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Wie jeden Morgen erwachte Frau Pauline Tavin vom Brausen der Dusche im Badezimmer. Srumm! machte die Dusche, und da Haus Rosmarin wie alle Villen des Rundwegs aus Hohlziegeln gebaut war, klang es jedesmal, als stürze das Haus ein. Wenn dann das Wasser abgestellt wurde, gab die Leitung einen Klageton von sich. Im Hause hieß dies ›die Klage des alten Pan‹. Er klagte über die Gewalt, die Sterbliche in ihrem freventlichen Übermut den Elementen antun. (Frau Pauline war nicht sicher, ob die Menschen beim Kampf gegen die alten Götter das Recht auf ihrer Seite hatten.)
»Hallo, Mutter! Sechs Uhr!«
Paul hörte im Nebenzimmer das Prasseln des Kaminfeuers, dann das Knipsen des Lichtschalters. Er unterschied die Heftigkeit, mit der die Pinienscheite abbrannten, von dem vertrauenerweckenden Brausen des Olivenholzes. Es roch nach Weihrauch und frischem Lack, und durch den Spalt unter der Tür strömte infolge des vom Kaminfeuer belebten Zuges Frische herein mit dem Geschmack von Bergluft.
Er ließ das warme Bad für die Mutter einlaufen und eilte nackt die Treppe hinunter und hinauf. Vor dem Treppenabsatz in der Halle und oben vor der offenen Tür seines Zimmers machte er Turnübungen. Nie sah er so ernst, um nicht zu sagen bedeutend aus, wie wenn er turnte. Darin glich er den Katzen und Kindern, die beim Spiel einen Ausdruck erhabener Sammlung bewahren.
Beim Hochgehn aus der Rumpfbeuge entdeckte er, daß der Frühstückstisch in der Halle ›lachte‹, er antwortete mit einer freundlichen Grimasse und ging vorzeitig zu den Kniebeugen über, um die Morgenfröhlichkeit in sich hineinzupumpen.
Die Tischdecke und die Mundtücher schimmerten wie noch nie, selbst nicht an hohen Feiertagen, jeder einzelne Faden des Gewebes war belebt und zuckte im Licht wie ein Nerv. Die Bestecke und Serviettenringe warfen einander Sprühblicke zu, die allerdings gerade so gut den Orangen gelten konnten (den ersten des Gartens), das Geschirr aus gelbem Steingut atmete Wohlbehagen, die Köpfe der wollenen Hähne auf den Eierbechern krähten vor Appetit. Unmittelbar unter der gelbseidenen Hängelampe plusterte sich ein Strauß von Mimosen. Tau lag darauf. Die Vase umgab ein loser Kranz weißer Narzissen mit goldenen Herzen. Die Kacheln des Fußbodens, rötlichgelb, luden zum Tanz ein, sie schienen geölt. Hell ist es bei uns, dachte Paul. Die Familie Tavin betrügt den Winter ... Er war stolz und tat wie der Mann, der den Wasserturm versorgte, indem er mit Hilfe zusätzlicher Kniebeugen weiterpumpte, bis er von Morgenlust überfloß.
Er stürmte die Treppe hinauf, und als er wieder unten anlangte, hatte sich alles verändert. Durch die gläserne Schiebetür zum Wohnzimmer sah er seine Bücher, Hefte und die vorschriftsmäßige Aussteuer für das Internat, der Koffer lag geöffnet auf dem Tisch in Erwartung einer letzten Überprüfung durch Frau Pauline.
In der Küche rumorte das Mädchen, es duftete nach Kaffee und geröstetem Brot. Die Festtäglichkeit hatte einem nüchternen Behagen Platz gemacht, die Blumen waren durch bösen Zauber geruchlos geworden. Nichts mehr von Zuversicht und Helligkeit! Um den Lichtkreis der Lampe war Winter, das unwirtliche, griesgrämige Zwischenreich des Jahres, und in seinem Zwielicht erhob sich wie eine Luftspiegelung ein Gebäude, weitläufig und düster, ein früheres Kloster, das war das Touloner Lyzeum – für Paul das Haupt- und Staatsstück seiner Alpträume. Als Rebell kehrte er ein letztes Mal in sein Zimmer zurück.
Während er die Schuhe anzog, hörte er das Plätschern des Badewassers, und dann begann die Mutter zu singen.
»Ihr, die ihr Triebe des Herzens kennt – sagt, ist es Liebe, die hier so brennt?« Sie hatte eine gute Altstimme.
Er wußte, nun stocherten ihre Hände auf dem Toilettentisch herum, holten dies und jenes hervor, stellten es auf seinen Platz zurück. Sie tat immer sehr eilig, obwohl sie sich großmütig an Zeit nahm, was sie brauchte. Eile war ihre Art, die Zeit zu vertreiben.
Als der Gesang einmal kurz aussetzte, sah er in Gedanken, wie sie, ein wenig vorgebeugt, mit angestrengtem Blick in dem Spiegel, leicht und vorsichtig mit dem Stift über die Lippen strich. Er lächelte vor sich hin. Solang er denken konnte, war diese Stimme als eine Verkündigung der Lebenslust vor ihn getreten und hatte ihn leuchtend gemacht. Eine tapfere Stimme, treu und beständig in allem, was sie tat. Die Äußerungen dieser Stimme waren Handlungen, sie traten aus dem Unerforschlichen hervor, waren da, hell und verständlich, strahlten und warfen einen Schatten. Eine solche Stimme, sagte er sich, ist eine Gnade – auch für die andern, hauptsächlich für die andern ... Gleich darauf trat Pauline im Straßenkleid, den flachen Hut über dem Ohr, aus ihrem Zimmer.
Sie hob sich auf den Zehenspitzen, damit er sie auf die Stirn küsse, Arm in Arm gingen sie die Treppe hinab.
Sogleich fand der Frühstückstisch seine Fröhlichkeit wieder und der Kachelboden seinen spiegelnden Glanz, die Mimosen und Narzissen vermischten ihren Duft und sandten ihn durch die Räume, und im Wohnzimmer, dessen Schiebetür offen stand, verlor der andre Tisch seine Schrecken und zeigte sich mit nützlichen Dingen beladen, und alles ringsum hing lauschend an den Lippen von Mutter und Sohn, die sich in halblautem Gespräch bewegten.
Sie glichen einander, nicht zuletzt in ihren gepflegten hurtigen Gebärden, beide hatten auffallend schöne Hände. Über die Stirn der Mutter lief eine senkrechte Narbe. Sie rührte davon her, daß Pauline beim Lazarettdienst während des Krieges nachts mit dem Kopf gegen einen Türflügel gerannt war. In Augenblicken besonderer Nachdenklichkeit pflegte sie mit dem Handrücken über die Narbe zu streichen.
Eine Zeitlang hatte Paul sie mit ihrer ›Kriegsverletzung‹ geneckt, es war ihm aufgefallen, daß er sie damit nach Belieben erröten machen konnte, wozu noch die Merkwürdigkeit trat, daß die Narbe im erröteten Gesicht weiß blieb – ein Anreiz mehr, die Neckerei zu wiederholen. Da aber ihre Verlegenheit jedesmal größer wurde und sich schließlich bis zum Schmerz steigerte, hatte er das Spiel aufgegeben und statt dessen die Wunde mit einer Art Kult umgeben. Sie galt ihm als das Zeichen eines großen Geheimnisses ... In die Mutter zu dringen, um mehr zu erfahren als die äußeren Umstände der Verletzung, verbot die Zurückhaltung, die sie im Verkehr miteinander beobachteten. Nachdem sie einmal einer dahingehenden Frage ausgewichen war, hatte er nicht weiter geforscht. Aber seitdem küßte er die Mutter stets ausdrücklich auf die Narbe.
Inzwischen war ›Schäfchen‹ erschienen und hatte die Fensterläden geöffnet. Feuchte Kälte drang aus dem Garten herein, es dämmerte. Auf der Landstraße rasselte der Wagen der ›roten Linie‹ vorbei, den Paul sonst zur Schulfahrt benutzte. Für heute war abgemacht, daß Frau Pauline ihren Sohn in die Stadt bringen sollte, und sie ließ es sich auch nicht nehmen, den Wagen auf dieser kleinen Höllenfahrt zu lenken. Paul hatte sich bereiterklärt, das letzte Tertial vor dem Schlußexamen im Internat zu verbringen und nur über Sonntag nach Hause zu kommen – ein Entschluß, der verdiente, daß man ihm allerhand Ehren erwies. Paul galt als schlechter Schüler – gerade so gut hätte er Primus können. An Klugheit und Lebenserfahrung, auch an Wissen war er seinen Altersgenossen voraus. Nur arbeitete er zu leicht und deshalb unregelmäßig und flüchtig und ersetzte die Beherrschung des Lehrstoffes durch eine Einbildungskraft, die ihre Nahrung aus schulfremdem Boden zog – den frischgebliebenen Lehrern zu Freude, den anderen zum Tort.
Bei den guten Schülern war er unbeliebt. Denn die Schildkröte, die der Fabel zufolge mit dem Hasen um die Wette läuft, gewinnt zwar das Rennen, aber Neid und Zorn über den sprunghaften Leichtfuß verderben ihr die Siegesfreude, und dies fällt als zusätzliche Verachtung auf den Hasen zurück. Paul blieb oft monatelang von der Schule weg, anfangs unfreiwillig, mit Rücksicht auf seine Gesundheit, dann aber, als er plötzlich gekräftigt aus einer längeren Krankheit hervorging, freiwillig, mit entwaffnendem Vertrauen auf sein Glück ... Und nun begab er sich also in das dichteste Handgemenge, das Internat.
Unter einem schmutzig-dunklen Himmel fuhren Mutter und Sohn nach Toulon. Die Wolken lagen, Stück an Stück, nebeneinander, schwarz in der Mitte, am faserigen Rande grau.
Am Horizont zeigte sich eine Lichtung, schmal und rosig, das mochte, meinte Paul, der Kai des himmlischen Hafens und Ausladeplatz der Warenballen sein, die von dort über den Himmel gerollt waren. In den Weinäckern und Gärtnereien verhielten sich die Arbeiter still und klein – ländliche Bildsäulen. Die Ortschaften machten einen verschlafenen Eindruck, und im Touloner Kriegshafen, den sie von weitem erblickten, überließ die versammelte Flotte alle Tätigkeit dem Wachtschiff. Es lag unweit der Hafeneinfahrt an der Boje, der Rauch aus dem einen der drei Schornsteine war die einzige Regung an Bord. »Genau so gemütlich«, behauptete Frau Pauline, »rauchen am Samstagabend die Kamine der Wochenendhäuser – und am Sonntag früh die Pfeifen der Angler.«
Der Wagen hielt vor dem Lyzeum am Boulevard de Strasbourg. Schüler in allen Größen strömten durch das Tor. Die Mutter sagte: »Mut, mein Junge!«, der Sohn: »Versprich mir, heimwärts langsamer zu fahren – ich bin dann nicht mehr da, um aufzupassen!« Er gab acht, wie sie wendete, sie winkten sich zu, und dann läutete das ›Armesünderglöckchen‹ im Schulhof. Durch die offenen Türen sah man das Katheder, es glich einem Schafott. In jedem Zimmer stand eins.
Die Glocke schepperte, sie hatte einen Sprung. Der Sprung war fast hundertfünfzig Jahre alt. Zur Zeit der großen Revolution, als nach Abzug der Engländer aus Toulon ein furchtbares Gemetzel mit den Vaterlandsverrätern aufräumte, war sie durch den Steinwurf eines Sansculotten verletzt worden. Die wenigsten Jungen kannten die Geschichte. Vielmehr sagten sie von der mißtönigen Glocke, sie habe ein schlechtes Gewissen.
Sie fühlten sich ausnahmslos unschuldig. Als Opfer eines Justizmordes betraten sie das Klassenzimmer.
Eine Stunde später begann sich die Sonne im schmutzigen Himmel bemerkbar zu machen.
Frau Pauline verfolgte die gewaltige Arbeit und schenkte ihre Aufmerksamkeit abwechselnd dem Himmel, den Pflanzen und der Santa Maria.
Erst ging die Sonne unter den Lumpenballen umher wie ein Gepäckträger mit seinem zweirädrigen Karren, schob hier ein Stück ab, dort eins, machte sich Luft. Sie kam und ging, und je mehr Raum sie schaffte, um so länger sah man sie und konnte ihre Bemühungen verfolgen. Plötzlich nahm Frau Pauline wahr, daß die Sonne einen Bundesgenossen besaß, den Meerwind, und es dauerte auch nicht lange, da warf der rüstige Jüngling alles da oben kurzerhand über den Haufen. Von Panik erfaßt, floh die Wolkenmasse Cantal zu, und die paar Nachzügler, die aus unerfindlichen Gründen über der Bucht von Ranas hängenblieben, lösten sich in der Bläue auf wie Zuckerblöcke. Die Luft wurde ganz süß bis herab zu Frau Pauline, die dastand und andächtig zusah, wie die Majestät der Sonne sich auf ihrem Throne niederließ ...
Nachdem die Unbeschränktheit ihres Regimentes feststand, setzte ihre gehorsame Dienerin Pauline die Wanderung durch den Garten fort und liebkoste mit allen Sinnen die wiedergewonnene Erde. Die Mimosenbäume dufteten und die Mispeln, diese fast zu stark, zu süß, die Zitronen färbten sich, von den Orangen erglühten manche schon im Goldton der Reife und hatten eine gefallsüchtige Art, ins Laubwerk zu kriechen und sich dort von der Sonne suchen zu lassen. Es blühten Geranien und Ringelblumen – noch immer, nein, schon wieder der rote Centranthus, noch immer, schon wieder Rosen, Narzissen, gelbe und weiße, ein Busch mit violetten Blüten verbreitete einen Geruch, herb wie der eines Fuchses. Der Rosmarin, der zur Einfassung der Gartenwege diente, trieb massenhaft Blüten an den Spitzen der Zweige, während tiefer unten die Blüten verwelkten. Ein endloses Verblühen und Neuerblühen – Blumen wie Büsche durften nicht aufhören zu blühen, sie durften nicht trotz ihrer Müdigkeit, trotzdem sie seit Monaten blühten, trotzdem es Winter war, die Sonne erlaubte es nicht, die großmächtig im Himmel thronende Sonne! Der Rosmarin schlängelte sich als lila Band durch den Garten, voll und geschlossen, aber wo der kleinste Vogel sich niederließ, fiel ein Blütenregen zu Boden, das gleiche bewirkte ein kräftiger Windstoß, die Gartenwege waren bedeckt mit Blüten.
Dazwischen standen die blaugrünen Agaven, Festungswerke der Blumenwelt. Die einen trugen einen feinen, gelben Streifen am Blattrand, sie hatten eher das Gepräge eines Lustschlößchens als das einer Turmschanze, ob ihnen gleich die Waffen ihrer Art nicht fehlten. Die andern hingegen strotzten vor Unnahbarkeit – vielleicht wirkten sie nur so, weil keinerlei Verzierung über ihre Gefährlichkeit hinwegtäuschte. Die gewaltigen Schwertblätter mit den Zähnen einer Säge zu beiden Seiten legten sich weit nach außen und liefen in eine nadelfeine Hornspitze aus. Kein Tier, kein Mistral konnte ihnen etwas anhaben, der stärkste Sturm brachte sie kaum zum Erbeben. Und, siehe da, die harten, scheinbar zu Bollwerken erstarrten Pflanzen standen im Rausche des Wachstums, auf dem Gipfel ihres Lebensdranges: sie waren im Begriff, zu gebären! Das innerste Blatt rollte sich in seiner ganzen Länge auf und entließ ein Kindchen aus seinem Innern, vorerst noch in Form einer enggewickelten Tüte, die sich jedoch in der Folge ebenfalls aufrollen und ein großes, mit Zähnen bewehrtes Blatt werden sollte. Das Mutterblatt trug, tief eingeprägt, den Abdruck des Neulings, und als Frau Pauline die größten und ältesten Blätter der Pflanze in Augenschein nahm, stellte sie fest, daß ein jedes den Abdruck eines andern, längst erwachsenen Blattes unauslöschlich in seinem Fleisch bewahrte. Die Mütterlichkeit der harten, kriegerischen Pflanzen beglückte sie. Erinnerte es nicht an die Sorglichkeit, mit der die Raubtiere ihre Jungen umgaben, an diese Mischung aus wilder Kampfbereitschaft und Zärtlichkeit? Und sie fand ihre Meinung bestätigt, daß die wildesten Geschöpfe auch die empfindsamsten und treusten waren, nicht so sehr in ihren Äußerungen wie in ihrem Fleisch. Vielen Frauen gleich, die sanft scheinen, weil sie ihr eigenstes Wesen in sich verschließen, liebte Pauline die mächtigen Lebenszeichen der Natur und fühlte sich tief durch sie bekräftigt ...
Sie ging weiter. Ein Winkel der Gartenmauer beherbergte einen Baum, der besaß gefiederte Blätter und leuchtendrote Schoten und sah aus wie ein Riesenvogel, vom Sturm aus den Tropen hierher verschlagen. Wenn ihn, wie jetzt, der Wind bewegte, schien er in all seiner Größe auffliegen zu wollen, die roten Früchte funkelten und klirrten, er drehte sich um sich selbst, sein gesträubtes Gefieder riß verzweifelt an den Ästen.
Zu Hause, dachte Pauline, hatten wir einen Raben, der sprang mit gestutzten Flügeln im Garten herum. Man mußte aufpassen, er war tückisch auf die Wiedergewinnung der Freiheit bedacht ... Hier gehört mir der schönste Flamingo, einer aus der Zeit der Drachen und Riesen, niemand braucht ihm die Flügel zu schneiden, seine Flugversuche sind ein lebendiges Gewitter. Wer weiß, vielleicht ist er ein Gott – und selig, verschollen zu sein in seinem Winkel!
Und dann dachte sie an den Nebel, in dem die Winter ihrer Heimat dahinschlichen, und sie warf den Kopf zurück und bot Gesicht und Hände der Sonne dar, der allmächtigen Sonne, die gleichzeitig auch ihr Baumgott in herrlichem Ungestüm anrief ...
Als habe diese Bewegung eine geheime Schleuse ihres Gemütes geöffnet, wurde sie von einem düsteren, reißenden Gefühl überschwemmt. Erschreckend kam es über sie und verwandelte sich in bittere Lust. Giebel starrten, in einem schiefen Sonnenstrahl dampfte ein Fluß, Plätze dehnten sich zu unwahrscheinlicher Weite, und auf einem Sockel stand eine Gestalt, in deren bronzenem Antlitz sich die Feuchtigkeit der Luft sammelte und zu Tränen wurde. Es sah aus, als weinte der Held, der Nebel umgab ihn wie Schweiß der Jahrhunderte, man stieß unversehens auf ihn und freute sich, daß er noch da war, daß er einen nicht allein ließ mit der Schwermut dieser alten Stadt.
Paulines Ohren dröhnten vom Glockenschlag des Münsters: eins, zwei, drei, vier, fünf wuchtige Schläge, die unterwegs zu einer weichen Klage wurden, so langsam sanken sie durch den Nebel herab – und über Paulines der Sonne inbrünstig hingehaltenes Gesicht, sie fühlte es, rieselte feuchte Kälte, und ihre Glieder waren schwer wie im Traum, wenn man laufen möchte und nicht kann.
»Nein!« rief sie. »Nein, nein, nein ...«
Als sie ausschritt, strich sie mit dem Handrücken über die Narbe auf der Stirn, und in ihr Gesicht trat ein Ausdruck wilder, fast grausamer Entschlossenheit.
Die Gärten der Häuser Rosmarin und Santa Maria erstreckten sich vom sandigen Rundweg abwärts bis zur teerschwarzen Landstraße.
Hier, am untern Gartentor, stand auch ihr Name zu lesen. Das andre, auf den Rundweg führende Tor verschwieg ihn. Die schönsten Räume lagen auf der Gartenseite, auch die Terrassen, von hier sah man auf die Bucht von Ranas-sur-mer und das Vorgebirge, das sich jenseits des Meerstreifens breitlinig und leicht gezackt über dem schmalen Küstenland erhob. Hinter dem Vorgebirge lag eine neue Bucht, dann kam wieder ein Vorgebirge, dann die Bucht mit dem Hafen von Toulon, dann wieder ein Vorgebirge und eine Bucht und so weiter die ganze Küste entlang nach Osten und ebenso nach der andern Seite, wo die Bucht von Cantal die westliche Reihe der Halbinseln und Buchten eröffnete. Aber dies sah man teilweise nur vom Gipfel der Berge, nicht vom Park Stellamare, und vollständig allein auf der Karte.
Jetzt, da Frau Pauline auf der Höhe des Gartens angelangt war, konnte sie auch die Dächer der Colline erblicken, einer älteren Villenkolonie, die unmittelbar auf einem felsigen Hügel am Meer lag. Vom Hafen führte eine steile Straße hinauf, eine zweite, ebenso abschüssige, lag auf dieser Stellamare zugewandten Seite des Hügels. Von Frau Paulines Standort gesehn, glich der Weg einer Schneise. Abends nach einem Regen konnte er glühen wie eine Stange Gold, bei Vollmond glich er einem gefrorenen Wasserfall. Scheinbar waren dies nur Bilder oder Gleichnisse, in Wirklichkeit begleiteten und füllten sie Paulines Leben so, daß sie einmal auf Pauls Frage, ob sie sich denn nie langweile, mit ehrlichem Staunen hatte antworten können:
»Langweilen? Ich sollte mich langweilen? Ich befinde mich dauernd in großer Gesellschaft! Siehst du nicht, wie das Land von allen Seiten ins Haus hereinkommt? Im Wohnzimmer treffe ich andre Gesichter als hier und wiederum andre im Schlafzimmer – und so überall. Du wirst mir vielleicht nicht glauben, mein Junge, aber dieses Vorgebirge da, die Pinien der Colline, das Meer, sie alle, die mir von morgens bis abends zusehn und mich auch nachts nicht verlassen, sie sind mir näher, als ich mir selbst bin, jedenfalls bilde ich es mir ein. Sie wissen mehr von mir als ich selbst, und sobald ich etwas über mich erfahren will, stelle ich mich hin und forsche sie aus ...«
Ursprünglich hatten sie die Colline bewohnt, bis Pauline auf der Flucht vor der Witwe Bosca, die sich in ihrer Nähe niederließ, nach Stellamare übersiedelte. Gleich war ihr die finstere Witwe nachgesetzt, und wenige Tage, nachdem Pauline Haus Rosmarin gekauft hatte, war die unmittelbar daneben liegende Santa Maria in den Besitz Juliette Boscas übergegangen.
Niemand konnte es ihr verwehren, auch nicht in einem höheren, gewissermaßen moralischen Sinne. Die Witwe sowohl wie ihr Major stammten aus der Provence, nicht gerade aus Ranas-sur-mer, aber Ranas gehörte fraglos zu ihrer Heimat, wohingegen Pauline Tavin aus der Normandie kam und sich hier nur niedergelassen hatte, weil es die Heimat des andern war ... Und wenn niemand sonst es ahnte, die Witwe Bosca wußte Bescheid und übte streng ihre Hoheits- und Fischrechte aus. Sie fischte Lebensäußerungen Paulines, ihr Kommen und Gehn, Farbe und Schnitt ihrer Kleider, Hüte und Schuhe, ihr Mienenspiel, den Klang ihrer Stimme, ihr Schweigen, den leisesten Schimmer ihres Daseins. Und kraft ihrer Hoheit nahm sie, wo sie konnte, das Recht des Vortritts wahr, in den Läden und in der Kirche, sie blickte auf Pauline herab, hauptsächlich in ihren Gedanken. Pauline war für ihr Leben gefangen und wie eine Gefangene bewacht in der Heimat des andern. Er hat sie mir in die Hand gegeben, hielt sich Juliette vor, er ist der Honig, sie ist die Wespe, und ich bin die gläserne Wespenfalle ...
In gewissem Sinne hatte sie recht, so zu denken. Pauline besaß weder Eltern noch Geschwister noch Freunde mehr in ihrer normannischen Heimat. Die mittägliche Sonne hatte sie ergriffen und zu ihrem Geschöpf gemacht, allein und schutzlos stand sie in ihrem Licht. Es war ja ihr Wille, ihr zu gehören, seiner Sonne, ausschließlich und für immer, seiner Heimat. Paul sollte ein Sohn sein des Südens, aller Schwermut abhold, ein Kind der Sonne und des Mistrals, sein Sohn, das Kind seiner Wahl, wenn schon nicht seines Blutes – ausschließlich und für immer. Deshalb war sie hierhergekommen. Dafür lebte sie. Die andre, ihre Verfolgerin, lebte nicht. Die Witwe Bosca war ein Schatten, der sich über ihren eigenen Schatten legte, finster, vielleicht bösartig, aber machtlos.
Aufrecht vor der Terrassentür stimmte sie das Lied des heutigen Morgen an, sie hob und senkte sich auf den Zehen und sang:
»Ihr, die ihr Triebe des He-e-erzens kennt
Sie unterbrach sich, weil zwischen der ersten und zweiten Strophe von der Brüstung der Nachbarveranda ein Seufzer aufstieg, raumverdrängend, gebieterisch, ein Seufzer, der allem Anschein nach ein Befehl war. »Hahrr«, klang er, ungefähr wie das Schnauben eines auftauchenden Seelöwen. Sofern er aber als Befehl an Frau Pauline verstanden sein wollte, ging er zweifellos dahin, Zurückhaltung zu üben, den Willen zum Glück nicht so schamlos hinauszusingen, bevor man nicht, wie sich's gehörte, ein Opfer gebracht, auf das ein krankes Mädchen Anspruch zu haben glaubte.
»Oh, Verzeihung!« rief sie hinüber, »Verzeihung! Hier bin ich.« Sie lief zum Gartenzaun und preßte das Gesicht an die Drahtmaschen. Über der Brüstung der Veranda erschien für einen Augenblick ein schmerzlich lächelndes Gesicht.
»Ich liege und habe einen Gipsverband«, meldete Sibylle.
Frau Pauline machte es sich bequem, indem sie die Brust gegen den Zaun lehnte und sich mit ausgestreckten Händen an den Drahtmaschen festhielt. Gewöhnlich stand in der gleichen Haltung auf der andern Seite des Zaunes Sibylle, und dann waren sie beinahe wie im Beichtstuhl.
»Paß mal auf, Kind! Wenn wir schon so laut sprechen müssen, wollen wir erst stimmen. Hörst du das: ›Mut, kleine Sibylle‹«?«
»Sehr gut.« – »Also leiser: ›Mut, kleine Sibylle‹!« – »Noch leiser!«
»Hörst du mich, Sibylle?«
»Halt, lieber wie vorhin!«
»Gut. Nun sag mal, Kind, seit wann hast du einen Gipsverband?«
»Heute früh hat der Doktor das Knie in Gips gelegt, gerade als Sie mit Paul losfuhren. Ich hielt es nicht mehr aus vor Schmerzen. Tourenweise ging das, ich kann Ihnen sagen! Jemand behauptete, so sei es gewesen, als man ein Kind zur Welt brachte, nur, versteht sich, viel, viel ärger. Der Doktor erlaubte sich einen Scherz über den Gipsverband und das Kinderkriegen. Er wurde mächtig zugedeckt.«
»Das kommt davon, wenn er einmal gesprächig wird. Womit hat man ihn denn zugedeckt?«
»Nicht sehr zartfühlend, muß ich sagen. Er habe nicht weniger als drei Tage gebraucht, um sich zur Erkenntnis durchzuringen, daß mit dem Knie etwas geschehen müsse ... Er merke alles spät oder gar nicht... So sei er auch beim Unfall ahnungslos weitergefahren, obwohl einige Meter entfernt ein Kind leblos auf der Straße gelegen habe ... Es klang natürlich ganz freundlich, Schwarzbrot, in christliche Milde getaucht, aber stellen Sie sich vor, gnädige Frau, der Doktor muckte auf! Er schob den Kaugummi in den andern Mundwinkel und erzählte sehr deutlich eine Geschichte von einem Chirurgen, den man an der Tür habe stehn lassen wie einen Bettler. Und dann – verlangte er eine Pflegerin für mich! Das Sprichwort, umsonst sei nur der Tod, lüge, sagte er. Bereits die Pflegerinnen kosteten Geld, es müsse unbedingt eine her, und die, betonte er mit erhobener Stimme, gelte es auch zu bezahlen – ob gern oder ungern, sei ihm gleich. Und dabei rieb er schadenfroh Daumen und Zeigefinger gegeneinander, als ob er Geld zählte. Stellen Sie sich vor! Ein solcher Grobian!«
»Ich gestehe, Sibylle – eigentlich kann ich mir nicht recht vorstellen, was dann erfolgte.«
»Tränen, gnädige Frau! Tränen vor dem Bildnis des Majors, dessen Tochter zu sein ich unwürdig bin, zumal jetzt, da der Doktor eine Pflegerin für mich anfordert, die überdies noch bezahlt werden muß. Ich für mein Teil möchte ganz gern ein bißchen Gesellschaft. Was meinen Sie dazu, gnädige Frau?«
»Nicht so laut, Sibylle. Du meinst immer, weil du eine zarte Stimme hast, hört man dich nicht – selbst wenn du schreist.«
Etwas leiser erklärte Sibylle:
»Es kommt nie jemand von vorn ins Haus, immer von rückwärts.«
»Da weiß man aber auch nie, ob wer kommt.«
»Sie machen sich keinen Begriff, wie fein das Gehör bei Unglückswürmern wie mir ausgebildet ist. Ich höre die Leute denken!«
»Gut. Nun weiter! Bekommst du eine Pflegerin?«
»Man hat den Major befragt. Leider ließ er sich von den Tränen der Sparsamkeit einschüchtern und sagte nein.«
»Sprich nicht so von deinem Vater, Kind, ich bitte dich. Du hast ihn nicht einmal gekannt.«
»Nein, ich kenne nur den Major an der Wand des Salons. Und ich kann Ihnen versichern: seine Orakel waren von jeher unfreundlich für mich. Und mit den Jahren wird seine Laune immer schlechter.« »Ich rede mit dem Doktor.«
Hier erfolgte ein Freudenschrei. »Wirklich? Tausend Dank! Oh, Sie! Erzengel zur Rechten von Gottes Thron!... Was suchen Sie eigentlich hier unten in diesem Jammertal? Großartig!... Wie geht's Paul?«
»Er ärgert sich über das Internat. Juli wird er hoffentlich fertig.«
»Was? Vor Juli kommt er nicht nach Hause?«
»Doch, über die Sonntage und dann über Ostern. Immer vorausgesetzt, daß du nicht so schreist!«
»Oh, er! – er hat mich bisher nur flüstern hören ... Es ist aber doch schön, daß ich nun endlich seine Bekanntschaft gemacht habe. Unfreiwillig, aber dafür gleich hochdramatisch. Ich will Ihnen entgegenkommen, gnädige Frau, und setze es auf das Konto des Majors. Die erste Buchung – auf einer bisher leeren Seite. Ich verspreche Ihnen auch, von jetzt an jeden Groschen da einzutragen, den das Glück für mich fallen läßt. Als nächstes die Pflegerin – obwohl mein Gewissen in der Beziehung nicht sauber ist. Sie wissen doch, er hat sie abgelehnt.«
»Leise!«
»Leise gesagt: ich will annehmen, daß man das Orakel gefälscht hat... Wie wird das aber nun? Soll Paul etwas vom langjährigen Schmuggel zwischen uns erfahren?«
»Ich habe darüber nachgedacht. Lieber nicht. Wir könnten in ein schiefes Licht geraten.«
»Andrerseits –«
Sibylles Kopf schnellte über die Brüstung, unheimlich ausdrucksvoll, weiß und schwarz, mit einem glühend roten Puppenmund. Sie zischte: »Achtung! Ich höre den Hausschlüssel!«
Mit einem Satz stand Frau Pauline in einem Geranienbeet ihres Gartens. Eine Pflanze lag geknickt zu ihren Füßen. Sie hob sie auf und ging gemessenen Schrittes dem Hause zu.
Als sie vor der Tür den Kopf wandte, sah sie drüben einen Schatten über die Veranda gleiten.
Am Nachmittag erschien in der Santa Maria, vom Doktor gesandt und im Auftrag eines von Frau Tavin eigens zu diesem Zweck erfundenen Frauenvereins, eine Pflegerin in weißem Kleid und kurzem, weißem Kopftuch und wurde streng empfangen.
»Sie mögen eine anständige Person sein«, äußerte die Witwe, »aber Sie sind angezogen wie zu einem Kostümball. Ich begreife nicht, daß die Kirche solche Sommerfähnchen duldet – auch noch mitten im Winter.«
Auf den Einwand, daß dies die Kirche nichts anginge und man eine staatlich anerkannte Krankenpflegerin vor sich habe und keine Nonne, erfolgte die Antwort:
»Das sagen sie alle. Wenn man die Damen hört, könnte man sie für staatlich geprüfte Engel halten. In Wahrheit wissen sie nur, wie man es anstellt, um keine Kinder zu kriegen. Oder haben Sie etwa das Gelübde der Keuschheit getan? Nein? Das beruhigt mich. Jedenfalls wird in meinem Hause nicht getanzt, und so kann ich Sie hier auch nicht brauchen ... Entschuldigen Sie, bitte, meine Sprache! Es ist eine Witwe, die zu Ihnen spricht, die mit den Pflegerinnen unsrer Helden ihre Erfahrungen gemacht hat.«
Dabei wies sie mit einer Handbewegung auf den Major, die nichts andres bedeuten konnte, als daß er zu den Opfern der staatlich anerkannten Pflegerinnen gehörte.
Das Fräulein unterdrückte ein Lächeln und erwiderte: Was starken Männern von Krankenschwestern im Krieg angetan worden sei, besonders den Athleten der Kolonialtruppe, könne sie nicht beurteilen, dafür sei sie zu jung. Dagegen kenne sie die untröstliche Lage der Dame und die Verdienste des Toten. (Sie machte eine leichte Verbeugung.) Hauptsächlich jedoch habe man sie hergeschickt, um ein lebendes Fräulein zu pflegen, das schon zu erwachsen sei, von seiner Mutter gewisse Handreichungen ohne peinliche Gefühle entgegenzunehmen.
Dem wiederum fand die Witwe entgegenzusetzen, daß sie einer Religion angehöre, deren Stifter die schmutzigen Füße der Armen gewaschen habe – und hier seien nicht die Gefühle eines unerfahrenen Kindes entscheidend, sondern ausschließlich ihre eigenen, und die freilich seien in Demut geübt und in niedrigen Werken erfahren. Sie könne sich kein Dienstmädchen leisten und versehe ihren Haushalt allein, und weil in Cantal trotz des größeren Glanzes des Ortes alles viel billiger sei als in Ranas, scheue sie weder die Mühe noch die Kosten der Fahrt und kaufe dort ein. Dabei sprängen immer noch einige Sous heraus. Witwen von Kriegshelden, sogar höheren Grades, sähen sich gezwungen, für den Rest ihrer Tage weiterzukämpfen, um die Lorbeerblätter für die Suppe zu ergattern ...
Im weiteren Verlauf des Wortkampfes stellte sich heraus, daß die anlockende Person ihre Dienste unentgeltlich anbot. Außerdem entnahm sie ihrer Tasche ein Diplom, das auf prachtvollem, mit den Symbolen der Arzneikunde geschmücktem Papier ihre wissenschaftliche Ausbildung beglaubigte, und als auch die Frage der Verköstigung zum Vorteil der Witwe geregelt war, erhob sich diese hoheitsvoll vom Sofa und reichte der Pflegerin die Hand.
»So seien Sie willkommen, liebes Fräulein – oder darf ich ›Schwester‹ sagen?«
»Wie Sie wollen, gnädige Frau! Schwester Louise.«
»Meine Tochter liegt auf der Veranda. Hier, diese Tür! Verzeihen Sie das Mißverständnis, liebe Schwester Louise. Ich habe im Krieg sogenannte Pflegerinnen gekannt – lassen Sie mich davon schweigen! Hyänen sind harmlose Haustiere im Vergleich zu diesen – diesen Personen, die dem Tode noch seine Beute abjagen. Ich habe sie am Werk gesehn. Gott verzeih ihnen, ich kann es nicht... Sie, liebe Schwester, ahnen davon nichts, seien Sie froh! Sie sind jünger als der Krieg.«
Sie ließ die Hand der Schwester los und sagte in verändertem Ton – singend, beinah zärtlich:
»Ich weiß wirklich nicht, liebe Schwester, wie ich neben dem Haushalt und meinen Obliegenheiten in der Kirchengemeinde mit der Pflege meiner armen Sibylle hätte fertig werden sollen. Die Vorsehung hat Sie mir geschickt – oder vielmehr...«
Damit ergriff sie die Schwester am Arm, drehte sie um, so daß sie beide nebeneinander vor dem Major standen, und sagte mit verklärtem Ausdruck:
»Er.«
Schwester Louise nickte und machte sich frei. Sie hatte Angst. Man hatte sie vorbereitet, aber dies letzte überstieg alle ihre Erwartungen.
Was wohl mochten die durchdringend in die Ferne gerichteten Augen der Witwe erblicken? Der Fleck rosa Schminke hob sich kraß von dem übrigen Gesicht ab und glich dem Schönheitspflaster einer gefallsüchtigen Leiche, das Patschhändchen brannte fiebrig, und alles zusammen schmeckte nach Laster.
Es war ein Laster, das Schwester Louise nicht kannte. Deshalb fürchtete sie sich.
Wortlos, auf den Fußspitzen, verließ sie das Zimmer. Die Witwe blieb zurück vor dem Bildnis des Götzen, die Arme hingen kraftlos herab, der Kopf war in Verzückung erhoben ...
Ganz anders vollzog sich der Empfang der Schwester auf der Veranda. Sibylle warf die Arme hoch und zog Schwester Louise zu sich herab. Das hübsche frische Fräulein mußte sich neben sie auf den Liegestuhl setzen und ihr ›erst einmal, auf Probe, die Hände in Verwahr geben‹, die sie pflegen sollten.
»Nein, Schwester«, Sibylle stieß einen Seufzer aus, »nein, was werden Sie mir nicht alles erzählen müssen! Wochen und Jahre werden Sie brauchen, um mich zufriedenzustellen. Erklären Sie mir, bitte, zuerst: was fehlt ihm, dem Knie? Wird es wieder tadellos? Der Doktor sagt, wenn man nicht aufpasse, könnte es sein, daß ich mein Lebtag hinke. Das ist doch bloß eine Drohung, damit ich stillhalte – wie?«
Nach stundenlanger Unterhaltung verstand Sibylle nicht viel mehr von der Anatomie des Knies als vorher. Dafür war von der Laufbahn und den Berufsbedingungen einer staatlich anerkannten Pflegerin keine Einzelheit im Dunkel geblieben. Sie kannte die Familie der Schwester bis zurück zu den Großeltern und die Vorzüge des zukünftigen Vaters ihrer Kinder, eines Medizinstudenten.
»Es wäre nett von Ihnen, Schwester«, sagte Sibylle, »wenn Sie jetzt die Lehne des Liegestuhls hinaufschieben wollten – ich möchte den Sonnenuntergang sehen.« Sie zwinkerte der Schwester zu. »Ich habe nicht weit von hier eine gute Freundin, und wir beide machen um diese Stunde immer unsre Gewissenserforschung.«
Die Schwester brachte den Stuhl in die gewünschte Lage, und es trat ein Schweigen ein, das die Vögel im Garten, sobald es vom Geräusch eines vorbeifahrenden Wagens zerrissen wurde, emsig mit kleinen Schreien zusammenflickten ... Dann war die Gewissenserforschung offenbar beendet, denn Sibylle sagte halblaut:
»Haben Sie schon die Bekanntschaft des Majors gemacht?«
Ob sie von ihrem Vater spreche, fragte die Schwester in mißbilligendem Ton zurück.
Sibylle winkte ihr, näherzukommen.
»Ach, ich war ja noch so klein, als er fiel«, sprach sie. »Ich kenne ihn nur als Major an der Wand des Salons. Dort hing er in jeder unserer Wohnungen. Bevor die Möbel standen, hing er schon dort. Er wurde vorausgetragen, wie die Fahne bei der Prozession ... Sein Schnurrbart gefällt mir, er erinnert an Vercingetorix, und für Vercingetorix habe ich von jeher eine Schwäche gehabt. Es stört mich nur, wenn ich daran denke, wie Vercingetorix die Suppe löffelte ... Aber hat er überhaupt gelebt, Schwester? Ich meine den Major ... Und wenn er gelebt hat, der Major, hat er wirklich so ein Gesicht gemacht? Oder meinen Sie, das Gesicht, wie es auf dem Bilde ist, war eigens für seine Tochter bestimmt? Damit ich Bravheit schwitze – vor Angst?«
Die Schwester lachte.
»Sicher dachte er nicht an Sie. Sonst würde das Gesicht auf dem Bilde ›dada‹ machen, ein bißchen blöd und sehr herzlich. Ich kenne mich aus mit Vätern. Ich habe ihnen die Säuglinge serienweise in die Arme gelegt.«
»Na also, da bin ich doch im Recht, dann ist das gar nicht mein Vater, sondern eben der Major.«
»Fräulein Sibylle, was sagt Ihre Mutter, wenn Sie so sprechen?« erkundigte sich Schwester Louise.
»Meine Mutter? Sie freut sich, daß ich den Major nicht liebe. Sie will nicht, daß ich ihn liebe. Ich soll nur sie lieben.«
»Tun Sie das?«
Sibylle zog die Stirn in Falten und dachte nach.
»Ja«, sagte sie mit starker Betonung. »Ja. Manchmal. Wenn ich sehr unglücklich bin.«
Sie schwieg und blickte in die Weite.
Auf der Colline berührte die Sonne die oberen Stockwerke der Häuser. Ein Fenster wurde zu einem Tropfen Feuer, er fiel ab, und nur auf dem Dachfirst ruhte noch die Sonne. Jedes einzelne Haus berührte sie so zum Abschied und jedes verschieden.
Jenseits der Bucht aber lag noch das volle Licht, und dort geschah mit dem Küstenstrich und seinen Häusern eine seltsame Wandlung. Das Abendlicht hauchte sie an, und Felsen, Gras und Baum, die weit verstreuten Häuser, die Steilhänge und Mulden des Gebirges begannen zu leben. Aus tiefen Schatten drangen sie mit einer beschwingten, gleichsam musikalischen Bewegung an die Oberfläche, und dort angelangt, entfesselten sie einen kindlichen Sturm von Tätigkeit, die nur durch die Masse auffiel, so unscheinbar war sie im einzelnen. Es ging zu wie auf einer versunkenen Insel, die in der Dämmerung mit einem Freudenschrei auftaucht und eine geheimnisvolle Geschäftigkeit entfaltet, um sich mit allem zu versehn, was sie zum Leben in der Meerestiefe braucht – vielleicht war es nur ein wenig Menschlichkeit, was sie dazu benötigte – und das nun eilig, eilig eingesammelt wurde ...
In den Häusern erschienen kleine, lustige Lichter, noch stand kein Stern am Himmel... Die Eile der unsichtbaren Wesen nahm zu, je mehr die Helligkeit schwand und das Küstenland in die Bläue der Nacht eintauchte. Und die ganze Zeit stieg eine lautlose Heiterkeit von ihm auf und verweilte als rosiger Schein am Himmel.
Währenddessen saß Frau Pauline an ihrem Schreibtisch und tat, wie Sonne und Meerwind am Vormittag mit den Wolken getan hatten – sie räumte auf.
Im Kamin brannte ein Feuer, auf dem kleinen Tisch erhob sich ein Stapel Briefe. Rechts und links von den Beinen Paulines standen Schubläden heraus, von Zeit zu Zeit griff sie hinein und holte ein neues Bündel Papier hervor.
Es war ein altertümlicher Damenschreibtisch aus Kirschbaumholz ohne Aufsatz. Er hatte kurze, nach auswärts gebogene, viel zu zarte Füße, die nach jedem Umzug erneuert werden mußten. Die gewölbten, jetzt offenen Türen zeigten, in eingelegter Arbeit, eine Verzierung von Girlanden und Flöten, der Rand der Tischplatte war leicht geschwungen. Frau Pauline liebte ihren Schreibtisch, obwohl sie selten schrieb. Ihr ganzes Schreibwerk bestand aus Zurufen und Einladungen an ihre Freunde, Eremiten gleich ihr.
Aber es war ihr Schreibtisch, wie es der Schreibtisch ihrer Mutter gewesen, vom Kind schon ehrfürchtig betrachtet. Hier am Rand seiner glänzenden Fläche war sie allein wie an der Grenze eines Hochlandes, vollkommen ungestört, und konnte lange, ohne etwas zu tun, aus dem Fenster hinaussehn. Sie brauchte nur den Kopf eine Vierteldrehung nach links zu wenden, um fast alles zu finden, was sie zum innern Leben brauchte. Die Freude kam von weit her, fast gesichtslos, mit dem Duft und dem Licht des Weges beladen, und auch der Schmerz, von langer Wanderung ermüdet, kehrte ein, ohne seinen Namen zu nennen. Und wenn Pauline von ihrem Platz aufstand, nahmen sie beide, Schmerz und Lust, erst recht die Ungewißheit eines Traumes ein. Sie brauchten nicht ganz ›wahr‹ zu sein und erhielten gerade dadurch eine höhere Bedeutung, wie es oft bei Träumen geschieht. Die äußeren Umstände büßten ihre Wichtigkeit ein, und das Gefühl allein blieb bestehn, und zwar in voller Stärke, von den Zufälligkeiten des Erlebnisses entkleidet... Frau Pauline, an ihrem Schreibtisch, den Blick auf die Landschaft gerichtet, erzählte sich nicht ihr Leben und ihre Gedanken, sie ›spielte‹ sie – sie musizierte. Heute, am Nachmittag dieses wechselvollen Wintertages, war es anders als sonst – nicht ganz und gar anders, aber doch in der Hauptsache. Heute räumte Frau Pauline auf. Zugleich mit den Schubläden leerte sie viele Jahre ihres Lebens. Das ›Nein, nein, nein‹ des Vormittags fand seine Erfüllung in einem Kaminfeuer, dessen dünner Rauch sich mühsam über das rote Dach der Villa Rosmarin erhob und gleich darauf im Winde verging ...
Genau genommen war es nur ihre Jugend, deren unscheinbare Asche sie der Erde der Provence übergab – ihre frühe Jugend, das vom väterlichen Hause behütete Leben eines Kindes. Von den wichtigsten Ereignissen ihres Lebens, von dem, was sie zur Frau und Eigentümerin ihres Schicksals gemacht, erzählten einzig und allein zwei kleine Photographien, die in ungleicher Größe und Umrahmung auf der Tischplatte standen. Von diesen zwei Männern besaß sie keine Briefe. Der Tod hatte ihnen keine Zeit gelassen zum Schreiben.
Der letzte Brief, den sie ins Feuer warf, war der erste, den sie im Leben erhalten. Ein Schulmädchen hatte ihn geschrieben, das Papier war vergilbt, die ungelenke ›Schönschrift‹ von durchscheinender Blässe. Er begann mit den Worten: »Erst seitdem ich dich kenne, liebe Pauline, weiß ich, was Liebe ist.« ... Sie sprang auf und starrte in den Spiegel über dem Kamin ... Sie sah sich, ein zehnjähriges Schulmädchen, im Gesicht einer alternden Frau – und kämpfte gegen Tränen.
Nachdem alles verbrannt war, stieß sie die Schubfächer zurück, verschloß die beiden mit Girlanden und Flöten verzierten Türen und sah zum Fenster hinaus ...Ich hatte eine gute Mutter, dachte sie, ich hatte einen guten Vater, ich wußte nicht viel von ihnen und sie vermutlich noch weniger von mir ... Meine Eltern hatten keine Zeit für mich, und dennoch waren es gute Eltern ... Sie schickten mich ins Kloster, wo ich eine Menge Dinge lernte – von denen einige sich später als brauchbar erwiesen. Und dann wurde ich verheiratet. Frisch von der Klosterschule weg. An den da!
Mit einer Kopfbewegung zeigte sie auf das größere der Bilder, einen jungen Mann in Leutnantsuniform. Er hatte ein Schnurrbärtchen wie der Chauffeur Louis, sanfte, ernste Augen, ein freundliches Kindergesicht, das sich Mühe gab, männlich zu erscheinen ... Wahrscheinlich war er noch nichtssagender als sein Bild – bestimmt konnte sie es nicht sagen, er hatte ihr nicht die Zeit gelassen, ihn kennenzulernen. Er mußte in den Krieg, und als sie entdeckte, daß sie schwanger war, lag er bereits unter der Erde. Sein Name erschien im Armeebefehl. Sie beugte sich. Er konnte nichts dafür, daß er in den paar Nächten, die sie zusammen verbrachten, mit ihr umging wie ein Wilder. Während er sie besaß, war er selbst bereits vom Krieg besessen, sie war der erste Feind, den er bezwang. Sicher wäre er ein tadelloser Vater und Gatte geworden ... Sie brachte Paul zur Welt, und als er gehn und schon ein wenig sprechen konnte und der Krieg immer noch dauerte, meldete sie sich als Pflegerin. Es war anders nicht auszuhalten, sie war zu jung, um stillzusitzen und zu warten. Worauf hätte sie auch warten sollen?
Sie hielt das Leben für eine grauenhafte Pflicht, die unter allen Umständen erfüllt werden mußte. So hatte man es sie gelehrt, und alles, was um sie geschah, bestätigte es.
Dabei waren sie zu Hause eine lebensfrohe Familie gewesen – soweit sie heute urteilen konnte. Die Eltern genossen unauffällig ihre Tage, besorgt, niemandes Neid zu erregen, argwöhnisch und höflich zu höher wie zu niedriger Gestellten. Ihr Auftreten war leise und bestimmt, man bewegte sich in einem Tanz, dessen seit undenklichen Zeiten feststehende Regeln von allen befolgt wurden, die zur gleichen Welt gehörten. Der Vater, von Beruf Richter, betonte die ›christliche Herzensheiterkeit‹ seiner Sippe und erging sich nicht ungern in Betrachtungen über die Überlegenheit, die sie im gesellschaftlichen und geschäftlichen Leben verleihe. Man sprach nie schlecht über Bekannte, wenigstens nicht vor dem Kind. Nötigenfalls richtete man sie hin, indem man sie totschwieg. Ihre Namen verschwanden von der Einladungsliste der guten Familien und wurden auch im Gespräch kaum noch erwähnt. Man pflegte eine Wohltätigkeit, die von eigens dazu bestellten Vertrauenspersonen überwacht wurde, damit nicht ›Unwürdige‹ daraus Nutzen zögen. Obwohl man ständig daran dachte, wurde von Geld so wenig wie möglich gesprochen – es waltete da eine Art Keuschheit und Empfindsamkeit, und wer gegen sie verstieß, stempelte sich zu einer Art Sittlichkeitsverbrecher, einem ›Parvenü‹. Sparsamkeit war Bescheidenheit vor Gott und den Menschen und insofern einer der Kunstgriffe, vermittels deren das Kamel, nach dem Gleichnis der Bibel, sich klein und unauffällig machen kann, um hinter den Armen her durch das Nadelöhr zu schlüpfen.
Auch als Pauline die Künstlichkeit dieser Welt erkannt hatte, glaubte sie noch immer, sie sei für die Ewigkeit gefügt. Da trat jemand in ihr Leben, der mit seinem Lachen alles umwarf – der leibhaftige Mistral. Und von der Erde stieg eine Staubwolke auf bis zur Sonne – und als sie verweht war, glänzten die Bäume so frisch wie noch nie.
»Das warst du«, sprach sie leise und beugte sich zu dem kleineren Bild auf dem Schreibtisch. »Das warst du ... Das bist du ... Die mittägliche Sonne, der leibhaftige Mistral!«
Ein Mann im weißen Leinenanzug saß auf einer Terrasse. Er saß rittlings auf dem Stuhl, die Arme waren auf der Lehne gekreuzt, und darauf stützte er das Kinn. Eine helle Haarsträhne fiel ihm über die Stirn, vielleicht hatte der Wind sie dort hingeworfen, sie hatte etwas hübsch Unordentliches, Vertrauliches, vielleicht auch war eine Frauenhand durch das Haar des Mannes gefahren und hatte dabei die Strähne mitgenommen. Die Augen des Mannes lachten, die Zähne lachten, es lachte der Schnurrbart, der wie bei einem alten Gallier struppig herabhing und auf eine tiefe, klangvolle Stimme schließen ließ, die Hand, eine lange, schmale Hand, hielt eine Zigarette ... Und an einem Finger der Hand saß ein Ehering.
»Nicht der meine«, sagte lächelnd Frau Pauline ... »Aber die Hand ist die meine, die ganze Hand. Daran haben wir uns erkannt...« Eines Tages hatten sie ihre Hände nebeneinandergehalten, sie lange betrachtet und sich dann lächelnd angesehn. Dies war ihr Liebesgeständnis gewesen ...
Auf einem Gartenweg unterhalb der Terrasse unterhielt sich eine Schwester mit einem Mann – der Mann trug einen gestreiften Krankenkittel. Die Sonne schien so stark, daß um alles Weiße, Kleider, Kieselsteine, die Kanten der Terrasse, ein Zucken und Flimmern war, ein Stuhl im Schatten einer Pinie schien aus eigenem Vermögen zu leuchten. An der Terrasse kletterte eine Bougainvillia empor, die Bougainvillia blühte – es war ein heißer Tag im Süden.
»Das bist du«, wiederholte sie, jetzt weit über den Tisch gelehnt, das Kinn auf die gekreuzten Arme gestützt, und sie lachte ihn lautlos an, ganz aufgelöst in dunkle Heiterkeit wie draußen das Küstenland, das ein Rosenschein im Himmel krönte.