kerhostin ... Emil Kerhostin ... Ich habe die Emma zur Frau.«
Er hob die Augen und sah dem Notar mit bedrohlichem Ernst gerade ins Gesicht.
»O weh!« rief Juliette und lehnte sich behaglich in die Sofaecke zurück.
Burguburu drückte das Schweißtuch in die Tasche, ließ eine Sekunde die Faust darin. Dann zeigte er mit einer verbindlichen Bewegung auf einen Stuhl und lud den jungen Mann zum Sitzen ein.
Emil ließ sich nieder, als wäre der Stuhl aus Glas, legte kaum weniger vorsichtig den Hut auf die Knie und machte ein unheilvolles Gesicht.
Während des nunmehr folgenden Gesprächs verfolgte Juliette mit Bewunderung, Marius mit wachsendem Unbehagen, wie Emil seine Doppelrolle als erinnerungssüchtiger Liebhaber und als gekränkter Familienvater durchführte.
Juliette setzte er von seiner Verwunderung über ihre neuerliche Körperfülle in Kenntnis und teilte anschließend seine Zustimmung zu der Wandlung mit, indem er eine Rundung in die Luft zeichnete und diese durch ein blitzschnelles Spiel der Finger mit einer Liebkosung abschloß. Darauf wandte er sich mit einer Vierteldrehung des Kopfes Burguburu zu, ein Bild finsteren Vorwurfes, halb verwundetes Reh, halb hungriger Wolf. Beim ersten Wegsehn des Notars kehrte er hurtig zu Juliette zurück, und alles an ihm war schmeichelnde Frechheit und dankbares Erinnern.
»Das ist ja reizend«, versicherte Burguburu. »Unsre kleine Emma ist Ihre Frau. Und Sie bringen uns wohl Grüße von ihr? Wie geht es ihr denn?«
Emil gedachte nicht, auf diesen weltmännischen und, wie ihm schien, hinterhältigen Ton einzugehn. So spielte die Katze mit der Maus. So sprach der Wachoffizier mit den Matrosen, wenn sie zu spät an Bord kamen, kurz bevor er acht Tage Arrest auf sie herabsausen ließ. Emil war aber nicht mehr Matrose, sondern selbständiger Fischer und Familienvater, und wenn hier Katze und Maus gespielt werden sollte, so war er die Katze und der Notar die Maus! Er beugte sich vor und bewegte den Zeigefinger durch die Luft.
»Es ist nämlich so«, erklärte er, »daß die Emma ein Kind hat.«
Den Kopf vorgestreckt, wartete er offenen Mundes auf die Wirkung seiner Eröffnung auf den Notar.
»Famos!« rief Burguburu. »Da gratuliere ich aber. Junge oder Mädchen?«
»Junge«, antwortete Emil, noch immer in gespannter Erwartung.
»Großartig!« rief der Notar, und dann rückte er betroffen zur Seite.
Emil war mit dem Stuhl näher gekommen, so daß er beinahe Knie an Knie mit dem Notar saß, und schaute ihm gequält in die Augen.
»Ja, großartig«, sagte er, »das meinen Sie so, Herr Notar! Der Ehemann denkt anders darüber.«
»Wieso?« erkundigte sich Burguburu.
Unwillkürlich streifte er mit dem Finger über die Juliette zugewandte Backe, sie juckte, als ob sich dort eine Fliege erginge. Was wie eine Fliege kitzelte, war indes das spöttische Lächeln der Gattin, das er auf sich ruhen fühlte. Vielleicht irrte er sich übrigens, und sein Argwohn entsprang nur dem schlechten Gewissen. Vielleicht war sie ernst, ernst und teilnahmsvoll. Er wagte nicht, sich des einen oder andern zu versichern und nach ihr hinzusehn, vielmehr war er mit Leib und Seele bemüht, ihre Gegenwart zu vergessen und ein Mann zu sein, wie ein Mann sein soll.
»Wieso?« knurrte Emil entrüstet. »Was würden Sie dazu sagen, wenn Sie heirateten, und drei Monate darauf bekäme Ihre Frau ein Kind?... Wo kommt der Bankert her? würden Sie sagen.« Emil erhob die Stimme: »Ich frage Sie, Herr Notar – wo kommt der Bankert her?« Er deutete mit dem Zeigefinger auf Burguburus Brust: »Sie müssen es wissen!«
Burguburu weigerte sich entschieden, es zu wissen.
Er versuchte sogar, sich mit zweideutigen Scherzen aus der Schlinge zu ziehen. Als er dabei unerwartet aufblickte, ertappte er Emil, wie er Juliette mit schamlosen Blicken überschwemmte, ja, es kam ihm vor, als habe der Flachskopf den Mund zum Kuß gespitzt.
Um Juliette, die möglicherweise, um ihn zu quälen, auf so täppische Versuche einging, ganz und gar aus seinem Gesichtskreis zu verbannen, rückte er noch weiter mit dem Stuhl ab. Ruhig und sachlich, als walte er seines Amtes, erklärte er und führte wörtlich das Gesetz an: ein ehelich geborenes Kind habe den Gatten der Mutter zum Vater und damit basta!
Tatsächlich, fuhr er fort, pflege es sich meist auch so zu verhalten, Ausnahmen bestätigten die Regel. Und wenn es Männer und Frauen gäbe, die sich von Hirngespinsten plagen ließen, so herrschten, zum Glück der armen Menschheit, in der Mehrzahl der Ehen noch immer die Vernunft und ein wohlverstandenes Gemeininteresse vor. Und darauf beruhe die gesamte menschliche Gesittung.
Burguburu fühlte sich in diesen Allgemeinheiten geborgen und gepanzert, er sprach weiter, in einem lehrhaften Ton, der Emil verblüffte und einschüchterte. Emil hörte diese Dinge zum erstenmal, sie klangen großartig, es war süß und schrecklich, sie anzuhören, es war ähnlich, wie wenn man Karussell fuhr in blendendem Licht und Musik – erst nahm es ihm den Kopf ein, daß er nichts anderes denken konnte, dann den Körper, bis er keiner Bewegung mehr fähig war, es verwandelte ihn in einen Baum, worin der Wind sang. Dieser Zustand dauerte lange, so lange, daß Burguburu das Spiel bereits gewonnen glaubte.
Endlich erwachte Emil aus seiner Betäubung. Er fuhr mit der Hand unter den Rock des schwarzen Anzugs und holte den Säugling hervor. Er ließ ihn zwischen Rock und Weste im Dunkel, bis Burguburu eine Pause machte. Dann beugte er sich seitlich vor und zeigte ihm das Bild mit der Erklärung:
»Genau neun Monate, nachdem Sie mit der Emma geschlafen haben, Herr Notar! ... Wem gleicht er – Ihnen oder mir?«
Ohne hinzusehn, rief Burguburu erschrocken:
»Sie sind ein Ungeheuer! Ein Vater, der sein Kind verleugnet, ist ein Ungeheuer!«
Emil überschrie ihn:
»Ein so häßliches Kind kann nicht von mir sein! Gucken Sie her! Das ist ein kleiner Notar! Schauen Sie, wie er grinst – in den Windeln schon haut er einen armen Kerl übers Ohr! Er gehört Ihnen! Ich hätte ihn auch gleich mitgebracht, aber die Emma sagte: – «
Bei den Worten: »Ein so häßliches Kind kann nicht von mir sein« war Juliette aufgesprungen und hatte Emil das Bild aus der Hand gerissen. Sie ging ans Fenster damit, und als sie zurückkam, beugte sie sich über Emil und flüsterte ihm etwas ins Ohr.
Der Junge lachte laut auf, mit einmal war er wie verwandelt. Er strahlte. Vor den entrüsteten Blicken des Notars nahm sie vertraulich Emils Rock auseinander und steckte das Bild in die Brusttasche. Um sich Haltung zu geben, fragte Burguburu im Ton eines Befehlshabers: »Was sagte die Emma?«
Emil sah Juliette an und begann zu kichern.
»Soll ich es sagen?« fragte Emil.
Juliette war auf ihren Platz zurückgekehrt.
»Warum nicht?« sagte sie mit sanfter Stimme. »Unsre Emma ist ein anständiges Mädchen.«
Emil wandte sich zum Notar:
»Sie hat gesagt – sei ruhig, Pulver hat er noch, aber kein Blei. Er schießt mit Platzpatronen.«
Darauf lehnte er sich zurück und sperrte Mund und Augen auf, gespannt, was nun erfolgen werde.
Marius trat an das Sofa.
»Wer hat das gesagt?« herrschte er Juliette an.
»Ich denke, die Emma?« antwortete sie gedehnt und schien ehrlich verwundert über die Frage.
Emil warf den Hut in die Luft und fing ihn wieder auf.
»Wer denn sonst als die Emma?« sagte er im selben Ton wie Juliette.
»Aber«, setzte er, plötzlich wieder finster geworden, hinzu, »aber –« Er sah Juliette an und sagte kleinlaut: »Das mit der Platzpatrone, das müßte erst bewiesen sein.«
»Junge, schauen Sie her!« befahl Juliette.
Sie zeigte auf Marius, der bleich, mit hervorquellenden Augen und geballten Fäusten dastand und an seinen Lippen kaute.
»Er überlegt, auf wen von uns beiden er sich stürzen soll«, belehrte sie Emil und lächelte sanft. »Wenn wir nicht gleich vernünftig sind, mein Junge – dann setzt es was!«
»Ich fürchte mich nicht!« versicherte Emil. Und damit war sein Unglück besiegelt.
Im nächsten Augenblick hatte Burguburu die gewaltigen Tatzen in die Schultern des andern geschlagen und schwang ihn wie eine Kleiderpuppe durch die Luft. Der Rock, an dem er ihn festhielt, gab nach, und Emil flog ohne Aufenthalt aus den Ärmeln gleich über den Kachelboden bis in die Ecke des Zimmers. Marius warf Juliette den Rock in den Schoß, sprang zu Emil, hob ihn auf und schleuderte ihn in die entgegengesetzte Ecke, dort packte er ihn, stellte ihn vor sich auf die Füße, versetzte ihm rechts und links eine Ohrfeige. Nachdem er ihn aufmerksam betrachtet und festgestellt hatte, daß sich kein Widerstand in ihm rege, drehte er ihn um, nahm ihn am Kragen und befahl keuchend:
»Vorwärts, hinauf in mein Zimmer, du Lump! Wir haben noch ein Geschäft miteinander.«
Da erst kam Emil zur Besinnung. Er rief der Gattin des Henkers zu, er werde ewig schweigen und sofort abreisen, wenn sie ihn jetzt nur schütze, ihn aus den Fängen des Notars befreie. »Zu Hilfe, gnädige Frau, zu Hilfe!« Juliette begrub das Gesicht in den Händen, sie sah ihn nicht, sie hörte ihn nicht, sie erstarrte vor Angst, durch die geringste Bewegung den Zorn Burguburus auf sich zu lenken. Er befand sich bereits auf der Treppe zum oberen Stockwerk, da rief er sie von neuem an, diesmal aber rief er: »Juliette!«
Es klang wie der Schrei eines brennenden Kindes oder eines von Natur hilflosen Tieres, das sich unter dem Zugriff des Feindes krümmt, wild und verzweifelt, ohne den geringsten Glauben an die eigene Kraft, ein Schrei vor der offenen Tür des Todes, der Juliette mit der Verantwortung für den drohenden Untergang belud. Der Schrei griff ihr in die Eingeweide, »Du Kind«, stammelte sie, »du Kind« – ihr Herzschlag stockte. Wie in plötzlicher Bedrohung ihres eigenen Fleisches riß sie die Hände vom Gesicht und machte eine Bewegung, als wollte sie sich nachstürzend über das Opfer des einen, ihnen gemeinsamen Feindes werfen, es zudecken, mit ihrem Körper schützen, es wild kämpfend retten oder mit ihm zugrunde gehn.
Aber sie schluchzte nur aus trockener Kehle auf und hob lauschend die Augen zur Decke ...
Und so traf Sibylle sie an, als sie ins Zimmer trat: ein eisiges Schmerzenshaupt lauschend zur Decke erhoben, wo der Schein der Lampe einen gelblichen Kreis malte, der von Lärm und Geschrei im Zimmer darüber zu zittern schien, der schwere Körper in der Sofaecke zusammengesunken, die Hände schlaff im Schoß ... Und auch dann, als es über ihnen still wurde, blieb ihre Haltung unverändert, der lauschende Ausdruck allein wechselte, er nahm noch an Spannung zu.
Sie horchte mit allen Poren, das Gesicht leichenblaß rings um die karminroten Inselchen der Wangen und bis hinunter in den Ausschnitt der apfelgrünen Bluse. »Was ist los?« fragte endlich Sibylle.
Die Mutter räkelte sich, sah sich mit einem blöden Lächeln im Zimmer um und klopfte ihr Kleid ab, als ob Staub darauf läge. Dann sagte sie: »Weißt du, Sibylle – der Junge, der damals die Leiter hinaufstieg?« Sibylle nickte.
»Der fliegt jetzt die Leiter hinunter«, sprach Juliette ernst...
»Siehst du, Kind, so endet mein einziges Liebeserlebnis, das nicht – das keine Stacheln hatte ... Obwohl es eine Todsünde war ... Der Junge ist arm, er mußte eine Emma heiraten. Das Leben ist grauenhaft, Sibylle ... Glück, selbst gestohlen und gut versteckt, schließlich kommt es doch ans Licht – und wird beschmutzt – und klein gemacht – lächerlich und häßlich ... Schau dir eine Nachtigall aus der Nähe an! Eine gefiederte Kröte.«
Mit einem Ausdruck hilfloser Ergebung in das Schicksal hob sie ein wenig die Hände. Dann aber sagte sie leise und heftig: »Nur das Geld, kleine Sybille! Das Geld, das behält seinen Wert, du kannst damit machen, was du willst, Geld wird nicht schmutzig, wird nicht lächerlich. Hast du schon von häßlichem Geld gehört? Ich nicht! Du kannst es aus der Mistgrube herausziehen, es bleibt Geld. Weißt du, das goldene Kalb? – das war richtig ... Nur sind wir alle so verlogen, daß wir nicht wagen, dem, was wir wirklich anbeten, ein Standbild zu errichten – und es öffentlich und freimütig und tapfer, jawohl, tapfer anzubeten ... Es sollte kein Kalb sein, das Kalb ist auch nur eine Heuchelei, ein Tiger, ein goldener Tiger! Das müßte es sein, kleine Sibylle. Ein goldener Tiger. An jeder Wegkreuzung sollte er sich wahrheitsgemäß erheben – der goldene Tiger ... Kind, merk dir das! Laß dich auf nichts anderes ein ... Glaube deiner armen Mutter! Hüte dich vor den verfluchten Dummköpfen!«
Sie warf den Kopf in den Nacken und lauschte. Nach einer Weile schüttelte sie den Kopf, seufzte.
»Marius«, meinte sie, »wird ihm jetzt wohl ein wenig Geld geben ... Kannst du so lange bei mir bleiben?«
Sibylle setzte sich neben sie, und die beiden Frauen betrachteten schweigend das beinahe lebensgroße Bildnis Großvater Burguburus, des ersten Notars der Familie und Begründers ihres Wohlstandes. Die Zeit, die verstrich, bis sie Schritte auf der Treppe vernahmen, war nicht so lang, wie sie ihnen erschien, und auch der folgende Auftritt dauerte nur Minuten, ob er gleich für Sibylle so quälend war, daß sie ihn nicht bis zu Ende ertragen konnte.
In der Tür erschienen Burguburu und Emil, beide bleich und ernst. »So sind die Menschen, man muß sie niederschlagen, damit sie Achtung vor einem bekommen«, stellte Burguburu erst einmal fest.
Juliette setzte sich zurecht und sagte hinter den Zähnen hervor:
»Mein Lieber, das ist das erste wahre Wort, das ich von dir höre.«
Sie wollte zeigen, daß sie sich nicht fürchtete, und sie fürchtete sich auch wirklich nicht mehr, aber als Marius ihr bedeutete: »Ich habe dich nicht gefragt!«, blieb sie still.
Ein harter, lichter, ein befreiender Haß stieg in ihr auf, als sie im gleichen Augenblick Spuren der Mißhandlung an Emil entdeckte. Die Oberlippe war angeschwollen, seine Zunge suchte dauernd in einer Zahnlücke, die immer noch blutete, und auf der Stirn zeichnete sich eine Beule ab. Ferner guckte aus dem Nasenloch ein Stück gelber, blutstillender Watte hervor.
Der Junge wollte mit dem Hut in der Hand auf sie zugehn, aber Burguburu legte ihm die erdrote Tatze auf die Schulter und sagte:
»Von hier aus! Vorwärts!«
»Gnädige Frau«, begann Emil mit leiser Stimme. »Ich bitte Sie um Verzeihung.«
Er hielt an.
»Vorwärts!« befahl Burguburu.
»Ich bitte Sie um Verzeihung für meine Gemeinheit.«
»Na, und?« fragte Burguburu, und: »Willst du wohl!« drohte er, als der Junge mit einem Achselzucken zu verstehen gab, daß er nicht weiterwußte.
»Vorwärts! Was bist du?« Er schüttelte ihn am Arm.
»Ein Lump!« brachte Emil trotzig hervor.
»Was noch?«
»Ein Erpresser.«
»Weiter. Was ist mit der Emma?«
Von neuem kräftig am Arm geschüttelt, reckte sich Emil, er faßte einen Entschluß und sagte laut und deutlich, und Juliette beobachtete, wie er mit jedem Wort schwerer atmete:
»Die Emma weiß nichts. Ich habe ihr gesagt, ich hätte noch Geld bei der Marine zugut, das wollte ich mir – auf meinem Schiff in Toulon holen.« Etwas leiser setzte er hinzu: »Ich bin ein Lügner.«
»So«, sagte Burguburu befriedigt. »Und jetzt die Hauptsache!«
Doch Emil verharrte trotz wiederholter körperlicher Ermahnung in seinem Schweigen, bis er, von dem wegtretenden Burguburu in Ruhe gelassen und nach Sekunden völliger Stille im Zimmer, plötzlich aus tiefer Brust aufstöhnte. Gleich darauf preßte er die Hände an die Stirn und rief:
»Es ist mein Kind!... Es ist mein Kind!... Ja, ja, ja, mein Kind ... Ich will die Emma nie mehr schlagen, weil sie, weil sie – oh! hätte sie es mir nie gestanden, der Engel!... Ich könnte der glücklichste Mensch der Welt sein ... Die Emma auch, wir alle. Nie mehr!... Ich habe ja nie daran gezweifelt, es war nur Schlechtigkeit, das Kind – das Kind ist mir aus dem Gesicht geschnitten, ich weiß, ich weiß – lieb wie ein Vögelchen lieb...«
Der Notar hob feierlich die Hand zum Schwur: »Ich schwöre, es ist dein Kind, mein Junge! Und nun wollen wir gehn!«
Und während Emil, den Hut vor dem Gesicht, mit bebenden Schultern dastand und fassungslos weinte, erklärte Burguburu den Damen, er habe einen Wagen bestellt und fahre jetzt mit Emil nach Toulon, um die Fahrkarte zu lösen, und er werde ihn auch in den Zug setzen.
»Ich und Emil«, versicherte er, »scheiden als Freunde. Und Emil bittet die Damen, ihn trotz allem in freundlicher Erinnerung zu behalten.«
»Ich will aber kein Geld«, rief Emil, er ließ den Hut sinken und griff in die Brusttasche. »Ich will es nicht.«
Burguburu ergriff die Hand und legte sie ihm sorgsam an die Hosennaht. »Ruhig, mein Junge! Du tust, was ich dir sage, und legst das Geld für das Kind auf die Sparkasse ... Das Geld kommt nicht von mir. Es kommt von meiner Frau.«
»Danke!« rief Emil schluchzend zu Juliette hinüber und wandte, wie ertappt, schnell das tränenüberströmte Gesicht von ihr ab und zu Burguburu, er schluckte, versuchte zu lächeln, blickte wieder zu Juliette, dann zu Sibylle, die er neugierig betrachtete, als bemerke er sie erst jetzt. Darüber wurde sein Weinen schwächer, und er ließ den Kopf sinken und sprach wie für sich:
»Mein Kind ... Mein Kind ... Es ist lieb wie ein Vögelchen lieb ... Es konnte kaum sehn, da hat es mich schon erkannt... Wenn es mich kommen hört, kräht es wie ein kleiner Hahn ...« Sibylle erhob sich und ging hinaus.
Emil hörte das Geräusch der Tür und blickte verwundert.
»Du darfst meine Frau umarmen«, sagte Burguburu, der mit Tränen kämpfte, und zur Seite tretend, gab er dem Jungen den Weg frei. Juliette, in der Mitte des Sofas, wölbte rasch den Busen, die verdüsterte Miene wurde hell und weich, sie öffnete die Arme.
Aber Emil schüttelte den Kopf. Er schüttelte ihn so heftig, daß die blonden Haare flogen. Er machte einen Sprung zum Sofa, ergriff seinen Rock, der noch immer auf den Knien Juliettes lag, und stieß ihre ausgestreckte Hand zurück. Mit dem Ruf »Emma!« rannte er aus dem Zimmer und schlug hinter sich die Tür zu.
Juliette sanken die Arme weg, sie hielt sich mit Mühe aufrecht und wagte nicht, den Blick zu heben.
»Auf Wiedersehn, mein Engel!« sagte Marius.
Juliette blieb allein zurück in dem Zimmer, das jahrelang ein Heiligtum gewesen war, erfüllt von der schreckhaften und holden Gegenwart des Majors – in dem immer nur mit leiser Stimme gesprochen wurde, wo ein gedämpftes Licht herrschte, wo sie, unerreichbar aller Welt, in heimlichster Seligkeit badete und als Königin einer Schattenwelt den gefährlich süßen Geliebten empfing, der ihr lautlos nahte ... Bis der Notar einen Kronleuchter an die Decke hängen ließ, damit man den Großvater besser sehe, den ersten Halsabschneider der Familie, und die Stille von pöbelhaften Lauten widerhallte!
Langsam begannen Tränen über ihr starr lächelndes Gesicht zu rinnen. Sie waren dick und rund und mußten sich einen Weg durch die karminroten Inselchen bahnen. Zuletzt, als ein Hohlweg entstanden war, rollten sie eiliger, aber immer noch einzeln wie Perlen, die zu kostbar sind, um vermengt zu werden ...
Beim Abendessen, das sehr verspätet stattfand, erzählte Marius von Missetaten, die ›unsere braven, kleinen Matrosen‹ in den letzten dreißig Jahren begangen haben sollten. Emil wurde nicht erwähnt.
Gegen Sybilles Erwarten verlief die Nacht verhältnismäßig ruhig. Es fand nur eine kurze Auseinandersetzung statt, wobei verschiedentlich das Wort ›Platzpatrone‹ fiel. Den Notar versetzte das Wort in Wut, bei Juliette löste es scharfes Lispeln und Kichern aus. Mitten im Streit trat, nach einem leisen Aufschrei Juliettes, Stille ein – jene von wenigen, heftigen Lauten unterbrochene Stille, die Sibylle erstarren ließ und dann mit zugehaltenen Ohren unter die Bettdecke jagte.