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Entbehrungen und Geständnisse

Die Tugend nährt sich vom Laster.

Burguburus Fehltritt mit Emma erhob den Verzweifelten in den Stand der Gnade, so daß er seine Zugehörigkeit zu Juliette, nachdem er sie als sein Schicksal erkannt hatte, feurig bejahte und sich bereitstellte, alles zu erdulden, sogar gewisse materielle Opfer, um sich mit der Geliebten zu verbinden, wie das Gesetz es befahl. Unordnung widerte ihn an. Er kannte einen großen König, dem es auch nicht geschadet hätte, sich etwas besser im Zeug zu halten ... Der Freidenker Burguburu hatte das Gesetz entdeckt.

Was man leichthin Sitte und Anstand nannte, als handele es sich um willkürliche und rein äußerliche Abmachungen, über die eine eigenwertige Persönlichkeit sich mit Recht, ja mit sittlichem Gewinn hinwegsetzen durfte, stellte im Gegenteil die Summe der Erfahrungen von Geschlechtern dar, den Kampf einer Elite gegen die Barbarei der Masse, den Sieg der Gesittung über das Chaos.

Im Grunde hatte der Notar nie daran gezweifelt, obwohl er durch die Wirrungen der letzten Monate um ein Haar zum Rebellen und in der weiteren Folge zum Opfer seiner Empörung geworden wäre. Juliette schien ihm gerade darin, was die allgemeine, daher zu Bequemlichkeit neigende, feige Anschauung verletzte, nämlich in ihrem übertriebenen, das hieß soviel wie heroischen Festhalten an Sitte und Anstand als das Symbol der ›Satzung‹ schlechthin, als das gewappnete Sinnbild des ›Gesetzes‹, und was er unter vertraulicheren Umständen an Kränkungen (hauptsächlich seiner Eigenliebe) erfahren mußte, das waren folgerichtig nur die kleinen Ausläufer einer großen Gesinnung. Und nun zeigte sich, unter anderm an einem ihr aufgedrängten Bettspiegel, diesem Gleichnis orientalischer Ausschweifung, wie schwer ihr im eigenen Hause und bis in den verschwiegensten Winkel ihre Haltung gemacht worden war. Burguburu wünschte den Frieden, an ihr lag es, die Bedingungen festzusetzen, an ihm, sie dankbar aus ihrer Hand entgegenzunehmen. Emma sollte mit vielen guten Worten ein kleines Schweigegeld erhalten ... Übrigens weinte sie nicht mehr. Sie war aus ihrem Zimmer geschlichen, er hörte, wie sich unter ihm in der Küche ihre fleißigen Hände rührten ... So weit war Burguburu in seinen Erwägungen gelangt, als es an der Haustür klopfte. Eine halbe Minute später stand Juliette neben ihm.

Er stellte sich schlafend. Eine große Angst war in ihn gefahren, die er anders nicht zu halten vermochte.

In dem spärlichen Licht, das durch die Schlitze der Fensterläden drang, hatte er für einen Augenblick ihr blasses, merkwürdigerweise nicht ihm, sondern der Tür zugewandtes Gesicht gesehn. Sie schien zu lauschen – wahrscheinlich, um herauszubekommen, ob er ehrlich schlafe. Trotzdem es ihm schwer fiel, brachte er seine Atemzüge auf ein Maß, das er für das gesetzmäßige eines Schläfers hielt.

Er vernahm, wie sie leise zur Tür ging und nach einem weiteren Stillstand plötzlich die Tür aufriß. Dann im Flur eine Ohrfeige, der ein widerliches Aufschreien Emmas folgte. Gleich darauf war Juliette wieder im Zimmer. Während sie die Tür abschloß, sagte sie:

»Natürlich hat das Ferkel gehorcht.«

Es war ihre gewohnte, sanfte Stimme.

Burguburu blieb still, aber es gelang ihm nicht mehr, den mutmaßlichen Atemzug eines ehrlichen Schläfers, unter dem seine Lippen zitterten, festzuhalten, das ganze Pumpwerk stockte, und nun konnte er überhaupt nicht mehr atmen. Dieser Zustand dauerte eine Ewigkeit. Ein Rascheln und Gleiten im Zimmer veranlaßte ihn, vorsichtig ein Augenlid zu heben. Er schloß es entsetzt, denn was er flüchtig wahrnahm, steigerte seine Mutlosigkeit derart, daß ihm der Schweiß ausbrach und nach weiteren Sekunden des Ringens ein Stöhnen seine endgültige Niederlage anzeigte. Die Witwe Bosca war im Begriff, sich zu entkleiden ...

Glücklicherweise ließ sie ihn jetzt allein.

Im Badezimmer lärmte das Wasser, brutal, als würgte es mit einem Griff die gütige Stille ab, darauf plätscherte es anzüglich und fügte noch zur Drohung den Spott, er hörte die Frau auf bloßen Füßen hin und her gehen, nach Pausen voller Gefahren setzte das Rumoren von neuem ein – Burguburu dachte an die Toilette eines Athleten vor seinem Auftreten.

Endlich kam sie, und es war ihm lieber so, als daß sie die Wartezeit noch länger ausdehnte, alles war ihm recht, sofern nur die Ungewißheit ein Ende nahm.

Sie kam in einem hellblauen Hemd und duftete wie ein Treibhaus voll Hyazinthen. Das lange, schwarze Haar hing über die Schultern. Ihr Gesicht war frisch geschminkt. Langsam neigte sich das Gesicht über ihn, erschreckend in seiner Röte und Blässe, und er fühlte den Blick ihrer Augen, einen Blick aus einer exotischen Maske, wie eine Wunde in seinem Fleisch. Dennoch waren es die Augen, aus denen er Mut schöpfte, denn was sie so schmerzhaft machte, ihr Ausdruck glühender Verzweiflung, nahm ihnen wiederum viel von ihrer Gefährlichkeit. Mit dem Instinkt eines in die Enge getriebenen Tieres witterte er ihre Schwäche. Sie, die so stark und entschlossen auftrat, erwartete alles von seiner Nachgiebigkeit. Sie kam in vollem Kriegsschmuck, um sich um so wirkungsvoller für besiegt zu erklären. Ihre Leidenschaftlichkeit bildete ihr letztes Treffen, und sie griff an, um seine Verzeihung zu erwirken.

Sobald er einsah, daß sie ihn nicht unbedingt, in alles niederwerfender Leidenschaft, für eine Sache anfordern werde, der er sich im Augenblick nicht gewachsen fühlte, kehrten Burguburus Seelenkräfte mächtig zurück. Mit einer wahren Entdeckerfreude verfolgte er den Ausbruch ihrer Gefühle, der an Heftigkeit, Farbigkeit und Abwechslung alles überbot, was er bis in die jüngste Vergangenheit erlebt hatte. Die Erinnerung an Emma verschwand wie ein Kaninchen im Rachen eines bengalischen Tigers. Unangreifbar, wie er war, ließ er sich auf besondere Art zu den Göttern erheben und verwandelte sich gleichsam in einen vernunftbegabten Bettspiegel. Er wurde weise wie einer, der alles Menschliche versteht, und mild wie ein Engel, der einen Teufel sich vergeblich abrackern sieht.

Darüber beachtete er aber auch, was er die ›materielle Seite‹ einer Angelegenheit zu nennen pflegte, und unterwarf eine gewisse, bereits großmütig abgeschlossene Rechnung einer Nachprüfung zu seinen Gunsten. Vom Aussetzen eines Nadelgeldes konnte nicht mehr die Rede sein angesichts der aufrichtigen Selbstvorwürfe der Witwe, die wie eine Sultanin in seinen Armen glühte – nur noch von Gütergemeinschaft unter ausschließlicher Verwaltung des Mannes ... Und um dies und einiges andre der Art mit aller Klarheit festzusetzen, solange Juliettes gerechte und billige Beurteilung der Lage anhielt, fing er ihre Hände ein und verwahrte sie mit kräftigem Druck in seinen Pranken. Und das peinigende Feuer, das sie über ihn breitete, zerfiel in Asche.

Sie sagte: »Marius! ... Marius! ... Du wirst doch nicht einer anständigen Frau die Schande antun, ihre Glut zu verschmähen, du Ungeheuer!«

»Höre, Geliebte«, sprach Marius, und er küßte sie auf verschiedene Stellen, nur nicht auf den grimmig suchenden Mund. »Auch ich bin seit heute früh, wo die große Schande über mich kam, ein neuer Mensch ... Du sagst, du hättest gefürchtet, mich auf ewig verloren zu haben ... Wisse, daß sich hier im Zimmer der Revolver befindet, mit dem ich heute nacht einem sinnlos gewordenen Leben ein Ende setzen wollte! ... Während wir uns zu fliehen meinten, haben wir endlich zu uns gefunden und liegen uns im Arm wie ein junges Liebespaar, glühend und selbstvergessen. Du bist aber eine Dame, Juliette! Und ich bin ein Herr ... Wir gehören nicht zu den niedlichen Hündchen, die tun, was die Jahreszeit ihnen eingibt. Ich bin mir bewußt, daß ich in diesem Sinne spreche, und wenn du in Verzweiflung und plötzlich entfesselter Liebe glaubtest, dich über gewisse Schranken hinwegsetzen zu müssen, um wieder gutzumachen, was wir in kleinmütiger Ängstlichkeit verschuldeten, so beweist dies ein Temperament und eine Gesinnung, wie wir sie bei den besten unsrer Rasse, bei großen Königen und niedlichen Witwen, feststellen können. Juliette! Wie ich selbst mich jetzt mit aller Seelenkraft bezwinge, so bitte ich dich – um das gleiche. Steh auf! Erwarte mich in deinem herrlichen, goldgelben Zimmer. Ich folge dir – in einer Minute.«

Mit einem Ruck befreite Juliette ihre Hände und legte sie wie ein Joch um seinen Hals.

»Marius, du sprichst gut«, flüsterte sie, »aber, bei allen Heiligen, du hast nicht die geringste Ahnung, was Liebe ist.«

»Steh auf!« donnerte Marius.

»Stein«, schrie sie. »Ich lasse dich nicht, es sei denn, du segnetest mich.«

»Segnen muß dich der ehrenwerte Doktor Blanc! Er ist Standesbeamter.«

Sie zog die Arme um seinen Hals fester an: »Schwörst du? Heute noch? Wir sind längst aufgeboten. Du wolltest nur nicht.«

»Nein, du wolltest nicht.«

»Heute, Marius!«

»Heute? Unmöglich! Bitte, drücke nicht so. Morgen.«

»Gut, morgen! Schwöre –, bis der Tod einen von uns erlöst!«

»Geh zum Teufel!« brüllte er. »Du erstickst mich. Sofort aus dem Bett!«

Es half nichts, ihre Arme waren aus Eisen, er mußte in aller Form schwören, dann erst ließ sie ihn frei. Nachdem er sie noch mit Mühe gehindert hatte, ihn unter einer Sturmflut von Küssen zu zertrümmern, lief sie mit dem roten Schlafrock in der Hand davon. Den Schlafrock hatte sie zu seiner Verwunderung unter dem Bett hervorgezogen. Dorthin mußte ihn Emma mit einem Fußtritt befördert haben.

Dann saßen sie einander unter den Bildern Heinrichs IV. gegenüber, in vollem Sonnenlicht, das sie gelegentlich ein wenig blendete, so daß ihre Blicke sich ungezwungen ausweichen konnten. Er trug sein frischgebürstetes Pilgerkleid, nur die Schuhe fehlten – die waren in der Küche geblieben. Seine Haltung verriet gediegene, unternehmungslustige Bürgerlichkeit. Juliette thronte purpurglühend in aufgelösten Haaren, halb große babylonische Hure, halb Magdalena, von Reue und selbstloser Liebe verschönt, und dann zeigte sich, daß Juliette das schnöde Geld, als von ihm die Rede war, gleichgültig übersah und lediglich auf Einzelheiten der bevorstehenden Eheschließung zielte.

Die Zeugen der feierlichen Handlung wurden festgesetzt, für Juliette der Posthalter Plaisir, für Burguburu ein Kollege und Mitglied der Touloner Akademie, ein hervorragender Kenner altprovenzalischen Eßgeschirrs.

»Morgen früh elf Uhr im Rathaus«, schloß Burguburu.

»Anschließend die Kirche«, sagte sie mit scheinbar größter Selbstverständlichkeit.

Er blieb höflich, aber bestimmt.

»Verehrte Juliette, meine Stellung in der Welt verbietet mir Extravaganzen. Mein Kollege von der Akademie würde sich niemals zu einer so abergläubischen Handlung hergeben. Ich bitte Sie, auf diese Förmlichkeit zu verzichten.«

Nach einer Pause, er beschattete die Augen mit der Hand, blickte sie forschend an, erklärte Juliette:

»Dann werden wir also in wilder Ehe leben ... Für die Kirche ist das eine wilde Ehe.«

Lächelnd verbarg er sich in einem Sonnenstrahl und schoß aus dem goldgelben Hinterhalt den Pfeil ab:

»Gnädige Frau, ich glaube über Beweise zu verfügen, daß die Wildheit der Ehe ihre Schrecken für Sie verloren hat.«

»Es ist ein Unterschied, Herr Notar«, erwiderte sie, »eine Sünde zu begehn und im Dauerzustand der Sünde zu leben. Sie werden mir erlauben, mit unserm guten Pfarrer Rücksprache zu nehmen.«

»Tun Sie das, verehrte Juliette! Ich verurteile jeden Gewissenszwang ... Morgen früh elf Uhr also das Rathaus, anschließend ein kleines Essen mit den Herrn Zeugen in den Dreizehn Feinschmeckern, dann die Hochzeitsreise. Wohin?«

»Nach Korsika«, bestimmte sie. »Ich habe ein Gelübde getan, nicht zu sterben, bevor ich die Heimat seiner Väter gesehn habe.«

»In diesem Fall, liebe Juliette«, erklärte er aus seiner Goldwolke heraus, »dürfen Sie auf ein langes Leben hoffen. Ich habe kein übertrieben großes Interesse für seine Väter ... Vorläufig gehn wir nach Porquerolles. Das ist näher und billiger und auch eine ganz hübsche Insel ... Wenn Sie aber unbedingt Wert darauf legen, den Vorfahren Ihres Gatten eine Huldigung zu erweisen, so schlage ich Ihnen Marseille vor. Dort stammt die Familie her, deren Namen Sie in Zukunft tragen werden.«

»Ja, Marius«, sagte sie sanft, »gewiß. Nur würde ich angesichts der vorgeschrittenen Jahreszeit einen ländlichen Aufenthalt vorziehen. Man hat mir gesagt, Marseille stinke um die Zeit wie die Pest.«

Burguburus Gesicht trat grinsend aus der Sonne hervor.

»Eine Verleumdung, Liebling, von der ich annehmen will: sie ist nicht auf Ihrem Gartenbeet gewachsen. Marseille hat seit zweitausend Jahren aufgehört, schlecht zu riechen, genau gesagt, seit dem Konsul Marius.«

Sie betrachtete herausfordernd seinen Schädel, der wie eine umgedrehte Salatschüssel glänzte, und meinte, er als Geschichtschreiber der Provence müsse Bescheid wissen, womit freilich noch nichts über die Zuverlässigkeit seines Geruchssinnes gesagt sei. Und nun stelle sie die Frage, was sie morgen anziehen sollte.

Dabei zeigte sich, daß sie kein einziges helles Kleidungsstück besaß, und bereits sah Burguburu stirnrunzelnd die Braut als Grabengel in die wilde Ehe treten, als sie ihn unter Anführung der nötigen Maße freimütig bat, in Toulon ein ›Kleidchen‹ für sie anzuschaffen, wie es ihm gerade gefalle.

»Gottverdammichnicht!« rief er aus. »Ihr Vertrauen ehrt mich nicht bloß, ich nenne das eine Liebeserklärung!«

Er ließ sich auf das Knie nieder, legte den Kopf in ihren Schoß. Alles andre, fuhr sie fort und strich ihm mit den Fingerspitzen über den Schädel, alles weitere sollte auf der Hochzeitsreise besorgt werden – gleichfalls nach seinem guten Willen und Geschmack. Sie nahm an, Porquerolles verfüge über erstklassige Modehäuser ...

Über die gleichen wie Korsika, behauptete er vergnügt und kam auf die Füße mit einem Schwung, der ernste Ansprüche auf Jugendlichkeit anmeldete. Und dann machte er, unter dem Vorwand, sich seiner inzwischen gereinigten Schuhe zu versichern, den Versuch, die Angelegenheit mit Emma vertraulich und rasch ins reine zu bringen. Das Wagnis scheiterte am Einspruch Juliettes, die das Betreten der Küche durch den Notar, und gar noch in Strümpfen, anstößig fand. Sofort kam er auf die Leiter zu sprechen.

Er sah Juliette dabei nicht an, so wenig wie sie ihn angesehn hatte, als er zu Beginn der Unterhaltung schilderte, wie er nach dem Lauf über die Weinäcker und dem Zusammenbruch bei der Pinie unter Emmas freundlicher und selbstloser Obhut zu Tod erschöpft in Juliettes Bett eingeschlafen war.

Die Leitergeschichte erzählte Burguburu sowohl in der ersten wie in der zweiten, verbesserten Fassung, und er ließ keinen Zweifel, daß er diese für die einzig richtige hielt. Aber Juliette verwarf die Traumdeutung und bekannte sich zum Einbruch!

»Ich habe keine Leiter gesehn«, sagte sie. »Da indes verschiedene glaubwürdige Leute behaupten, sie mit eigenen Augen gesehn zu haben, hielte ich es für ungeschickt, die Leiter beiseite zu schieben. Natürlich haben sie die gleichen Burschen hingestellt, die auch am Gartentor gewirkt haben. Warum? Aus Hohn – um zu zeigen, daß niemand gewillt sei, da einzusteigen, obwohl man es Jung und Alt mit der Leiter bequem mache, ein so widerwärtiges Frauenzimmer hause am Ende der Leiter! ... Sie sollen sich getäuscht haben, die Burschen! Wir stehlen ihnen die Leiter mitsamt ihrem Spaß. Passen Sie auf, Marius! Die Leiter haben Sie vom Neubau geholt. Sie sind zu mir eingestiegen – Romeo zu Juliette. Ruhig, Herr Notar! Man wird uns bewundern, wie man Romeo und Julia bewundert ... Und, merken Sie sich das, Marius: es war nicht das erstemal, daß Sie mit Rücksicht auf die Köchin diesen Weg wählten! Leider haben wir uns an dem Morgen verschlafen, so daß die Leiter stehnblieb und gesehn wurde ... So, ihr Jüngelchen! Ihr seid zu spät gekommen mit euerm bäuerischen Polterabendspaß! Nun lacht, ihr da unten in Ranas-sur-mer! Lacht nur, wir lachen mit! Haha! Hahaha!« Sie lachte laut und ausdauernd, ohne ihn seiner mißtrauischen Nachdenklichkeit entreißen zu können.

Da gab Juliette ihm von oben herab zu verstehn, er brauche sich nicht erst lange zu bedenken, als Verbreiter phantastischer Nachrichten sei er gut eingeführt, und diesmal werde man ihm sogar glauben – ein Rausch von Gläubigkeit werde über die Ranasser kommen, denn so eine Schmutzerei, die passe ihnen, nichts glaubten die Leute lieber.

Die Zwanglosigkeit in Ton und Inhalt ihrer Worte ärgerte ihn, mehr noch ärgerte ihn ihre wiedergefundene Überlegenheit. Außerdem entsann er sich anderer Worte, die von der Schande einer anständigen Frau handelten, ihre Glut verschmäht zu sehn, und so fragte er beleidigt:

»Sie muten mir zu, Juliette, mich öffentlich einer Sache zu beschuldigen, die Sie selbst eine Schmutzerei nennen?«

Ihre Antwort war noch viel beleidigender als die gerügte Zumutung.

»Welch ein Unsinn, Marius!« sagte sie sanft. »Sie haben sie ja gar nicht begangen! Sie wären gar nicht im Stand gewesen, sie zu begehn! Wenigstens kann ich mir nicht vorstellen, wie Herr Notar Burguburu eine wacklige Leiter hochklettert und, auf die Gefahr hin, sich das Genick zu brechen, wie ein Seeräuber zu seinem Schätzlein einsteigt. Da muß ich ja lachen! Aber geben Sie acht, Marius! Gerade weil es die Unwahrscheinlichkeit selbst ist, werden es die Leute glauben – einfach, weil schon die Vorstellung, wie Sie Ihr Bäuchlein da hinaufschieben, so unendlich komisch wirkt. Übrigens sehe ich in dieser Leiter die einzige Möglichkeit, unsre Ehre zu retten – und nebenbei die Leute zum Lachen zu bringen. Seien Sie kein Frosch, Marius! Das ist ja großartig ... Hahaha! Hahaha!«

Lachend durchschritt sie das Zimmer und drückte auf die Klingel, und als Emma verschüchtert eintrat, befahl sie ihr, die inzwischen wohl gründlichst gereinigten Schuhe des Herrn Notars zu bringen, wobei sie, den roten Schlafrock um die Hüften gerafft, hoch aufgerichtet auf das Mädchen herabsah. Und so erfuhr Emma, daß der verlorene Liebhaber auch ihr Herr nicht mehr war. Lautlos verschwand sie aus dem Zimmer.

Juliette schwebte zu Burguburu und küßte ihn auf den Schädel.

»Ich ziehe mich jetzt an, Marius, mein Liebling. Wenn das Mädchen die Schuhe bringt, sprechen Sie, bitte, das Nötige mit ihr ... Lassen Sie die Tür zum Flur auf. Das schickt sich so.«

Sie ging, und bald darauf erschien Emma.

Burguburu hielt die Tür fest, die Emma schließen wollte, da kniete sie auf der Schwelle nieder und zog ihm die Schuhe an. Gerührt von der Großmut des Volkes, atmete er den sauberen Geruch ein, der ihrem Nacken entstieg, und machte ihr ein Zeichen. Sie traten ins Zimmer, er schloß vorsichtig die Tür. Dann umarmte er sie, flüsterte: »Lebewohl, mein Engel, lebewohl!« und drückte sie in den Sessel, in dem Juliette gesessen hatte.

Er erklärte ihr alles: die Leiter, die niemand anders als er selbst benützt habe, und daß die gnädige Frau und er längst heimlich getraut seien, dies jedoch aus bestimmten Gründen bisher geheimgehalten hätten, er erklärte ihr die Wirkungen des Frühlings und das Verführerische eines einfältigen, schönen Mädchens nach einer Schreckensnacht, die bevorstehende Hochzeitsreise und baldige Rückkehr und auch, warum Emma sich inzwischen eine neue Stelle suchen müsse.

Sie begann leise vor sich hinzuweinen, weil sie »alles, alles verstand«, und als er zum Schluß die Brieftasche zog, flehte sie mit erhobenen Händen: »Nicht, o bitte, nicht«, griff mit beiden Händen nach seiner erdroten Tatze, küßte sie und floh aus dem Zimmer.

Die Tür blieb offen.

Aus der gelben Stube fiel ein Sonnenstrahl bis in den Flur. Auf dieser Triumphstraße hielt Juliette, im Witwengewand, zwei karminrote Inselchen im weißgepuderten Gesicht, ihren Einzug, und Burguburu, der auf der Terrasse auf und ab ging, machte halt und schüttelte mißmutig den Kopf. In königlicher Haltung trat sie auf ihn zu und sagte: »Verzeihen Sie, Marius! Es ist das letztemal, daß Sie mich in diesem Kleide sehen.«

Sie blickte an ihm vorbei auf die hellblaue See, die unter dem Mistral schäumte. Zu Burguburus Ärger und heimlichem Entzücken war es der alte Blick in die Ferne, wo das Paradies lag oder ein andrer Ort unsäglicher Wonnen. Es war auch wieder das Lächeln der Seligen, mehr geahnt als wahrgenommen, unfaßbar und deshalb doppelt berückend, wie ein inneres Leuchten verklärte es langsam ihre Züge ...

Immerhin konnte Burguburu, als er ihrem Blicke folgend sich umdrehte, zum erstenmal etwas in der Ferne entdecken. »Ja«, sagte er, »eine Torpedobootflottille. Sie verläßt in Gefechtslinie unsere Bucht.« Sie nickte, und ihr Lächeln trat gleichsam über die Ufer und überschwemmte ihr Gesicht. Ihre Haltung bekam etwas Erweichtes, Hingegebenes. Verständnislos starrte Burguburu sie an ...

Sibylle saß neben Paul, die eine Hand hielt das Steuer, die andre lag auf ihrer Schulter.

Sie fuhren gemächlich durch den frühen Abend, Sibylle fühlte sich neu geboren, der Professor in Marseille hatte ihr versichert, ihre Lunge wäre völlig ausgeheilt, auf der Röntgenplatte könnte man kaum die Narben erkennen ...

Engel! – Engel der Verkündigung, mit einem Heiligenschein um das Haupt, mit der Lilie der ersten Unschuld in der Hand, sind die Ärzte, wenn sie die Botschaft der Gesundung über dir aussprechen. Selbst Männer, in der Krankheit zu Kindern geworden, spüren das Verlangen, sie zu umarmen, vor ihnen in die Knie zu sinken – was erst mag ein Mädchen empfinden, das leben muß, weil es liebt, wenn es die Worte vernimmt: Bei Gott ist kein Ding unmöglich, steh auf, ich verkünde dir das Wunder, du wirst leben!

Paul und Sibylle waren lachend über den Ginestepaß gefahren, den sie am Morgen bei der Hinfahrt ein böses Mondgebirge schalten, weil der unfruchtbare, blendendweiße Kalkstein, der weder Menschen noch Tiere leben läßt, einem gestorbenen Planeten anzugehören schien – wohingegen sie bei der Rückfahrt ein wildes Kaninchen über die Straße springen sahen und, als sie ihm nachblickten, in einer Talmulde einen Bauernhof entdeckten.

Er war von kleinen Äckern umgeben, auf denen Wein und Hafer und Oliven gediehen. Die Bewohner blieben unsichtbar, und der Hofhund fühlte sich so einsam, daß er trotz der Entfernung freudig die Gelegenheit wahrnahm, Paul und Sibylle anzubellen.

Die seltsamen Bildungen des Gesteins, kauernde, aufrechte, fliehende Formen, meist zu Gruppen versammelt, am Morgen fratzenhafte Geschöpfe einer andern Welt, die die vorbeieilenden Fremdlinge verhöhnten, wurden jetzt von Sibylle als Figuren eines überlebensgroßen Naturtheaters angesprochen. Sie legte ihnen auch gleich die menschenfreundlichsten Texte unter. Und als nun hinter Cassis jene freie, edelgeformte Felsspitze auftauchte, die von der Bevölkerung la couronne de Charlemagne, die Krone Karls des Großen, genannt wird, erhob sich Sibylle ein wenig im Wagen und neigte das Haupt, mit der lachend ausgesprochenen Absicht, die schönste aller Kronen in Empfang zu nehmen.

Von Cassis an (einer Handvoll alter Häuser, auf die von den Höhen neue Villen herabguckten wie wohlhabende Theaterbesucher auf ein Schauspiel der Armut) waren sie dann viel beschäftigt, weil hier das ›Land der Freunde‹ begann, deren mehr oder minder versteckte Häuser von weitem gegrüßt werden mußten.

»Komisch«, meinte Sibylle, »alle Freunde Ihrer Mutter sind Einsiedler. Jeder wohnt mindestens zwei Stunden Wegs vom andern entfernt.«

»Nur einsame Menschen sind gut«, wiederholte Paul ein Wort seiner Mutter.

»Gut?« fragte Sibylle. »Weiß ich nicht. Aber vielleicht glücklich.«

Paul zuckte ungeduldig die Achsel – ›Glück‹ war ein Wort, das er verabscheuen gelernt hatte. Seitdem Sibylle im Haus Rosmarin wohnte, war es zu einem Spielzeug geworden, nach dem sie dauernd suchte. Die meiste Zeit blieb es unauffindbar. Manchmal behauptete sie, es gefunden zu haben, dann ging es gleich wieder verloren. Sie quälte sich und andre.

»Lassen Sie das, ich bitte Sie, Sibylle«, und dabei drückte er auf den Gashebel, daß der Wagen einen Sprung machte wie ein geprügelter Esel. »Wie oft soll ich es Ihnen sagen, das Glück ist kein Teufel, der kommt, wenn man ihn an die Wand malt, im Gegenteil, gerade dann kommt es nicht.«

»Aber man soll sich doch bereit halten«, meinte sie kleinlaut.

»Innerlich, mein Kind! ... Es ist geradezu verboten, davon zu reden! In den Boden verkriecht es sich, wenn Sie von ihm sprechen, um so tiefer, je lauter Sie es beschwatzen, es ist ein Tier, das keine Ansprache verträgt, die Natur hat es so geschaffen ... Mir brauchen Sie ja nicht zu glauben. Aber meine Mutter sagt dasselbe.«

»Abgemacht«, sagte Sibylle nach kurzer Gewissensforschung. »Es soll das letztemal gewesen sein. Ich will's mal mit Schweigen versuchen.«

»Am besten, Sie denken überhaupt nicht daran. Tun Sie, als ob es nicht auf der Welt wäre, weder als Freund noch als Feind – überhaupt nicht.«

Sibylle ging nochmals in sich. Nach einer Minute tauchte sie auf und meldete, was sie in der Tiefe gefunden hatte.

»Mein Lieber, das ist völliger Unsinn! Die Heiligen selbst denken an nichts andres.«

Paul schwieg verblüfft. Nach allem, was er von Heiligen wußte, war gegen die Behauptung Sibylles nichts einzuwenden, sie war schlagend. Freilich, an Heilige hatte er bisher nicht gedacht, sie lagen außerhalb seines Lebens. Die Wahrheit zu sagen, war ihm noch keiner begegnet, weder im Schulhof noch sonstwo. Zwar behauptete seine Mutter, der Pfarrer von Ranas sei eine Art ›Heiliger‹, aber ihn wiederum konnte Paul sich nicht gut bei der Beschäftigung mit dem Glück vorstellen. Ein Pfarrer hatte andres zu tun, zumal in einer Freidenkergemeinde wie Ranas, wo man ihn meist nur bei Taufe, Hochzeit und Begräbnis benötigte – und auch bei solchen Anlässen warteten, außer den Mitgliedern der engsten Familie, alle Männer des Gefolges auf dem Platz, bis die Familie die Kirche verließ, und schlossen sich erst dann wieder dem Zuge an ... Die Art, wie die Südländer ihre angeborene Gutmütigkeit (nicht zuletzt dem lieben Gott gegenüber) mit ihrem politischen Radikalismus in Einklang brachten, bildete eine Quelle der Heiterkeit für Frau Pauline, aus der auch der Sohn fleißig schöpfte. Es kam ihm fraglich vor, ob dieser auf Grund eines gegenseitigen ›Leben und Lebenlassens‹ abgeschlossene Vergleich mit dem Himmel für das Wachstum der Heiligkeit förderlich sei. Und darunter hatten die Heiligen im allgemeinen zu leiden ...

Aus Höflichkeit behielt Paul seine Bedenken für sich.

»Es wäre nett von Ihnen, Sibylle, wenn Sie mir eine Zigarette ansteckten«, sagte er.

Sibylle, die ihn aus den Augenwinkeln beobachtete, nickte eifrig.

»Wollte ich Ihnen gerade vorschlagen, mein Lieber. Wenn ihm nichts mehr einfällt, versteckt sich der Herr der Schöpfung hinter einer Zigarette. Auf die Weise, glaubt er, bleibt er obenauf.«

Sie reichte ihm die brennende Zigarette und fragte:

»Darf ich mitrauchen?«

›Mitrauchen‹ hieß, daß sie mit gesammelter Aufmerksamkeit zusah, wie er rauchte.

»Sibylle«, rief er, »ich hab's! Sie sind zu gerissen für das Glück! Das Glück fürchtet sich vor Ihrem Köpfchen. Mir geht es gerade so. Ich fürchte mich vor Ihrem Köpfchen.«

»Mit andern Worten«, sie ahmte ihn nach, wie er den Zigarettenrauch ausstieß, »Paul Tavin und das Glück sind eins!«

Der Junge errötete. Sie sah es im Spiegel an der Windscheibe und sagte in herablassendem Ton, der durch nichts begründet schien:

»Es wäre nett von Ihnen, wenn Sie als Gegendienst für das Anstecken der Zigarette – zum Beispiel ein bißchen den Arm auf meine Schulter legten ... Ich spüre es dann besser, daß ich gesund bin ...«

Sie fuhren gemächlich durch den frühen Abend.

Paul zeigte nach La Cadière hinauf und erwähnte die Eremitin, die sich über dem Absturz zweier Jahrtausende ein kleines, gelbes Haus erstellt hatte und einen Mandelbaum anbetete. Und dies brachte Sibylle auf neue Gedanken. »Paul, haben Sie sich einmal den Major genau angesehn?« fragte sie. Er meinte: ja, ziemlich – ihm genügte es.

»Sagen Sie das nicht, Paul ... Ich hätte auch geschworen, ich könnte ihn mit geschlossenen Augen abmalen. Aber gestern bin ich mal hinübergegangen und habe ihn mir wirklich angesehn, und da war er ganz anders.«

»Vielleicht«, meinte Paul, »hat er sich über die Wiederverheiratung der Witwe geärgert.«

»Lachen Sie nicht, mein Lieber! Es ist sehr ernst ... Erst habe ich mir nämlich das Bild auf dem Schreibtisch Ihrer Mutter genau angesehn, nicht Ihren Vater, Paul – das kleine, wissen Sie, den freundlichen Mann im Spital. Ich habe mir ein Herz gefaßt und Frau Pauline gefragt, wer das sei. ›Mein bester Freund‹, hat sie gesagt. ›Ich habe ihn im Krieg gepflegt, er ist gestorben.‹ Sie sagte es ganz ruhig, mit einem Lächeln. Ich habe sie angesehn und habe das Bildchen angesehn, und dann bin ich hinübergegangen und habe mir den Major betrachtet.«

»Na, und?« Sie gab keine Antwort. »Fertig die Geschichte?« fragte Paul.

»Nein«, antwortete Sibylle. »Sie fängt erst an.«

Da sie wiederum in Schweigen verfiel, erklärte Paul:

»Da warte ich halt, bis Sie sie fertig haben, die Geschichte.«

»Sie ist fertig ... Tun Sie mir den Gefallen, mein Lieber, und folgen Sie mal meinem Beispiel. Am besten nehmen Sie das kleine Bild nächsten Sonntag mit hinüber und vergleichen es mit dem andern. Sie können über die Veranda ins Haus. Mit Ausnahme der Haustür öffnen die Schlüssel von Stellamare alle Türen ... Ich sage Ihnen, der Major sieht auf einmal anders aus.«

»Er hat sich also doch verändert!«

»Weiß ich nicht. Vielleicht sehe ich ihn auch nur mit andern Augen. Tun Sie mir den Gefallen, Paul! Gehn Sie hinüber ... Die beiden sind zum mindesten Brüder.«

»Recht ungleiche Brüder«, sagte Paul, der noch immer kein Wort von der Räubergeschichte glaubte.

»Gar nicht, mein Junge. Unheimlich ähnlich. Bei uns ist er nur schlecht gelaunt... Er wird seine Gründe haben ... Kein Mensch kann Frau Pauline angucken, wie der Major bei uns guckt. Ihre Mutter muß man anlachen, es liegt an ihr, nicht an uns. Das ist der ganze Unterschied.« »Wenn ich recht verstehe«, meinte Paul, »sind die beiden Brüder bereits ein und derselbe Mann.«

Er warf ihr einen Blick zu und stellte fest:

»Sie sehn aus wie ein Spitzbube, der einen guten Fang gemacht hat.«

»Habe ich auch! Ich bin entzückt... Denken Sie nur: auf einmal habe ich einen Vater – und sogar einen netten! Und wo habe ich ihn nach neunzehn Jahren gefunden? Auf dem Schreibtisch meiner besten Freundin. Das ist viel abenteuerlicher als Ihre Eremitin da oben.«

»Sibylle, nehmen Sie es mir nicht übel, ich finde, es geht ein bißchen schnell mit Ihren Freundschaften und Vaterschaften. Pauline kennen Sie gerade drei Wochen – da sind Sie zu uns ins Haus gekommen. Und wann haben Sie Ihren neuen Vater bekommen?«

»Heute früh. Kurz vor unsrer Abfahrt.«

»Und haben das Ereignis so lange verschwiegen?«

»Ich wollte überhaupt nichts sagen. Das heißt: ich wollte eine Gelegenheit abwarten, Ihre Mutter zu fragen.«

Paul wendete ihr das Gesicht zu, zweimal, dreimal, der Wagen lief schneller, er zog sie ein wenig an sich und sagte:

»Sibylle, wissen Sie was? Jetzt, gerade jetzt sehen Sie so – zufrieden aus ... Wie steht's? Sind sie glücklich?«

»Beinahe«, gab sie zu und berührte ihn flüchtig mit der Schulter. »Glauben Sie, ich kann Pauline fragen?«

»Selbstverständlich!« rief er. Nach einer Weile lachte er hell auf.

»Das wäre ja großartig! Zum Heulen schön, Sibylle – zwei Majore in einem! Er schaut dich wütend an, und wenn du ihn umdrehst, lacht er. Ein Teufelskerl!«

»Glauben Sie, Ihre Mutter hat ihn geliebt?«

»Na, wissen Sie! Warum soll sie ihren besten Freund nicht geliebt haben!«

»Fein«, sagte Sibylle. »Und Achtung jetzt! Langsam fahren! Grüßen!«

Kurz vor der Anhöhe, wo die Cantaler Bucht sich in ihrer Herrlichkeit dem Blick öffnet, stehn an einer Wegkreuzung zwei Pinien – schöne, ehrwürdige Stücke ihrer Gattung, ähnlich jenem andern Baum hinter Ranas-sur-mer, dem Schauplatz von soviel Umarmungen und ausschließlichem Denkmal der Freude, bevor an einem Frühlingsmorgen der liebes- und lebensmüde Notar Burguburu in seinem Schatten zusammenbrach ... Paul und Sibylle, die allem einen Namen geben mußten, um es zu besitzen, nannten die beiden Pinien: ›Du und ich, wenn wir alt und weise sind‹ (sie duzten sich lediglich in Gleichnissen) oder auch kurz: ›Wir zwei Alten‹. Also fuhren sie hier langsamer und grüßten.

Zu den Häusern der Freunde, die nicht übersehen werden durften, waren jetzt neue Verbindlichkeiten getreten, dem ›Land der Freunde‹ folgte ›Unser Garten‹, gewissermaßen die Fortsetzung des Parks Stellamare. Das Land der Freunde war nur im Auto erreichbar, unser Garten dagegen wurde zu Fuß durchwandert, seitdem Sibylle wieder gehn konnte. Den entferntesten Punkt, den sie (noch mit Hilfe des Krückstocks) erschritt, die Grenze zwischen dem Freundesland und dem Garten, bezeichneten die zwei Pinien. Deshalb empfingen sie die Ehre der Namenstaufe. Die Böschungen vor und nach der Cantaler Bahnunterführung, üppige Agavenpflanzungen, hießen: die eine, gleich hinter den letzten Häusern von Cantal, wo Sibylle zum erstenmal ihren Stock an Paul abgab und aus eigener Kraft weitermarschierte, ›Torero‹, die andre, nach der Unterführung: ›Hochmut vor dem Fall‹ (in einem Wort auszusprechen), weil der Torero sich hier wimmernd an Pauls Arm hing und vor einem Heerhaufen stachliger Agaven, ohne ein Plätzchen zum Niedersitzen zu finden, in stechender Sonne auf einen Autobus warten mußte. Mit der Zeit hatte sich ›Hochmut-vor-dem-Fall‹ zu ›Vorfall‹ abgeschliffen.

Nach dem Torero und dem Vorfall begrüßen sie das ›Panorama‹, das ist die enge Gasse in Cantal, durch die man wie durch ein Loch auf den blauen Hafen, das blaue Meer, den blauen Himmel guckt. Im Vordergrund steht eine Platane, dahinter der blendend weiße Kai, der das grüne Laubwerk des Baumes noch gewaltiger erscheinen läßt. Es folgte die ›Schildkröte‹, eine bucklichte Insel, die den Leuchtturm trägt, und schließlich ein geringeres Seezeichen, wo selbst bei ruhiger See immer Gischt spritzt, weshalb sie annahmen, daß es sich um eine gefährliche Untiefe handelte, und dies war der ›Fingerhut der Venus‹.

Die Straße verläßt Cantal und folgt der Küste, und halbwegs zwischen Cantal und Stellamare, an einer abschüssigen Stelle der Böschung, fuhr Paul den Wagen dicht an den Wegrand und brachte ihn zum Stehn. Sie holten ihr Badezeug aus der Ledertasche im Innern der Tür und liefen den steilen Pfad zum Strand hinab. Um ihr Hinken nach Möglichkeit zu verbergen, machte Sibylle kleine Sprünge. Unten bogen sie um einen Felsen und waren nicht mehr zu sehn – weder von der Straße noch vom großen, allgemein besuchten Badestrand. Zwei Felsvorsprünge und die hohe Böschung bildeten einen nur gegen das Meer zu offenen Badeplatz, und dazu gehörten zwei Kabinen, die stürmende Brandung hatte sie in jahrhundertelanger Arbeit eigens für Sibylle und Paul in die Wand gebohrt.

Bevor sie ins Wasser gingen, untersuchte Paul das Knie Sibylles. Es war ihm kein Schaden anzusehn, aber wie jedesmal erklärte Paul, das Knie wäre dünner und geschmeidiger geworden. Es belästigte Sibylle nicht beim Schwimmen, der Arzt hatte gesagt, sie könne gar nicht genug schwimmen, Schwimmen wäre die beste Streckübung, und so schwammen sie seit Beginn der Osterferien zwei-, manchmal dreimal am Tag. Wie jedesmal widersprach Sibylle, wenn Paul vor dem Bad eine Besserung des Knies bemerkte, wohingegen sie nach dem Bad aus eigenem einen ›beispiellosen Fortschritt‹ feststellte. Übrigens hinkte sie nur noch schwach.

Sibylle schwamm doppelt so lange wie gewöhnlich, weil sie wegen der Fahrt nach Marseille noch nicht gebadet hatte und auch, weil in ihr die unklare Vorstellung lebte, gleichzeitig mit dem einen wäre sie auch von dem andern Leiden geheilt. Im Wasser wurde sie nicht müde, die Vorzüge des Marseiller Arztes aufzuzählen. Engel! – Engel der Verkündigung sind die Ärzte, wenn sie zu dir sagen: steh auf und schwimme! Und da geschah etwas, was noch nie geschah. Paul kam angeschwommen, sie hielt gerade auf ihn zu und spitzte die Lippen. Sie küßten sich auf dem Kamm einer Welle und gingen vor Schreck gemeinsam unter. Genau genommen, hatte Sibylle sich den ersten Kuß anders gedacht, ergreifender, kühner – sinnverwirrend – atemberaubend. Von alledem war nur das letzte eingetroffen, sie hatte den Atem verloren und schluckte Wasser.

Sie tauchte auf, sah sich prustend nach Paul um, er war nicht da, gleich darauf wurde sie an den Füßen gezogen und ging noch einmal unter. Als sie nebeneinander hochkamen, sagte sie mit einer kleinen Grimasse des Ekels: »War aber salzig, der Kuß!«, worauf er sie abermals in die Tiefe zog, und hier war sie ganz hilflos, weil sie nicht lernen konnte, die Augen unter Wasser offenzuhalten. Der Schurke benutzte den Umstand, um sie zu knuffen, er verabreichte ihr eine unterseeische Tracht Prügel, wenigstens andeutungsweise, und als sie sich nachher beklagte, leugnete er frech: wer nicht imstande wäre, unter Wasser zwischen einem Menschen und einem Fisch zu unterscheiden, sagte er, sollte sich vor so schweren Beschuldigungen hüten. »Jedenfalls«, versetzte sie, »bin ich enttäuscht. Ich habe mir unter einem Kuß etwas Besseres vorgestellt. Vanilleeis schmeckt besser.«

Er fühlte sich verantwortlich und meinte gekränkt, es ginge ihr damit wie mit dem Glück. Und allmählich sähe er ein, ihr sei einfach nicht zu helfen. Aber da er sie nun schon ein wenig länger kenne als seine Mutter, werde er sich erlauben, sie ebenfalls zu duzen.

»Ah!» rief sie, »ich habe noch ein Geheimnis mehr zu verkaufen. Ein großes Geheimnis!«

Überdies, fuhr er fort, ohne für das Geheimnis das geringste Interesse zu zeigen (was sie aber nicht glaubte), überdies hätte er sich erzählen lassen, Liebespaare pflegten sich du zu sagen nach dem ersten Kuß – in seiner Klasse bestände sogar die Meinung, im Hinblick auf den ersten Kuß wäre es vorteilhafter, es schon vorher zu tun. Es gäbe da ganz bestimmte Theorien.

Die Theorien über den ersten Kuß schienen sie so wenig zu kümmern wie ihn das Geheimnis, das sie ihm verkaufen wollte.

»Liebespaar?!« rief sie. »Sagtest du nicht ›Liebespaar‹? Wo ist hier ein Liebespaar?«

Daraufhin, versteht sich, mußte sie nochmals hinunter, wo es ihr nicht möglich war, zwischen Mensch und Fisch zu unterscheiden.

Sie kam hoch, er blieb verschwunden. Endlich tauchte er auf, er schwamm weit draußen und tat, als wäre sie nicht da.

»Junge, jetzt habe ich genug«, rief sie. »Ich prophezeie dir eine schöne Laufbahn als Wassermörder! Dazu brauchst du kein Abitur!«

»Zieh dich an«, schrie er zurück. »Ich schwimme indes nach Korsika.«

Sie legte die Hände als Schalltrichter an den Mund:

»Vergiß nicht, im Vorbeischwimmen einen Blick auf Porquerolles zu werfen!«

Sie kleidete sich umständlich an und fand auch noch Zeit, ihr Knie zu bearbeiten – sie wollte ihm erst begegnen, wenn er angezogen war. Sie hielt es für ausgeschlossen, angekleidet zu einem unbekleideten Mann du zu sagen. Es erschien ihr widernatürlich.

Paul stieg aus dem Wasser und rief: »Hallo! Sibylle! Komm bitte mal her. Ich muß dir schnell was sagen.«

Sie tänzelte über die Kiesel zu ihm hin und schwang den Badeanzug wie eine Keule. Platsch! sauste ihm das nasse Zeug auf den Kopf.

»Schämst du dich nicht, einen nackten, wehrlosen Menschen mit einem Mordwerkzeug anzufallen, Sibylle?« Platsch! Noch einmal. »So oft du mich getunkt hast.« Jetzt hatte er den Anzug erwischt, sie hielten ihn jeder am andern Ende und rangen ihn vorschriftsmäßig aus.

»Du, Sibylle, was ich sagen wollte: unsre Jungvermählten sind weder in Porquerolles noch in Korsika, ich habe genau nachgesehn.«

»Wo denn?«

»Kann ich nicht laut sagen. Komm näher.«

Er schrie ihr ins Ohr: »Der Major hat sie unterwegs niedergesäbelt!«, und schon hatte er sie umarmt und geküßt.

Entrüstet betrachtete sie den nassen Abdruck auf ihrem Kleid.

»So – jetzt kann ich gerade so gut hier schlafen«, sagte sie. »Ich traue mich deiner Mutter nicht unter die Augen mit deiner Photographie auf dem Bauch. Geh weg, du Scheusal!...«

Sibylle saß neben Paul, die eine Hand hielt lässig das Steuer, die andre lag auf ihrer Schulter. Sie fuhren gemächlich durch den Abend. Hinter der früheren Zitadelle von Cantal (kein Stein ist von ihr übriggeblieben, nichts als der Hügel am Ende des Hafens, wo sie einmal stand) ging eine dunstige Sonne unter, sie sahn sie vor sich im Spiegel – einen Perlmutterknopf an einem Fetzen hellgrauen Kleides.

Ein Wagen der ›roten Linie‹ rasselte auf sie zu, es war Louis, der ihn fuhr. Louis hob lachend den Arm, sie antworteten mit dreifachem Gruß, sie waren stolz, über drei Arme zu verfügen, um ihren Freund Louis zu grüßen.

Als sie im nächsten Augenblick an der Vogelscheuchenfamilie vorbeikamen, den zwei zerzausten, wie verzweifelte Küchenbesen in die Windrichtung zeigenden Pinien, die ihr noch armseligeres Kleines ängstlich zwischen sich halten, rief Sibylle hinauf:

»Hallo, ihr! Er ist ein Wassermörder, und er küßt auch so.«

Sie drehte sich um und schickte ihren Worten die Empfehlung nach:

»Erzählt es allen Leuten, die vorbeifahren. Salzig küßt er, salzig!«

Und zu ihm gewendet, die klammernde Hand strafend in seinem Nacken: »Zu Pfingsten weiß es ganz Frankreich – und du findest nie mehr ein Mädchen, das sich von dir küssen läßt.«


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