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Die Witwe

Paul Tavin stand neben dem Chauffeur und schickte sich an, bei Park Stellamare auszusteigen. Wie alle älteren Jungen, die für die Fahrt zur Schule die ›rote Linie‹ benutzten (so genannt nach den roten Wagen der Gesellschaft), sah er im welterfahrenen Wagenlenker einen Freund und Erzieher, dem volles Vertrauen entgegenzubringen Mannespflicht war. Der Chauffeur seinerseits erhob die Jungen hoch über die anderen Fahrgäste. Sie nahmen den Rang und das Ansehn von Vizechauffeuren ein, für alles, was im Wagen und mit dem Wagen geschah, waren sie in seiner Vertretung zuständig, sein Glück war ihr Glück, sein Unglück das ihre.

Der Autobus fuhr im zweiten Gang das letzte Stück der Anhöhe hinauf, Paul sagte: »Nicht halten, ich springe ab!«, der Chauffeur legte die Hand an den Schalthebel, um, oben angelangt, in den dritten Gang zu gehn, als von der andern Seite ein Auto den Berg heraufkam.

Zuerst tauchte das schwarze Dach auf, dann die Windscheibe, Paul erkannte den Mann am Steuer, es war der ehrenwerte Doktor Blanc. Er hatte den grauen Vollbart als Serviette vorgebunden und kaute kräftig seinen Gummi. Jemand neben Paul stieß einen Schrei aus.

Hinter dem Wagen des Doktors war ein Mädchen vorgetreten, es hatte gezögert, immer noch zögernd einen Anlauf genommen und, sichtlich ohne viel Hoffnung, den Versuch gewagt, schnell noch vor dem Autobus über die Straße zu gelangen. Im nächsten Augenblick wurde es vom Kotflügel erfaßt und zu Boden geschleudert.

Paul fiel auf die alte Frau, die geschrien hatte, der Autobus stand still und dann erhob sich ein zweiter Schrei, durchdringend, er kam von draußen und schlug in den Wagen ein wie eine Kugel.

Von alledem hatte der Doktor nichts bemerkt, das schwarze Auto war weitergefahren und in der Kurve verschwunden.

Paul sprang hinter dem Chauffeur auf die Straße und beugte sich Kopf an Kopf mit ihm über das Mädchen.

»Ich kenne sie«, sagte er und zeigte auf einen großen, weißen Stein unter dem Schild: Park Stellamare, Baugelände. »Dort sitzt sie immer.«

Sie lag reglos, mit geschlossenen Augen, die Beine auf der schwarzen Straße, der Oberkörper auf dem Rundweg. Die Augenbrauen in dem weißen Gesicht waren schwärzer als der Teerbelag der Straße, der Mund glänzte wie roter Lack, winzige Risse auf beiden Lippen glichen zwei Zeilen einer unverständlichen Schrift.

Der Chauffeur legte vorsichtig die Hand unter ihren Kopf. »Ich weiß. Die Tochter der Witwe ... Gottverdammichnicht, sie atmet! ... Siehst du eine Verletzung?«

Paul schüttelte den Kopf.

»Du kannst nichts dafür, Louis. Du bist unschuldig.« Die Insassen des Wagens hatten sich um sie versammelt mit Ausnahme der alten Frau, die auf ihrem Platz an der Tür sitzen geblieben war und unter lautem Schluchzen herüberrief, ob die arme Kleine tot sei.

Statt einer Antwort wiederholten die andern: »Sie sind unschuldig, völlig unschuldig.«

Sie sagten es leise, weil sie befürchteten, das Mädchen könnte es hören und über ihre Parteinahme gekränkt sein.

Paul und der Chauffeur hoben sie auf und trugen sie von der Straße fort, und als sie gleich danach die Augen aufschlug, setzten sie sie ab auf dem weißen Stein unter dem Schild: Park Stellamare, Baugelände ... Paul ließ sich neben sie nieder und stützte sie mit dem Arm. Mit der andern Hand ordnete er den zerrissenen Rock. Der Chauffeur war niedergekniet, er kauerte auf seinen Absätzen und betrachtete die Verunglückte – stumm, mit flehenden Augen. Er hatte einen kleinen Schnurrbart, und es war seine Gewohnheit, in verliebter Weise damit zu spielen. Er konnte ihn auch jetzt nicht vergessen, statt ihn jedoch zu streicheln, zerrte er an ihm, sehr kräftig, als wollte er ihn ausreißen, ein dunkles Bedürfnis trieb ihn, sich zu züchtigen, seine Schönheit wegzuwerfen, seinen Reichtum zu verschleudern, sich gewissermaßen zu entmannen und arm und ohnmächtig zu werden gleich der Verunglückten.

»Platz!« schrie die Alte im Wagen, »macht Platz, damit ich die Kleine sehn kann!« Worauf die Zuschauer in zwei Gruppen auseinandertraten und der Frau den Blick auf die Kleine freigaben.

»Aasgeier!« murmelte der Chauffeur.

Die Kleine indes wandte ihr Gesicht zu Paul und betrachtete ihn neugierig.

Und plötzlich lächelte sie.

Und alle, die sie umgaben und ebenfalls bereits zu einem Lächeln ansetzten, fuhren mit einem unterdrückten Schreckenslaut zusammen.

Die Lippen, kaum geöffnet über dem Schimmer der Zähne, der an das weiße Innere einer Frucht gemahnte, entließen einen Blutstreifen. Der Blutstreifen schlängelte sich eilig vom Mundwinkel zum Kinn.

»Oh!« machte Paul und preßte die Fäuste auf die Brust.

Der Chauffeur zog rasch ein großes Tuch aus der Tasche und hielt es Paul hin. Er konnte nichts dafür und sah es auch gar nicht, daß es steif war von Öl und Schmutz. Paul nahm es und behielt es in der Hand. Er starrte abwechselnd auf den roten Wurm zwischen Mundwinkel und Kinn und die Schriftzeichen im Lack der leise bebenden Lippen. Der Chauffeur hob die Arme, er sprach vor sich hin: »Ich bin verzweifelt ... Zum Glück fuhr ich langsam, zum Glück ... Und nun blutet sie doch!«

Er blickte die Versammelten einen nach dem andern fragend an und zeigte mit behutsamem Finger auf das Blut. Der Finger zitterte immer stärker. Schließlich fiel er, wie von seiner eigenen Last gebrochen, herab.

»Blut!« schrie die Alte im Wagen. »Blut!«

Davon schien das Mädchen aus seiner Betäubung zu erwachen. Es räusperte sich und sprach erstaunlich laut:

»Es ist nichts. Das kommt nicht davon. Ich habe es immer.«

»Immer?« rief der Chauffeur – entrüstet wie einer, der nicht durch eine allzu großmütige Lüge entlastet werden will.

»Wieso immer?«

Sie verbesserte.

»Oft.«

Nun versuchte sie mit der Hand irgendwohin zu zeigen, und Paul und der Chauffeur verfolgten gespannt die Bewegung, um zu erraten, was sie damit meinte. Die Hand gehorchte nicht. Sie versuchte es noch einmal, dann warf sie den Kopf hoch und brachte ein künstliches Hüsteln hervor.

Der Chauffeur war der erste, der verstand.

»Auf der Brust?« flüsterte er ... »Wie schade! ... Ein so schönes Mädchen!«

Sie nickte ihm freundlich zu.

»Fahren Sie weiter! Sie bekommen sonst Verspätung.«

»Was hat sie gesagt?« schrie die alte Frau aus dem Wagen.

Das Mädchen versuchte nach ihr hinzusehn, aber es ging nicht. Mit einem Satz war der Chauffeur auf den Beinen.

»Vielen Dank!« sprach er hastig. »Verzeihen Sie! Oh, ich komme heute noch bei Ihnen vorbei.«

Als sie alle fort waren, kramte Paul nach seinem Taschentuch, konnte es nicht finden, zog das Ende seiner Krawatte hervor und wischte ihr damit das Blut aus dem Gesicht.

Die Risse im roten Lack des Mundes hatten sich vergrößert – Paul sah es wie ein Wunder. Für einen Kundigen wären die Schriftzeichen jetzt vielleicht zu lesen gewesen. Die zwei Zeilen waren gleich lang – wie Verse.

Obwohl sie lächelte, saß ihr der Schreck noch in den Augen, trocken waren sie, tiefschwarz und kalt. Auch schien ihm, ihr Gesicht werde immer blässer. Er wollte aufstehn, sie heimbringen, aber sie hielt ihn mit einer Bewegung des Körpers zurück, und steif aufgerichtet, den Kopf starr neben dem seinen, sagte sie:

»Bleiben wir noch ein bißchen, bitte. Ich sitze gern hier ... Ich fürchte, es tut weh.«

Er nickte und wußte nicht, wohin mit den Augen. Zwischen den Fetzen des Rockes drängte ein Stück gelbe Hose, ein Streifen weißer Haut ans Licht, und es ging über seine Kraft, nochmals eine ordnende Hand anzulegen.

Als würden sie nicht fertig mit dem Gedanken an die möglichen Schmerzen und Gefahren, denen sie ausgesetzt wären, wenn sie von hier aufbrächen, saßen sie lange Zeit nebeneinander und schwiegen.

Auf der Landstraße liefen die Wagen vorbei, mit erbittertem Ton, wenn sie den Berg heraufkamen, zufrieden brummend bei der Hinabfahrt. Dazwischen hatten sie ein Atemholen, wenn sie über die ebene Strecke der Anhöhe rollten. Wie brave Schulkinder hielten die beiden still, der blonde Schopf des Jungen stand unbeweglich über dem schwarzen Haar des Mädchens.

Er war von Natur ordentlich und hätte gern ihr wirres Haar gerichtet. Aber wie durfte er sich der völlig Hilflosen gegenüber eine solche Vertraulichkeit herausnehmen, da ohnehin dieser Doppelstreifen Hose und Haut ihn abschreckte und beinah jeder der Vorüberfahrenden für eine Sekunde den Kopf herumwarf und wohlwollend grinste! In seiner Verlegenheit versteifte er sich immer mehr, bis der Rücken schmerzte, die Augen nicht mehr sahen und ein eintöniges Surren die Ohren erfüllte ... Aber er wäre ewig so sitzen geblieben.

Zu seinem Erstaunen hörte er sie sprechen.

»Sie heißen Paul Tavin ... Und der nette Chauffeur heißt Louis. Wußten Sie das?«

Natürlich wußte er, daß Louis Louis hieß, er kannte auch ihren Namen, aber da unbedingt etwas gesagt werden mußte, und wäre es nur gewesen, um sich für die Ansprache dankbar zu erweisen, fragte er:

»Und wie heißen Sie?«

Sie antwortete:

»Sibylle ... Eher abschreckend – wie?«

Obwohl kein Zweifel war, daß sie selbst zu sprechen wünschte, klang ihre Antwort erpreßt – ein dünner, überheller, etwas zitteriger Ton. Wenn man achtgab, spürte man, daß alles an ihr unmerklich zitterte. »Still!« flüsterte er. »Sie haben furchtbare Schmerzen.«

Das Wort ›furchtbar‹, das er, darin allen seinen Altersgenossen gleich, ebenso gern wie gedankenlos anwandte, diesmal war es groß, war es bebend wie sein Herz.

Sibylle überhörte es. Sie rang nach Atem und brachte stoßweise hervor:

»Sibylle ... Wie sollte ich – sonst wohl heißen? Von mir – ist nichts andres zu erwarten ... Eine Schattenpflanze«, fügte sie hinzu, ein Wort, das Paul zum erstenmal hörte. Es hatte einen schauerlichen Klang, es roch nach Keller und Feuchtigkeit, Paul ließ die geziemende Zeit für eine Antwort ungenützt verstreichen. Er glaubte nicht daran, daß Sibylle eine Schattenpflanze sei, und hätte es ihr gern gesagt.

Nach dem Geständnis ihres angeborenen Unglücks war ihr anscheinend freier zumute. Sie regte sich und sagte, erst selbstbewußt im Ton einer Dame, dann aber schmerzhaft entgleisend:

»Ich glaube, Herr Tavin, jetzt könnte ich – au! ... Ich fürchte, Sie müssen mich tragen.«

Und alles, was sie sagte, auch dies, klang ihm wie Verse eines verstümmelten Gedichtes, wie Laute eines Gesanges, der stärker war als aller Schmerz und nur in voller Deutlichkeit hervorzubrechen brauchte, um das Mißgeschick zum Guten zu wenden.

Er nahm sie auf die Arme, sie wog nicht schwer, und feierlich machte er sich auf den Weg zur Villa Santa Maria. Es fiel ihm ein, daß er schon einmal, vor langer Zeit, so ruhig und gesammelt, mit so festlicher Schwermut geschritten war, ohne rechts und links zu blicken. Damals hatte er in der Prozession den Reliquienschrein der heiligen Julia, der Märtyrerin der Provence und Schutzpatronin von Ranas, getragen, und als er mit dem Silberkästchen, das viele Halbedelsteine und bunte Glassplitter verzierten, aus der Kirche ins Freie trat, hatte er die Augen schließen müssen, so war ihm das Feuer aus dem Kästchen ins Gesicht geschlagen ...

Und er war wieder der Knabe, der ein Heiliges trug und voll war bis in die Poren der Haut von einer Gnade, die mit dem Atem auf und ab stieg in seinem Körper, von den Knien bis zu den Augen.

»Es ist nichts«, murmelte sie. »Sie können gut ein wenig schneller gehn!«

Er gehorchte und ging schneller, aber gleich danach schritt er wieder langsam wie zuvor.

Sie merkte es, beugte sich in seinen Armen ein wenig vor und sah ihm in die Augen. Paul reckte sich, so gut es ging, und erwiderte mit knabenhaftem Ernst ihren Blick.

 

Der rote Autocar, von Cantal kommend, hielt am Park Stellamare, ihm entstieg die Witwe Bosca.

»Ah! Sie sind weg«, sagte der Chauffeur Louis.

Der weiße Stein war leer.

Den Hergang des Unfalls hatte er ihr unterwegs ausführlich geschildert. Des Lebens der Tochter sicher, hatte sie um das ihre gezittert, weil der Chauffeur bei seiner Erzählung sich dauernd nach ihr umdrehte, wobei der Wagen, die Lebhaftigkeit des Erzählers teilend, in jede nächste Kurve schärfer hineinfuhr. Louis blieb nichts mehr zu tun, als der aufatmenden Dame zu zeigen, wo der Unfall sich ereignet hatte, und daran anschließend die Stelle, wo das ›Fräulein Tochter‹ in der Obhut des jungen Herrn Tavin zurückgeblieben war. Juliette Bosca flüsterte einen Dank, der wie ein Segensspruch klang (Louis nahm unwillkürlich die Mütze ab), und bewegte sich mit kleinen, eiligen Schritten auf die Villa Santa Maria zu.

Sie trug eine schwarze Haube mit einem schmalen, weißen Einsatz über der Stirn, ein schwarzes Kleid. Der Witwenschleier schleifte am Boden und wirbelte ein wenig Staub auf, weshalb Kundige den Wechsel der Witwe Bosca über den Rundweg von der Erde abzulesen vermochten.

»Die Witwe ist heute links gegangen statt rechts«, konnte Paul seiner Mutter melden – »wegen des Schattens!« Oder: »Hier ist sie stehngeblieben, um den neuen Lampenschirm in meinem Zimmer zu betrachten, oder auch: »Hier muß eine ganze Familie ihrer Bekanntschaft vorbeigekommen sein. Sieh nur, zehn Meter weit hielt sie bescheiden den Kopf gesenkt, zehn Meter weit hat der Schleier nicht den Boden berührt ...« Da Paul die Kinder der Nachbarschaft in die Kunst des Fährtelesens eingeführt hatte, wäre es der Witwe schwergefallen, zum Nachteil ihrer Tugend heimliche Wege zu gehn.

Notar Burguburu, der seinen Spaziergang durch den Park machte, begegnete ihr und raffte unter tiefer Verbeugung die Baskenmütze vom Schädel. Da es nicht regnete, waren sie beide befangen.

Der Schädel blitzte in der Sonne, und Juliette, die Gutwetter-Juliette, dankte für den Gruß lediglich mit einem Niederschlagen der Augen.

Er war es nicht wert, daß man seinetwegen den Kopf senkte, er blieb ein Feind der Kirche, mochte auch der gutmütige Pfarrer die Gläubigen mit dem Hinweis auf den Schacher am Kreuz beruhigen und die vornehme Haltung des Notars anläßlich der letzten Kammerwahlen hervorheben ... Immerhin hinderte ihre Ablehnung des Freigeistes sie nicht, Madelon Plaisir, einer entfernten Verwandten Burguburus und ihrer besten Freundin, gelegentlich das Zugeständnis zu machen, der ansehnliche, lebhafte Mann besitze etwas Vertrauenerweckendes. Sie pflegte dann seine Tapferkeit zu loben und nannte ihn ›goldig dumm‹. Juliette schätzte kluge Männer gering. »Sie wollen alles besser wissen«, meinte sie. »Es sind Sadisten.« Ebensowenig liebte Burguburu kluge Frauen. Er sagte, Frauen seien wie Pferde, sie brauchten Scheuklappen. Nachdem Juliette vorbei war, blieb der Notar stehn und blickte ihr nach – bis an einem kleinen, vergitterten Fenster der Villa Rosmarin der Kopf der Witwe Tavin seine Aufmerksamkeit ablenkte. Burguburu lachte in sich hinein. Da war jemand, der sich einbildete, ihn heimlich bei einer Ungezogenheit erwischt zu haben – pah! Er zuckte die Achsel und setzte seinen Weg fort. Gleich danach vernahm er das Geräusch der Wasserspülung. Er hatte es erwartet. Befriedigt ging er weiter – sie hatten einander beide erwischt und waren quitt.

Keines dieser Häuser hatte ein Geheimnis für ihn, er kannte jeden Raum, er kannte ihre Bewohner, er kannte auch ihre Gewohnheiten. Geschah es, daß sie sich dagegen vergingen, so ließen die Beweise eines in Unordnung geratenen Lebens nicht lange auf sich warten. Was konnte das Geräusch der Wasserspülung im Hause Rosmarin zu so ungewohnter Stunde bedeuten? Er, der täglich um dieselbe Zeit hier vorbeikam, hatte es nie vernommen. Ebensowenig war er bisher zu dieser Stunde der Witwe Bosca begegnet ... Die Ahnung schwerwiegender Veränderungen im Leben der beiden Frauen ergriff seine Seele, er ging nochmals um den Rundweg und beobachtete schon von weitem erst einmal die Fenster der Villa Santa Maria. Als er näher kam, hörte er im Zimmer der Tochter sprechen. Er blieb stehn, den Blick halb im Himmel, das Ohr gänzlich am offenen Fenster. Im Fenster erschien das bemalte Gesicht der Witwe, er bückte sich, als höbe er etwas vom Boden auf, und eilte weiter. Da rauschte zum zweitenmal die Spülung im Haus Rosmarin.

»Nanu!« sprach er bedenklich. Zur Heimkehr wählte er die Landstraße und schob, ingrimmig mit der Witwe Bosca beschäftigt, seinen Bauch an den Gartenmauern entlang.

Diese Dame, stellte er fest, hatte das Gesicht einer geschminkten Leiche, und wer angesichts der anheimelnd rundlichen Gestalt auf die Begegnung mit einem zwar trauernden, aber von Lebenssäften schwellenden Weibe gefaßt war, der erschrak beim Näherkommen über das blasse, nur an den Backenknochen, hier jedoch übermäßig geschminkte Gesicht, aus dem zwei Augen schwarz und groß in die Ferne schauten.

Das merkwürdigste aber war, daß diese Ferne, die den Blick der Witwe Bosca festhielt, offenbar dem Paradies angehörte oder einem andern unfaßlichen Ort der Wonne. Denn der Vorübergehende, noch erschüttert von den geschminkten Leichenwangen und der Teilnahmslosigkeit des Blickes, bemerkte plötzlich, wie erleuchtet, einen Ausdruck, den er nicht anders als mit Seligkeit bezeichnen konnte. Hatte er sie von fern auf fünfundzwanzig, höchstens dreißig Jahre geschätzt, dann in der Nähe panikartig auf sechzig, so hielt er sie zu guter Letzt für eine rätselhafte Erscheinung ohne Alter, ohne Geschlecht, für etwas wie eine Abgesandte und Botschafterin der Glückseligen auf Erden.

Nach einer Weile freilich, die Witwe Bosca mochte schon längst außer Sicht sein, mußte man wiederum feststellen, daß zumindest die Geschlechtslosigkeit des vergnügten Grabengels nicht ganz außer Frage stand. Jedoch blieben Ursache, Art und Rechtfertigung solcher Zweifel nicht weniger rätselhaft als die Entschlossenheit der Witwe, unter keinen Umständen abzurüsten.

Frau Bosca war bereits im Trauergewand nach Ranas-sur-mer gekommen, und die später im Ort auflebende Hoffnung, sie werde mit der Zeit ihre Trauer wenigstens um einige Grade herabsetzen, wie es die übrigen Kriegswitwen auch taten, hatte sie nicht erfüllt. Nach wie vor trug sie den übertrieben langen Witwenschleier, der hinter ihr den Staub aufrührte. Die Ranasser deuteten es als Hochmut und Zeichen von Menschenverachtung, und der gute Pfarrer sah sich zu dem Ausspruch veranlaßt, die Witwe Bosca ziehe zischelnde Schlangen hinter sich her. Er wollte damit sein Bedauern ausdrücken, daß ihre der christlichen Demut sowohl wie der guten Sitte widersprechende Zurschaustellung des Witwentums für die Gemeinde eine Quelle mannigfacher, keineswegs harmloser Vermutungen bilde.

Wie konnte man einen derartigen Aufwand von Lebensfeindschaft erklären, wenn nicht mit dem Bestreben, dahinter das Gegenteil zu verbergen? »Man soll nicht aufhören, sie zu verleumden«, äußerte der Pfarrer zu Madelon Plaisir, der Frau des Posthalters, die als tugendhafteste Frau des Kirchspiels galt. »Sie will einfach nicht. Und so macht sie mehr von sich reden, als wenn sie die größte Sünderin wäre. Versuchen Sie doch, auf sie einzuwirken, Frau Plaisir!«

Die Antwort Madelons klang dunkel wie ein heidnisches Orakel. »Gibt es eine Sünderin«, sprach sie, »die so viel Aufsehen erregte wie eine, deren Sündhaftigkeit man nur vermutet? ... Außerdem ist es die beste Art, die Wahrheit zu verschleiern.«

»Sie meinen«, erwiderte der Pfarrer nach längerem Besinnen, »Sie meinen, Frau Bosca, ergebe sich ... den Verleumdungen, deren Gegenstand sie ist, wie andre dem Laster? Und Sie lassen durchblicken, daß sie überdies im geheimen ein lasterhaftes Leben führe?«

Selbstverständlich wies Madelon Plaisir beides entrüstet von sich, der gute Pfarrer schwieg und fächelte sich mit der Hand frische Luft zu.

Alle seine Bemühungen, die Witwe vom ›Götzendienst des Todes‹ abzubringen, erwiesen sich als vergeblich. Dem Hinweis auf das Beispiel ihrer Nachbarin, Frau Tavin von der Villa Rosmarin, begegnete Juliette mit dem Geständnis: obwohl die Köchin der Frau Tavin den Mülleimer zuweilen etwas lange auf der Straße stehn lasse, spüre man schon im Vorbeigehn, welche Himmelsluft im Haus Rosmarin wehe, Frau Tavin sei eine Heilige – sie selbst aber, Juliette Bosca, sei eine Sünderin und könne Frau Tavins Weg nur mit niedergeschlagenen Augen kreuzen sie würde sich auch niemals unterstehn, ihre Bekanntschaft zu suchen. Worauf der Priester die Arme in die Luft hob und ausrief, Frau Tavin sei keineswegs eine Heilige, sondern eine anständige Frau, die mit Gott und ihren Nebenmenschen auf gutem Fuß lebe, kein Ärgernis gebe, wohltätig sei, und Heilige gäbe es in Ranas überhaupt nicht, und niemand verlange, daß es welche geben solle.

»Doch, Herr Pfarrer«, antwortete zweideutig Juliette, »doch! Zwar will niemand es recht glauben, aber es gibt mindestens einen Heiligen in Ranas.«

Dabei musterte sie ihn von oben bis unten, daß der alte Mann errötete und sie eiligst an die Luft setzte. Als sie draußen war, prüfte er sich: was, in aller Heiligen Namen, sollte man von ihr denken? Er wagte nicht, sie eine Scheinheilige zu nennen, nein, das war sie nicht, bestimmt nicht, er als ihr Beichtvater wußte es besser, eine Heuchlerin war sie nicht – und lasterhaft? Jedenfalls nicht im herkömmlichen Sinne, dies gewiß nicht ... Die Vergehn, die sie im Beichtstuhl bekannte, waren die eines heranwachsenden Mädchens, das streng mit sich ins Gericht geht. Aber was war sie dann?

Vielleicht eine Kranke, sagte er sich, nach monatelanger Beobachtung. Und er bat den ehrenwerten Doktor Blanc, die Witwe zu besuchen und ihr die Götzendienerei mit Hilfe der Wissenschaft auszutreiben, nachdem die Mittel der Kirche sich als unwirksam erwiesen hatten. Er nahm es genau und schärfte ihm ein, den Kaugummi auszuspucken, um überzeugender zu wirken. Wie alle Welt wisse, so behauptete er, werde die Aufmerksamkeit der Patienten durch das schon bei einem gewöhnlichen Menschen erstaunliche, bei einem Arzt aber geradezu verblüffende Wiederkäuen derart in Anspruch genommen, daß sie dummes Zeug redeten, und damit sei niemand gedient.

»Das Kauen enthebt mich der Verpflichtung, wie ein Molièrescher Doktor zu schwätzen«, versetzte trotzig der Arzt und Bürgermeister. Worauf der Pfarrer entschied:

»Dann können Sie meinetwegen gerade so gut zu Hause bleiben.«

 

So war es das erstemal, daß der Doktor, von Paul im kleinen Wagen abgeholt, die Villa Santa Maria betreten sollte.

Er schob den grauen Vollbart vor und kaute hingegeben. Notar Burguburu, an dem sie auf der Landstraße vorbeifuhren, nahm an, der Doktor sei unterwegs zum Haus Rosmarin, er grüßte und beschleunigte, trunken von Meldeeifer, den Schritt. Die Folge der Begegnung, verbunden mit dem Erscheinen von Frau Tavins Kopf hinter dem Gitterfenster und dem zweimaligen, ungewöhnlichen Rauschen der Wasserspülung, war, daß sich eine Viertelstunde später in Ranas die Nachricht verbreitete, die Besitzerin der Villa Rosmarin sei an Typhus erkrankt. Doktor Blanc, erzählte man, habe es seinem Freunde Burguburu unter Verhängung des strengsten Schweigegebots anvertraut.

Während die Kunde das Städtchen durcheilte und überall Schrecken und Mitleid erregte, wurde in der Villa Santa Maria der Vorschlag des Doktors, unverzüglich einen Chirurgen zu Rate zu ziehen, von Juliette Bosca mit schamhaftem Niederschlagen der Augen abgelehnt. Sie kam zu Paul hinaus, der im Salon das Ergebnis der ärztlichen Untersuchung abwartete, ließ sich neben ihn auf das Sofa nieder und sagte:

»Was denkt sich bloß unser guter Doktor! Ein Chirurg aus Toulon, was meinen Sie, was er allein für die Fahrt rechnen würde!«

Paul bot sich an, den Chirurgen im Wagen abzuholen und auch zurückzubringen; es waren fünfzehn Kilometer nach Toulon, in einer Stunde konnte der Mann da sein.

»Die Gesellschaft wird zahlen«, setzte er hinzu.

»Sie erwähnten doch selbst, und wohl nicht ohne Absicht, die Schuldlosigkeit des Chauffeurs«, erinnerte sie ihn.

Er versicherte, die Versicherung hafte dennoch für den Schaden.

»Um so besser, wenn wir endlich was kriegen«, meinte sie, und Paul kam es vor, als breite sich bei diesen Worten ein überirdischer Schimmer über ihre Züge. Er sah näher hin, da war das Lächeln wie Rauch vergangen, oder er hatte sich vorhin getäuscht.

»Wollen Sie, bitte, den Doktor nach dem Namen des Chirurgen fragen?« beharrte Paul. »Ich fahre sofort.«

Sie machte mit dem Kopf ein Zeichen, er folgte der Richtung und stieß auf eine Photographie an der gegenüberliegenden Wand. Sie war stark vergrößert und schwarz gerahmt. Ein Major in der Uniform der Kolonialtruppen stützte sich auf seinen Säbel und blickte herrisch auf sie herab. Das Kreuz der Ehrenlegion, das er auf der Brust trug, hing im Original an der unteren Leiste des Rahmens. Paul fand es erschreckend, wie er von der Wand herab drohte. Warum? Der dicke Schnurrbart sträubte sich vor Wut.

Die Witwe sah den Soldaten an ... Aber sah sie ihn wirklich an? Paul war seiner Sache so wenig sicher wie vorhin, als er geglaubt hatte, sie auf einem unangebrachten Lächeln zu ertappen.

»Sein letztes Wort war«, sprach sie, und ihre Lippen bewegten sich kaum: ›Sagen Sie meiner angebeteten Frau, Gott wird sie nicht im Stich lassen ... Viele Jahre sind seitdem vergangen, ich kann und will sie nicht zählen. Aber«, sie atmete laut auf, »vielleicht kriegen wir jetzt wirklich was ... Wieviel wohl – meinen Sie?«

Paul dachte, sie sei verrückt geworden, zumindest verstört durch den Unfall ihrer Tochter. Er verabschiedete sich und holte auf eigene Faust den Chirurgen.

Als er eine Stunde später in dessen Begleitung eintraf, wurde auf mehrmaliges Klopfen nicht geöffnet. Dafür hörte er aus einem offenen Fenster das Aufstöhnen und Wimmern Sibylles, in das sofort ein wildes Schluchzen der Witwe einfiel ... Man sollte es hören, das war beiden Herren klar ... Sie warteten, bis das Geheul sich gelegt hatte, und klopften von neuem. Es war ein schwerer Türhammer, das Haus dröhnte von den Schlägen. Paul ging mit sich zu Rat, ob er nicht kurzerhand an der Bougainvillia in den ersten Stock hinaufklettern und durch das Fenster einsteigen solle, um die Haustüre von innen zu öffnen. Im selben Augenblick wurde das Fenster geschlossen.

»Sie kann Gedanken lesen«, sagte er beleidigt.

Er brachte den Arzt nach Toulon zurück und legte sich der Santa Maria gegenüber auf die Lauer. Das Fenster stand jetzt wieder offen, er hörte die Stimme der Witwe im Zimmer. Bald erschien auf dem Rundweg der Chauffeur Louis. Nett von ihm, dachte Paul, er hält Wort, will sich nach ihrem Befinden erkundigen. Und er pfiff ihn zu sich unter die Bäume und setzte ihn kräftig ins Bild. Darauf ging Louis mit Militärschritten auf das Haus los.

Und ihm wurde geöffnet.

Er mußte sich auf das Sofa setzen, Auge in Auge mit dem Major, Juliette setzte sich neben ihn. Bald betrachtete er die stark duftende Frau, bald den Soldaten, der sich drohend auf seinen Säbel stützte, bald liebkoste er seinen seidigen Schnurrbart, bald zerrte er an ihm. Er kannte keine Frau, deren Üppigkeit so einladend wirkte, während ihre Augen gleichzeitig abschreckten wie die Mündungen von Maschinengewehren in einem Pfirsichbusch. Um wenigstens aus dem Kreuzfeuer zwischen dem Major und seiner anziehenden Witwe herauszukommen, vertauschte er das Sofa mit einem Stuhl. Sie lächelte nachsichtig.

Die Unterhaltung galt hauptsächlich der Entschädigung, die man von der Autobusgesellschaft erwarten konnte. Da Louis sich trotz allen Drängens nicht entschieden genug ausdrückte, begann die Witwe, den Zustand Sibylles in krassen Farben zu schildern und damit die Verunglückte einem für die Gesellschaft verbindlichen Wunschbild anzunähern, über das Louis indes hartnäckig hinwegsah. Zum Schluß erwähnte sie den Chirurgen aus Toulon und nannte schätzungsweise Summen, wie die Herren sie für schwierige Eingriffe zu fordern pflegten, Summen von solcher Höhe, daß Louis mit einem Ruck aufstand und vor dem Chirurgen, dem geschminkten Grabengel und allen Teufeln das Feld räumte, entschlossen, die weitere Auseinandersetzung mit ihnen seiner Gesellschaft zu überlassen.

»Wie es Ihrer Tochter wirklich geht«, sprach er an der Tür, »ich meine unter uns, im Vertrauen, gnädige Frau, ich meine, das könnten Sie mir schon sagen, das sind Sie mir schuldig, ich bitte Sie, ich kenne die Kleine seit vielen Jahren und habe sie herzlich gern.«

Die bemalte Leiche strahlte.

»Die ›Kleine‹, mein Herr, ist neunzehn Jahre alt. Sie wird vermutlich für den Rest ihrer Tage hinken und keinen Mann kriegen, und wie es ihr wirklich geht, das sollen Sie und Ihre Gesellschaft vor Gericht erfahren.«

»Dann also nicht, gnädige Frau«, sagte Louis und zog hinter sich die Türe zu.

Was Paul nicht rasch genug gewagt hatte, vollbrachte Louis in drei Sekunden. Er kletterte am Bougainvilliaspalier hinauf und steckte den Kopf durch das Fenster.

»Fräulein Sibylle! Hier ist der Louis, keine Angst! Wie geht's?«

»Nicht so arg schlimm, Louis«, antwortete sie aus den Bettkissen. »Nur das Knie, das tut weh. Wissen Sie – tourenweise! Machen Sie sich keine Sorgen, Sie können ja nichts dafür.« Und als er schwieg: »Sicher, Louis, der Doktor sagt, es dauert lang, aber es ist nicht gefährlich.«

»Herrliches Mädchen!« rief er. Da wurde die Tür des Zimmers geöffnet, er schaute rasch unter sich, um die Entfernung zu schätzen, und sprang ab.

 

Am Hafen standen die Männer in Gruppen versammelt und spielten das nationale Kugelspiel.

Eine kleine Holzkugel wurde ausgeworfen, und nun kam es für die Spieler darauf an, mit den größeren, eisenbeschlagenen Kugeln aus Buchs der kleinen möglichst nahe zu kommen. Es wurde jeweils in zwei Parteien gespielt. Manche Kugeln glänzten in Messing und Silber, das waren Ehrenpreise, in sagenhaften Turnieren errungen. Bevor eine Boule ausgeworfen wurde, ließ man sie, in die Knie gekauert, zärtlich in der Hand springen.

Louis unternahm mit der Schilderung des Unfalls und seinen Folgen eine Gastspielreise von Gruppe zu Gruppe. In die komischen Rollen teilten sich Juliette Bosca, vom Volke kurz ›die Witwe‹ genannt, und Notar Burguburu, der Verbreiter der falschen Typhusmeldung. Er genoß ohnehin den Ruf, ebenso hartnäckig falsche Nachrichten in Umlauf zu setzen, wie die Wahrheit im dunkelsten Winkel seines Busens zu verwahren – eine Eigentümlichkeit, die plötzlich wieder im Bewußtsein der Allgemeinheit dastand wie das leibhaftige Denkmal des Notars. Erst als Louis mit seiner Erzählung am Ende des Kais angelangt war, beteiligte auch er sich am Spiel.

Über Ranas-sur-mer und seinem Hafen schickte der Tag, ein hoher Herr, sich an, in Purpur und Seide vor aller Angesicht zu verscheiden. Die Felsen des Vorgebirges jenseits der Bucht erröteten fiebrig, wurden blaß wie der Tod. Langsam zog die Nacht sich zusammen, ein Netz, durch dessen Maschen ein mattblauer, noch unbestirnter Himmel hereinsah.

Dann war das Schleppnetz der Dämmerung weitergezogen, und Ranas, sein Hafen, die Berge, Meer und Himmel erhoben sich zu einem blauen, luftigen Bau, silbern durchzogen. Manchmal war ein Atem aus der Höhe spürbar, der bewegte leise das große, wie in einem größeren Spiegel eingefangene Bild. Am Ende der Mole hing ein rotes Licht, weiter draußen, auf der Höhe der Insel, öffnete und schloß ein Leuchtturm sein Auge.

Sechs Fischer marschierten im Gänseschritt in das Café de la Marine.

Die Mütze saß ihnen im Genick, die Hände steckten in den Hosentaschen, die Zigarette saß angewachsen im Mundwinkel, sie hatten gutmütige, verwitterte Gesichter. Mit ihnen ging eine Melodie, sie schien eher um ihre Köpfe zu summen, als daß sie selbst sie erzeugten.

»Wenn der Wind weht
Über das Meer ...«

Es war der Schlager aus einem deutschen Tonfilm, sie summten ihn kunstvoll im Chor.

»Wenn der Wind weht
Über das Meer ...«

Vor der Theke angelangt, machten sie linksum kehrt. Regale mit vielfarbigen Likörflaschen nahmen die ganze Längswand ein. Auf der Theke stand eine große, vernickelte Kaffeemaschine, sie funkelte und zischte ...

»Nicht schlimm, die kleine Bosca«, verkündete der eine.

Der Wirt wußte es schon, daß es nicht schlimm war.

»Am Knie verletzt«, erklärte der andre.

Der Wirt staunte:

»Also doch?«

»Ja, am Knie. Nicht schlimm.«

Sie tranken schweigend. Mit der Behendigkeit eines Xylophonspielers tänzelte der Wirt die Regale entlang und hantierte zwischen den Flaschen. Seine Griffe waren unfehlbar, die Flaschen glitten wie gerufen in seine Hand und von dort auf das Regal zurück. Die Gläser vor ihm füllten sich mit farbigen Getränken.

Einer der Fischer, ein Alter mit dem schönen, weißhaarigen Kopf eines Kardinals, ließ gemessen den Blick über die Gäste gleiten, die man dank der hohen Spiegel zugleich von hinten und von vorn sah, und rief:

»Na, was sagt ihr zu unserem Typhusnotar?«

Gelächter erscholl, selbstbewußt und genießerisch ausgedehnt. Nicht bloß die Lacher, auch die in Schlachtordnung aufgestellten Flaschen waren entzückt, sie leuchteten und sprühten in den Spiegeln, wo ihre bunten Reihen sich ins Unendliche fortsetzten. Die Kaffeemaschine glich einem geharnischten Feldherrn, sie stieß einen Pfiff aus. Die Karten klatschten auf die Tische.

»Ja, der Notar! Unser Lügenprinz! Der Feuerwerker der provenzalischen Heiterkeit, wie jener Bonze mal sagte! ... Aber hört mal, ist eigentlich Typhus ein Spaß?«

Den fröhlichen Lärm übertönte die Stimme des Chorführers:

»Jetzt kann die Witwe Bosca selbst den Haushalt führen, der Geizkragen, und die Kleine darf sich ausruhen. Was meint ihr?«

»Soll sie! Bravo! Louis, einsammeln! Wir wollen der Kleinen Blumen schicken!«

»Ob die Witwe mit dem Schleier ins Bett geht?« gab der Chorführer zu bedenken.

Die Bemerkung entfesselte eine Meute von Zurufen.

»Hoho! Sie schläft mit ihm, die Metze.«

»Mit einer Riesenschlange!«

»Einer schwarzen Riesenschlange!«

»Solche Viecher haben eine Haut wie Sandpapier.«

»Wie Reibeisen!«

»Ein strenger Buhle!«

»Deshalb ist sie auch so gut gepolstert. Jetzt haben wir's heraus!«

»Weiß jemand von euch, wie Schlangen sich begatten?«

– – –

»Puh!«

Louis beruhigte die aufgestachelte Einbildung der Männer, indem er bekanntgab:

»Unsinn, die Witwe tut nichts dergleichen! Sie hat Angst. An der Wand hängt ihr Verflossener, der Major, und paßt auf. Ich kann euch sagen, der hat Haare auf den Zähnen ... Laßt lieber die Kleine hochleben!«

»Einen dreifachen Handklatsch für die kleine Bosca!« kommandierte der Alte. Dreimal wurden im Takt die Hände gerührt, ein-zwei-drei, eins-zwei-drei, eins-zwei-drei, worauf ein dreifacher Tusch die Huldigung abschloß: Eins, eins, eins!

Die Fischer zogen ab, sechs Kerle im Gänsemarsch hintereinander, Sweater und breite Hosen, an der Spitze marschierte der Alte mit dem Haupt eines Kardinals. Die frische Zigarette wuchs ihnen bereits wieder im Mundwinkel an, die Hände schlugen Wurzeln in den Hosen, die Mützen saßen schief im Nacken, kühn sahen die Männer aus, kühn, unbeirrbar und menschenfreundlich. Dreistimmig summten sie:

»Wenn der Wind weht
Über das Meer ...«

Und die Kartenspieler, an denen sie vorbeikamen, summten mit.

Im Freien empfing sie ein ungebärdiger, nach starken Gewürzen riechender Landwind, der Vorreiter des Mistrals.

Plötzlich brachen sie alle sechs ihren Singsang ab, blieben mitten auf der Straße stehn und guckten in die Luft.

Das tiefe Rauschen von Bombenflugzeugen drang zu ihnen herab, sie sahen aber nichts als ein Licht, das sich winzig zwischen den Sternen bewegte. Es war eine mondlose Nacht.

Das wandernde Licht in der Höhe blinkte dunkler und zugleich schärfer als die Sterne, und obwohl das hohe Rauschen ein ganzes Geschwader anzeigte, konnten sie von ihm keine Spur außer dem einen Licht entdecken. Dann erlosch auch dieses. Kaum war es erloschen, da prallten draußen auf dem Meer Strahlenbündel von Scheinwerfern gegen den Himmel und suchten, sich kreuzend, die Luft ab. Die Luft nahm plötzlich Dichtigkeit und Schwere an und hing als Fremdkörper über der Erde, hier und dort von einem grellen Strahl durchlöchert.

»Aha, schon wieder Manöver«, sagte einer der Männer.

Das Rauschen schwoll an, wurde heller, es bewegte sich dem Meere zu. »Wir haben entschieden zu viel Geld«, meinte der Alte verächtlich – mit einem Unterton von Stolz.

Die Lichtkegel schwangen sich gleich riesenhaften Turnern durch den Himmel, hingen steif am Reck, sprangen einander bei und starrten, zwischen Himmel und Erde schwebend, gemeinsam in eine Richtung, trennten sich auf einen Schlag, kreisten langsam und zögernd ... Alle zu einer Garbe vereint, standen sie plötzlich still. Ein Zug weiß schimmernder Vögel wurde sichtbar, bewegte sich wie im eigenen Licht, und von den unsichtbaren Kriegsschiffen draußen auf See fiel ein Schuß.


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