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Ich dachte, der Herr Vater werde nun einige Tage der Sammlung und der Erholung brauchen, um sein Diktat fortzusetzen, aber schon am nächsten Tag ließ er mich wieder rufen, und wir schrieben hintereinander drei Stunden lang. Es trat nun überhaupt eine neue Art von Bewegung in dies Geschäft. Manchmal schien es mir, als käme es ihm darauf an, es jetzt möglichst rasch unter Dach zu bringen, wie die Bauern bei uns ihren Grummet, das dritte Heu, wenn sie den Herbstregen und hinter ihm den Winter nahen sehen. Daß wir ihn nicht mehr lange haben würden, das war in vielen Variationen bei ihm ein ständig wiederkehrendes Thema seiner Betrachtungen und Vorkehrungen. Äußerlich markierte er es dadurch, daß er bald nach dem Tod seines Bruders anfing, sich nach einem Gehilfen umzusehen, der vielleicht sein Nachfolger werden konnte. Sein Sohn weigerte sich nach wie vor. Sein Schwiegersohn hatte keine Lust, eine angenehme Pfarre im Elsaß zu verlassen. So trat er schließlich mit einem jungen schweizerischen Geistlichen in Beziehung, die nach dem dritten Brief, den ich zu schreiben hatte, zu festen Abmachungen führte. Herr Salis stellte sich vor und hielt seine Probepredigt, fuhr dann noch einmal nach seiner Vikarstelle zurück und trat drei Wochen später seinen Posten bei uns endgültig an. Von ihm werde ich nachher noch sprechen; ich will hier nur sagen, daß er uns allen auf den ersten Blick gefiel.
Herr Salis hielt nun die Morgen- und Abendandachten mit uns, gab uns die Religionstunden, katechisierte uns, und auch die Memorierstunden fanden bei ihm statt. Der Herr Vater hielt bloß noch die Sonntagspredigten. Sonst widmete er seine ganze letzte Kraft und Geistesfrische seinen Lebenserinnerungen.
Wir befanden uns mit der Chronik jetzt in den Jahren seiner großen Kämpfe. Obwohl ihn bereits sein Leiden erfaßt hatte, konnte er noch nicht den Ehrgeiz aufgeben, ein Führer im Reich Gottes zu sein und dem Geist Christi in diesen Landen neue Bahnen zu öffnen. Heute blickte er mit Ruhe und Ergebung auf jene Zeit zurück. Manchen hatte er Gewalt angetan und dafür Schmerzen zu erleiden bekommen. Welche hatte er im Übereifer ungerecht beurteilt und die Kosten selber bezahlt. Die Mühen waren groß, die Erfolge für das Reich Gottes nicht nachweisbar, und das gewaltige Vorbild, Paulus, blieb nicht nur unerreichbar, sondern er hatte es überhaupt auf lange Strecken aus dem Blick verloren, um plötzlich beschämt einzusehen, daß er alles sei, bloß keiner der ernsten, stetigen, tiefgründigen Männer, auf deren Schultern der Himmel ruht. »Selbst ein Ungereinigter«, diktierte er mir, »war ich nicht dazu berufen, andere zu reinigen. Selbst unerlöst, fehlte mir die Gnade, eine ganze Generation zu erlösen. Hier, mit einem Blick zu umfassen, in die vier Wände eines Zimmers zu versammeln – hier lag die Welt, die ich kleiner Paulus zu bereisen, zu durchschiffen hatte, predigend, bestärkend, lehrend und lernend, tröstend und selber getröstet, und im Herzen eins und verbunden im Erlösungsgedanken unseres Herrn Jesu Christi. Ich betrachte es als die späte Gnade meines Lebens, als das endlich hereinbrechende Wunder Gottes, daß ich noch vor meinem Verlöschen in meiner Kinderschar meine eigene Jugend und die Befreiung meiner Seele durch die liebevolle Gemeinschaft des Heiligen Geistes mit uns allen und in uns allen gefunden habe. Wirklich, um den Abend wird es licht sein! Nur eins tröstet und beruhigt mich über all die vergangenen Jahre: nie habe ich schlechten Samen gesät. Und immer war ich darauf bedacht, Samen ins Land zu bringen. Doch Wachstum und Gedeihen liegt in des Höchsten Hand. Darin will ich es getrost liegenlassen. Mehr als er kann, wird Gott von keinem verlangen, und das, glaube ich, habe ich in Demut und Selbstverleugnung getan.«
Immer mehr kranke Tage hatten sich jedoch zwischen unsere Arbeit geschoben, an denen er nicht fähig war, zu diktieren. Zweifellos wurde er langsam aber stetig schwächer und weniger. Seine innere Heiterkeit nahm immer noch zu, doch wenn er dazwischen wieder einmal eine Memorierstunde selber mit uns abhielt, um nicht ganz die Fühlung mit uns zu verlieren, so mußten wir uns eng um ihn scharen, damit wir seine Stimme hören konnten, obwohl er sich früher manchmal über unseren Gestank beklagt hatte. Dann ließ er den oder jenen einen Spruch aufsagen, wurde gedankenabwesend, schwieg eine Weile, während wir betreten um ihn herumstanden und warteten, und fing von ganz anderen Dingen an zu sprechen, erzählte uns aus früheren Zeiten, erkundigte sich nach unseren Unternehmungen, gab uns Ratschläge und entließ uns weit nach der Zeit in einer stillen Betroffenheit und voll anständiger und aufrichtiger Regungen, die den meisten noch so ungewohnt waren wie neue Anzüge oder Schuhe.
Aber alldem kam es so, daß uns das Frühjahr und selbst der Frühsommer noch an den Erinnerungen fand. Im Juni wurde ich einmal vier oder fünf Tage hintereinander nicht gerufen. Am darauffolgenden Sonntag – Trinitatis – hielt Herr Salis die Predigt. Am Dienstag schrieben wir wieder. Es kam eben die Stelle vom »Samen ins Land« daran, und dieser Gedanke schien ihn so zu beschäftigen, daß er plötzlich am Donnerstag – es war Fronleichnam – selber erschien, um die Morgenandacht abzuhalten. Es war ein großes Ereignis. Er sah blaß und abgemagert aus, aber seine Augen blickten freundlich an unseren Reihen entlang, als wir uns erhoben, um ihn zu begrüßen, und auf dem Katheder droben kam er uns beinahe verjüngt und fröhlich vor, als ob er eine Überraschung für uns hätte. Er ließ außerhalb der Reihenfolge singen: »Jesu, meine Freude!« und las ebenfalls außer der Reihe – oder sprach vielmehr aus dem Kopf – das Gleichnis vom Samen, den ein Sämann säte, der auf gutes Land, auf steinigen Boden und auf den Weg fiel und nach seiner Weise aufging. Das wichtigste schien ihm wieder daran, daß überhaupt gesät wurde.
Früh und nachhaltig hatten die katholischen Glocken das Lob der heiligen Hostie, in die der Leib des Herrn verwandelt wurde, übers Land hin ausgerufen. Die Katholiken waren geschmückt und festlich in unserem Hof herumgestanden, während wir zur Morgensuppe zogen. Schon in das Gebet des Herrn Vaters hinein war drüben die Orgel aufgebraust so volltönig und stark wie selten. Mächtig schwoll darauf der Gesang an; ich hätte gern wissen mögen, was sie sangen. Blechmusik fiel ein; auch sie hatten nun ihren Posaunenchor. Plötzlich sprangen ihre Türen auf, und als ein tiefer, voller Strom von Tönen und Harmonien stürzte entfesselt der ganze festliche Schwall durch den breiten Steingang zwischen dem alten und dem neuen Schloß in den Hof voraus. Wieder begannen die Glocken zu dröhnen, und schon antwortete ihnen vom Rebhügel her der erste Böllerschuß. Jetzt zog die ganze Gemeinde lobsingend durch den Schloßhof unter unseren Fenstern vorbei mit Fahnen und Kreuzen nach den Feldern aus, voraus der Herr Pfarrer unter dem Baldachin, um die junge Frucht des Jahres zu segnen, und einmal im Jahr auch die unerlöste Kreatur und Natur an den seligen Schauern des Mysteriums teilnehmen zu lassen.
Solange der lobpreisende Lärm von Stimmen, Posaunen und Glocken in der Nähe andauerte, hielt der Herr Vater mit seinen Betrachtungen ein. Sonst hatte seine Miene eher einen leicht hochmütigen und ablehnenden Ausdruck gezeigt bei solchen Gelegenheiten. Heute horchte er aufmerksam und teilnehmend hinaus, und etwas freundlich Beistimmendes lag in seiner Haltung. Als ihn dann die katholische Gottesentfaltung wieder zu Wort kommen ließ, sagte er mit heiterem Ernst: »Jetzt will ich etwas machen, das euch zeitlebens unvergeßlich bleiben soll. Ich habe euch alles gesagt, was ich selber weiß. Ich habe nicht als Hehler und Hamster an euch gehandelt, sondern redlich mit euch geteilt. Und heute habe ich euch gesagt, daß es unsere erste und letzte Aufgabe ist, guten Samen ins Land zu säen, Samen der Liebe, der Gerechtigkeit, des Glaubens, der Hoffnung, der Treue und Aufrichtigkeit, göttlichen Samen, Samen der Ewigkeit, Samen des irdischen Glückes, den Weizen der Redlichkeit, den Roggen der Tätigkeit und Kraft, die Gerste der Hartnäckigkeit im Guten, den gelb blühenden Raps des herzlichen Frohsinns. Das alles habe ich euch gesagt. Und so schließe ich die heutige Betrachtung mit euch und die lange Reihe meiner Predigten überhaupt mit dem Wort: ›Samen ins Land!‹ Die Glocken der Katholiken, ihr Gesang und ihr Trompetengeschmetter, ihre Böllerschüsse – was bedeuten sie? Samen ins Land!« Eben fiel wieder ein Schuß vom Hügel her. Freudig rollte er über die Rheinebene und verhallte drüben über dem Schweizer Wald. »Samen ins Land!« sagte der Herr Vater und wartete. Im Wind wehten die Lobgesänge der Katholiken durch den sieghaften Sonnenschein; jetzt zogen sie schon droben über die Bahnlinie nach dem Kreuz hinauf, das am Weg nach Kirsau auf halber Höhe weit übers Land hinblickte. Ein neuer Böllerschuß krachte auf, und die Glocken setzten frisch ein. ›Samen ins Land!‹ mahnte der Herr Vater. Vor dem Kreuz, das wußten wir, war der erste Altar aufgerichtet. Dort hielt die ganze Gemeinde an und machte eine andächtige Station. Sonnenwarme Schwalben schossen schrill pfeifend an unseren offenen Fenstern vorbei. Einmal hörte ich einen der Störche klappern. Dann erdröhnte wieder ein Schuß. »Samen ins Land!« Jetzt zog von den offenen Türen der Kirche her ein leiser Weihrauchduft durch den Andachtsaal. Bald war es mir zumute, als hätten wir die draußen abgeordnet, um die ankommende ewige Wahrheit festlich zu empfangen und einzuholen, während wir hier warteten und das immer noch nicht ganz sichere Unternehmen durch Gebet und Betrachtung unterstützten. Ein Schuß. »Samen ins Land!« Noch ein letzter. »Samen ins Land!« Dann war es still, weil droben die Sommerandacht vor dem Altar stattfand. Auch die Glocken verstummten. Ein feierliches Schweigen herrschte noch minutenlang. Endlich schlossen wir unseren Gottesdienst mit dem Lobgesang: »Sollt' ich meinem Gott nicht singen?« und dem Refrain: »Alles Ding währt seine Zeit. Gottes Lieb in Ewigkeit.«
Das war das letztemal, daß wir den Herrn Vater auf dem Katheder sahen. Am nächsten Sonntag predigte wieder sein Nachfolger. Diese Woche schrieb ich ihm noch an einem Vormittag und an einem Nachmittag, die nächste Woche in der ersten Hälfte dreimal, in der zweiten Hälfte nicht mehr. Darauf raffte er sich noch zu zwei Diktaten im ganzen auf, aber seine Stimme war schon schwach, und es war jetzt immer einer seiner Familienangehörigen bei ihm. Er gab der Arbeit einen kurzen Schluß und saß darauf eine ganze Weile still und in sich versunken. Endlich hieß er mich zu sich hertreten.
»Du hast jetzt die erste größere Aufgabe vollbracht, wenn auch ohne zu wissen, was du damit tatest«, sagte er. »Vielleicht wird dir aber doch dies oder jenes unmittelbar im Gedächtnis haftenbleiben, wie manchmal ein verwehter Samen jahrelang irgendwo liegt oder hängt, bis ein Zufall ihn ins fruchtbare Erdreich verweht, wo er zu keimen anfängt. Gib mir deine Hand.« Ich trat ihm noch näher und nahm seine alte, verkrümmte Hand in meine. »Du bist jetzt auf einem guten Weg, Schattenhold«, lobte er freundlich. »Bleibe darauf und vergiß dabei nicht, daß du erst im Anfang stehst. Und sieh zu, daß du vielleicht mit Gottes Hilfe ein Sonnenhold wirst. Geh jetzt. Man wird dir sagen, wie weiter über dich verfügt wird. Die Zeiten des Lesens und Schreibens bei mir werden wohl für immer zu Ende sein. Behüte dich Gott, Kind!«
Betroffen sah ich die Frau Mutter an, die neben ihm stand. Sie nickte mir mit ernstem Gesicht ganz leicht zu, und daraus schloß ich, daß dies ein Abschied sei. Ganz bestürzt stolperte ich hinaus. Ich hätte etwas sagen sollen, fiel mit nachher ein, aber ich hätte um Lebens und Sterbens willen nicht gewußt, was. Den Rest des Tages ging oder saß ich herum wie betäubt, sah nichts, hörte nichts, und abends gab ich die Hälfte von meinem Essen meinem Nachbarn. Ich wußte nicht, was mir war und was das alles bedeutete. Ich hatte einfach ein schweres Herz und einen vollen Kopf und brauchte noch eine Reihe von Tagen, ehe ich mich zurückgefunden hatte. Aber da war ich wieder nicht mehr ganz der gleiche Johannes Schattenhold, wie der ich vorher gewesen war. Auch das konnte ich nicht näher vor mir selber erklären, und ich machte auch keinen Versuch dazu. Nach drei Tagen planlosen Herumsitzens wurde ich dem Schuhmacher als Gehilfe zugeteilt, da ich mich doch einmal in seiner Region eingelebt hatte. Mir war es recht. Eine Zeitlang wartete ich mit geheimer Spannung darauf, wann wir den Herrn Vater noch einmal zu sehen bekommen würden. Ich war und blieb der letzte, der seine Stimme gehört und ihm in die halbblinden abschiednehmenden Augen geblickt hatte. Als ich einsah, daß ich umsonst wartete, wandte ich mich langsam den neuen Verhältnissen zu.
Wie oft hatten wir beinahe blutrünstig davon phantasiert, wie das sein würde, wenn der Herr Vater plötzlich stürbe und ein völlig neuer Mann an seine Stelle träte. Nun war der Herr Vater für uns so gut wie ein Toter, der neue Mann war da, und wir fanden alles ganz anders, als wir gedacht hatten. Von der mordsüchtigen Befriedigung spürten wir nichts. Ein gestillter, beinahe gütiger alter Mann war von uns gegangen, der vielleicht uns manches und dem meinesgleichen ungefähr alles schuldig geblieben war. Zu triumphieren gab es da wenig, und unter ernster Betrachtsamkeit, als wir begriffen, daß das Alte wirklich vergangen sei und alles neu werden wolle, gingen wir daran, den Herrn Salis, den wir solange noch nicht sehr ernst genommen hatten, einmal zunächst näher zu begutachten.
Herr Salis war ein mittelgroßer Mann in den ersten dreißiger Jahren, blond, schlank, ruhig, von aufmerksamem, freundlichem Ausdruck, der so ziemlich alle Rüpeleien von unserer Seite von vornherein ausschloß – es war schwer zu sagen, warum, aber es verhielt sich so –, gütig, doch fest, herzlich, aber klar, kameradschaftlich und unangreifbar zugleich – alles in allem ein Mann, der aussah, als würde er sich unter allen Umständen Achtung verschaffen, der aber vorzog, es zunächst im Guten zu versuchen, und der anderen auch dazu riet. Die anderen waren wir. Er hatte bereits ein Vikariat im Kanton Graubünden versehen, erzählte aber zu unserer stillen Verwunderung mehr von den dortigen Bergen und der Flora und Fauna als von seinen seelsorgerischen Erfahrungen. Von den Bauern und Sennen sprach er auch, aber allgemein menschlich, nicht vom Standpunkt Gottes aus. Das gab manches zu denken, wenn es auch nicht laut wurde, aber es bedingte doch einen inneren Richtungswechsel und setzte Einstellung voraus. Beim Herrn Vater waren wir bis auf die letzten Tage Vorgesetzte und heimlich revoltierende Untergebene gewesen. Ein solches Verhältnis war im Grund bequem und bot weiter keine Schwierigkeiten. Herr Salis trat uns mit einer gewissen reifen Bruderschaft gegenüber, und es dauerte ein bißchen lang, bis wir das verstanden und mit gleichem beantworteten. Ich sagte schon, daß er uns vom ersten Blick an gefiel. Wir vertrauten auf ihn und hielten ihn keiner Tücken fähig; statt dessen schien er im Gegenteil voller Fallen und Gefahren zu stecken. »Ja, denkt mal selber«, sagte er mit hellem Lächeln, wenn wir mit Untertanenfragen zu ihm kamen. Oft sah er uns auch nur verwundert an, schwieg ein Weilchen wie unangenehm berührt und gab dann ganz ruhig so Auskunft, daß man sich im stillen beschämt fühlte, man wußte nicht recht, wieso. Kurz, es dauerte Wochen und Monate, bis wir dahinter kamen, wie er sich uns und unser gegenseitiges Verhältnis eigentlich ungefähr dachte, und so lange war er allein. Die wildesten Gerüchte gingen eine Zeitlang über ihn um. Er sollte nicht an Gott glauben, hieß es, aber das wurde widerrufen und dahin berichtigt, daß er sich irgendwann und irgendwo gegen irgendwen zweifelnd über die göttliche Geburt Christi ausgelassen habe. Zusammenstöße mit der Cranachschen Familie wurden früh gemeldet, ohne daß man erfuhr, was daran Tatsache war und worum sie sich drehten. Kurz, eine ganz dunkle Fama bildete sich um den Mann, so daß wir uns nur wundern konnten, daß er dabei so aufrecht, reinlich und hell unter uns umherging.
Allmählich begann dann der eine und der andere von uns in nähere Beziehung zu ihm zu treten. Als er erst eine kleine Schar hatte, nahm er sie zusammen und führte sie in den Garten, den wir bisher bloß als Arbeitstelle kannten, um mit ihnen über die Blumen zu sprechen und ihnen die ersten Begriffe von Botanik beizubringen. Bald ging er einen Schritt weiter und bemächtigte sich auf seine stille, aber unnachgiebige Weise der ganzen oberen Klasse, um sie auf dem Weg über die Naturwissenschaft, von der wir keine Ahnung hatten, so sicher als unvermerkt in ein persönliches Verhältnis zu ihm selber hineinzuführen. Hatte er erst die oberste Klasse, so besaß er die ganze Jungenschaft. Mit den Mädchen ging es bedeutend länger, und außer bei den Konfirmandinnen hat er, solange ich noch in der Anstalt war, keinen Fuß bei ihnen gefaßt. Wo die Frau Mutter herrschte, war für ihn wenig zu holen, und sie herrschte ausdrücklicher als je. Von dem Cranachschen Widerstand, der sich langsam gegen ihn bildete, war sie der Mittelpunkt und die Hauptaufwieglerin, ja, ohne sie würde es vielleicht niemand eingefallen sein, dem Mann Hindernisse in den Weg zu legen, am wenigsten den Männern. Aber jetzt verband sie sich mit dem fernen Elias, mit ihrem Sohn, dem Pfarrer, ihrem ebenfalls theologischen Schwiegersohn, und der anwesende Herr Ruprecht konnte sich ihr vollends nicht entziehen; die Töchter machten aus Familienpatriotismus mit, ohne zu ahnen, um was es sich eigentlich handelte. Kurz gesagt, drehte es sich um einen ziemlich sorgsam und groß angelegten Versuch, gegen diesen neuen Irrgeist den alten, echt protestantischen Anstaltsgeist ins Feld zu führen und jenen mittels einer allgemeinen Verschwörung zuerst lahm zu legen und endlich aus dem Haus zu räuchern.
Der Herr Vater hatte an diesen Dingen keinen Teil mehr, und unter der milderen Stimmung seiner letzten Monate würde er sich auch widersetzt haben. Ich habe später noch genug bei Pastoren, Professoren und Künstlern die Erfahrung gemacht, daß ihre Weiber, je weniger sie vom Geistigen der Männer begreifen, um so mehr die Mission zu haben glauben, allen Geltungsunrat und Ehrenkehricht, den der Mann frühzeitig beiseitegeschmissen hat, beflissen aufzusammeln und im rechten oder unrechten Augenblick leidenschaftlich auf den Markt zu bringen, um noch ein privates Extrarühmchen zu veranstalten als treue Wächterinnen oder dergleichen. Dieser Versuchung war auch die sonst kluge und brave Frau erlegen, und was sie einmal anfaßte, das machte sie nicht halb.
Das Objekt dieses Kampfes hinter dem Vorhang waren wir. Wenn Herr Salis uns auf der einen Seite nun eine Freiheit gab, so sorgte sie auf der anderen für eine Anfechtung. Verschaffte er uns eine Erleichterung, so erfand sie eine Kränkung. Verlängerte er die Spielzeit ein wenig, so strafte sie uns durch das Essen, weil die Arbeiten nicht getan würden. Und da sie nach wie vor die bestellte Haushälterin, Herr Salis aber unbeweibt und bloß der Vertreter war, so hatte sie auch beim übergeordneten Komitee alle Trümpfe in der Hand, und dem hellen Mann mit der goldenen Brille erblühten hier keine rein beglückten Zeiten. Als dies alles erst einmal ganz klargeworden war und wir Geschmack an seiner ernsten, freimütigen Selbstverständlichkeit gefunden hatten, machte uns nichts so bestimmt und rückhaltlos zu seinen kleinen Freunden, wie die Anfechtungen der Cranachschen Weiberkamarilla.
Indessen ging das öffentliche Leben hier seinen Gang. Jedes Jahr im Hochsommer feierte die Anstalt als Abschluss der Basler Missionswoche ein Fest, zu welchem Besucher aus allen Teilen Mitteleuropas herbeikamen, um den Rechenschaftsbericht anzuhören, mit uns Gott zu danken, dass er uns arme Waisen wieder um ein Jahr weitergebracht hatte, und sich an unseren Gesängen und anderen musikalischen Unternehmungen zu erfreuen. Die Zurüstungen waren dazu zu umfangreich und zu bedeutend, als daß ich sie übergehen dürfte. Das Fest fand statt in der schon vielfach angeführten großen Exerzierhalle der Deutschritter, dem langen Bau mit den sechs hohen, weiten, offenen Bogen. Daraus wurden alle Wagen herausgezogen, die man solange auf dem Meierhof unterbrachte, und an ihrer Stelle wurden nun Reihen und Reihen von Bänken dicht hintereinander aufgeschlagen. An der langen Wand errichtete man den hohen Kathederaufbau, der im voraus die ganze Versammlung von Bänken stumm und bereits von Festlichkeit umweht überblickte. Während dieser Zurüstungen, die das Werk der Brüder waren, steckten wir Jungen aus den Arbeitstuben im Wald, wohin wir jeden Morgen und Nachmittag mit großen Körben versehen auszogen, um die festen, dunkelgrünen, gezackten Blätter der Stechpalme einzuheimsen, von welcher unsere Wälder voll waren. Aus diesen Blättern wurden dann lange Kränze hergestellt, die man über den sechs Bogen der Wagenhalle aufhing.
Diese Tage im Wald waren im Leben der Anstalt absolute Licht- und Freudenpunkte, die nur den einen Einwand hatten, daß wir dahin vom Aufseher geführt wurden. Doch erlitt seine Macht in den dunklen Gründen der Buchenhänge etwelchen Abbruch. Zwischen den freudig feierlichen Silberschäften der alten Stämme und in den grünen Finsternissen oder blitzenden Sonnentiefen des Sommerwaldes bedeutete seine anzügliche Figur lange nicht soviel wie in der Anstalt zwischen den vier Wänden, ja, jede huschende Eidechse, jeder Schmetterling oder Käfer Gottes war mehr als er, abgesehen von den Füchsen, Hasen und Rehen, die die sonst hallenden und brausenden Tiefen belebten, wo das Abenteuer mit goldenen Augen lauerte.
Einmal wurde ich allerdings das Opfer eines solchen Naturabenteuers. Um einen Stechpalmenbusch herum schwärmten auffällig viel Wespen, aber der Busch war besonders groß und üppig, und der Aufseher befahl lachend: »Immer heran!« Ich hatte eben einen Zweig ergriffen und zu rupfen begonnen, als er mir unversehens aus der Hand schnellte. In diesem Moment war es, als ob ein schwirrender und brausender gelber Dampf um mich aufstiege, irgendein Schwefelbrodem, der bitter beizte und stach, und ohne über die Natur dieser Erscheinung näher nachzudenken, machte ich, daß ich von der Stelle kam. Die anderen, voran der Aufseher, hatten sich schon früher davon gehoben, und so war ich der alleinige Angriffspunkt für die kriegerische Entfaltung der charaktervollen Tiere geworden. Es sumste mir noch feindlich um die Ohren, als ich schon sehr weit weg war. Und für den Tag paßte mir mein Hut nicht mehr, so viele Stichbeulen hatte ich am Kopf. Am Abend war mir ein wenig fiebrig, aber ich mochte nichts aus der Sache machen, und zudem sollte am anderen Morgen schon das Fest tagen; wir hatten heute die Kränze fürs Haus gebunden und gehängt. Ich persönlich wollte noch ein Schild oder Plakat malen mit der Aufschrift: »Bitte nicht hineintreten!« Mein Gärtchen lag gleich am südlichen Ausgang der Halle, und Jahr für Jahr hatten mir die gottbegeisterten Füße der Frommen meine Pegonien und die jungen Asterpflanzen vertrampelt. Mit dem Karton wollte ich diesem Ergebnis des Festes wenigstens entgegenwirken.
Am anderen Morgen schlüpften wir in die Festanzüge, die jedes Jahr bloß einmal zu diesem Tag ausgegeben, angepaßt und getragen wurden. Irgendein verflossener unseliger Schneider hatte die Jacken so feierlich eng gemacht, daß einer sogar für Demutter Verhältnisse schüchterne Maße haben musste, um in der seinen ohne Beklemmungen zu wohnen. So schönes schweres Tuch sie hatten, so gefürchtet und verrufen waren die Anzüge bei uns. Es wurde an diesem Tag besonders darauf gesehen, dass jedermanns Hemdkragen glatt und sauber auf dem runden Ausschnitt der Jacke lag, und auf jedem Kopf musste das Haar naß und glatt und genau gescheitelt glänzen. Nach einer letzten Musterung führte man uns über den Schloßhof in die Halle nach unseren Plätzen, die zunächst der Kanzel lagen. Da man dort immer steil aufwärts sehen musste und die Bänke keine Lehnen hatten, so waren sie nicht schwindelfrei. Draußen lag die Augustsonne prall und festlich glühend. Die mit Kiesel frisch befahrenen Wege und Plätze und die Mauern der Baulichkeiten verwandelte sie in flüssiges Feuer, und selbst die Kronen der Kastanien schwebten darüber nur wie ein wesenloser grauer Rauch. In der Halle war es noch einigermaßen kühl. Aber jetzt kamen die Festteilnehmer vom Extrazug, der jedes Jahr von Basel abgelassen wurde. Erstens wirbelten ihre Füße auf dem trockenen, uralten, pulverisierten Lehmboden einen unendlichen Staub auf, der sich sogleich kratzend auf alle Atemwege und in die Augen warf. Und dann begannen ihre Körper baldigst eine Hitze der gottseligen Begeisterung zu entwickeln, welcher nur gesunde und festgefügte Organismen auf die Dauer zu widerstehen vermochten. Ohne weitere Umstände fing alles an zu schwitzen.
Unterdessen eröffnete der Posaunenchor die Feierlichkeiten. Er spielte irgendeine Instrumental-Einleitung, die an der kritischen Stelle zwar wackelte wie ein Gartenzaun, aber durch die Gebärden und die tätige Mithilfe des Herrn Ruprecht, der das Englische Horn jetzt schon mit großer Künstlerschaft blies, glimpflich über die Klippe hinwegkam. Daran anschließend sangen wir unter Führung desselben Posaunenchors das Danklied: »Lobe den Herren, den mächtigen König der Ehren!«, diesen Choral mit den langen, festlichen Rhythmen, der wie kein anderer die gehobene Stimmung des Protestantismus, wenn er feiert, ausdrückt. Gegen den Posaunenchor hatte ich aber heute meine Einwände. Durch den Abgang von Brüdern zu den Instrumenten wurden bei uns die Bässe geschwächt, und ich konnte nie recht singen, wenn die Bässe nicht ordentlich dröhnten. Sie taten nun zwar bei den Tuben und Posaunen, was sie konnten, aber das war kein Chorgesang mehr. Das Blech riß alles an sich, und es war unmöglich, meine zweite Stimme zu hören.
An der Stelle des Herrn Vaters eröffnete Herr Salis mit seiner sympathischen, ruhigen Stimme die Reihe der Ansprachen. Er hieß die Anwesenden herzlich willkommen, erklärte, warum er diese Pflicht erfüllte, und nicht der Herr Vater, und begann den pädagogisch-innerlichen Rechenschaftsbericht. Der Segen des Herrn hatte sichtbar und fühlbar auf dem Werk gelegen. Man dankte allen Wohltätern und Freunden – Herr Salis sagte: »Frä–unden« – und bat sie, ihr Wohlwollen – er sagte »Wahlwallen« – der Anstalt weiter zu erhalten. Die erste Rede dauerte eine Stunde. Ein Gesang wechselte mit ihr ab; diesmal hatte unser dreistimmiger Kinderchor das Wort. Dann kam Herr Ruprecht als Verwalter der Anstalt an die Reihe. Auch er stellte sich als neuen Mann vor, würdigte und feierte als echter Neffe die Verdienste seines verewigten Oheims und legte dann den haushaltlichen Bericht ab. Zuerst war er vor Aufregung etwas blaß gewesen, aber bald redete er sich in der überhandnehmenden Hitze zu Farbe, und verließ endlich das Katheder als sehr wohl aussehender Mann in den besten Jahren, um den Brüderchor zu dirigieren, der sich inzwischen aufstellte.
In diesem unterhaltsamen Reigen ging es weiter. Nach den Hergehörigen kamen die Vorsteher anderer Anstalten, die Grüße von Schwestern und Brüdern überbrachten, kamen sehr ruhmvolle Herren aus fernen Gegenden, die alle sprechen und angehört sein wollten. Und immer wieder erdröhnten Mauern und Schädel von den Klängen des Posaunenchors. Viele brummten außerdem vor Hitze, die in unsichtbaren Feuerwolkensäulen über jedem Kopf stand und brütete. Ich selber fühlte mich noch immer etwas geschwächt vom gestrigen Fieber, und wahrscheinlich war ich es noch gar nicht ganz los. Von Zeit Zu Zeit wurde mir so merkwürdig phantastisch verwandelt zumute, so leicht und fern, und ich sah mich so liebevoll eifrig von zarten, fremden Gestalten dahin geführt, daß ich halbe Ansprachen überhörte; bloß die Faustschläge des Posaunenchors brachten mich periodisch zur Besinnung. Aber gerade, als er ganz unerwartet wieder zu dröhnen anfing, kam ich nicht mehr zur Besinnung, sondern verlor sie vollends. Eine dunkelblaue Nacht umhüllte meine Sinne, und ich sank über den Schoß meines Nachbarn.
Als ich wieder wach wurde, lag ich droben in dem weiten, luftigen Schlafzimmer unter meiner Decke, rings um mich leere, unbewohnte Betten, und drunten in großer Tiefe erklang ein dünner Kinderchor, dem die dritte Stimme – die meine – fehlte. Die Luft war voll von Licht und Wärme. Eine große Vollkommenheit enthielt dieser glühend entfaltete Sommertag. Gleich hinter dem Fenster des Schlafzimmers lag eine zitternde Tiefe, gesättigt von Raum und Luft; sein anderes Ufer bildeten die Kronen der Kastanienbäume. Dahinter öffnete sich ein zweiter Abgrund, der bis zur alten Mauer reichte, auch er eine Welt für sich; darin brodelte die Begeisterung des Jahresfestes. Aber dortwärts der Mauer ruhte ein breites, brennendes Tal wie ein fremder Erdteil oder ein Ozean, begrenzt von den Flanken des Rebberges, lauter unbekannte Weite und Tiefe, unfaßbar, selbstherrlich, Bäume und Häuser umgebend, ohne sie zu halten, von hochher kommend und fernhin gehend, vielleicht bereits Bestandteil einer anderen Welt, die hier überirdisch hereinragte, das große Schweigen von dort: Ewigkeit! Unendlichkeit! War dies nun Gott? Man weiß es aus vielen Beispielen: Gott ist eine so zarte und verborgene Allmacht, daß sie sich nicht den Starken und Festen offenbart. Man muß verwundet oder von einem Fieber des Lebens geschwächt sein, um an den Dingen vorbeigleitend auf das große, ungeheure Nichtding außer ihnen zu stoßen, auf den Abgrund hinter allem Seienden. In den Abgründen des Daseins wohnt das Hohe. In den nicht von der Wirklichkeit eingenommenen Zwischenräumen und Überräumen waltet die heilige Schicksallosigkeit.
Ich hörte wieder diesen Kindergesang ohne meine dritte Stimme, und plötzlich erschrak ich über meine Einzelheit inmitten des wunderbar nach Entstehung drängenden und zu Untergängen eilenden Weltplanes. Ich befühlte mich fragend: Körper! Sein! Vergänglichkeit! Nicht Gott! Vielleicht von ihm durchatmet, aber nicht Er! Etwas anderes, Fremdes, vielleicht in ihn, in seinen Raum Eingedrungenes! Aber doch wußte ich von ihm! Rettete mich nicht dies Wissen vor dem absoluten Untergang, der jenen unwissenden Welten bevorstand? Das Herz pochte mir tief und stark. Halb entsetzte und fürchtete ich mich. Halb war ich glücklich und auf meine Zukunft gespannt. Dann erinnerte ich mich an den stillen, kranken Mann ein Stockwerk tiefer, und eine große, andächtige Verwunderung ergriff mich in meinem Fieberzustand. Dies Überihmsein war mir wie ein Obgesiegthaben, ein unwiderruflicher Triumph, der mir die Tränen des Mitgefühls und der Bangigkeit in die Augen trieb. Auch diesen Abgrund der Zeit, diesen schicksalbedeutenden Unterschied zwischen seinem Dort und meinem Hier nannte meine von der Krankheit gelöste Ahnung: Gott! Besser gesagt: sie nannte nicht, sie träumte nur! Sie erlebte bloß wortlos und an Bildern, an den Kronen der Kastanien, dem Rebhügel, dem Herrn Vater, dem Kindergesang ohne meine Stimme.
Aber die Tafel an meinem Gärtchen, so schön, deutlich und weithin sichtbar sie gemalt war, bewahrte auch dies Jahr meine Astern nicht vor dem Untergang. Als das Fest vorbei war und ich wieder aufstehen konnte, fand ich anstatt meiner kleinen Pflanzung eine plattgetrampelte Tenne, und ich dachte wieder einmal gering von der Intelligenz erwachsener Menschen.
Betrachte ich heute alles genau und horche aufmerksam zurück, so finde ich, daß mein Gottesgefühl in meine ersten Zeiten zurückgeht und daher mit meinem Grundgefühl zusammenfällt. Alles, was ich mit der Gestalt Jesu Christi erlebte, und es war weder wenig noch bedeutungslos, trug von Anfang an den Stempel der Vergänglichkeit, des Schicksals. Er war mir durch lange Zeiten die höchste, heiligste und tiefsinnigste aller Erscheinungen der Menschengeschichte, aber er war mir doch immer Erscheinung unter anderen, benachbarten Erscheinungen, durch die ich ihn begriff, an denen ich seine Größe ermaß und verstand, seine Tat abwog, sein Verdienst durch Gegenüberstellung erkannte. Gott war mir das Unvergleichbare, Einzige, Unbedingte. Christus – so tief ich ihn verehrte, so blieb mir das Dogma seiner Gottessohnschaft doch verschlossen. Sein Tod, das werde ich noch zeigen, war mir eine Tatsache von erschütternder Wahrheit, und im Nacherleben ist keiner meiner Kameraden so weit gegangen wie ich, ja, ich glaube, man wird sogar wenig Zeitgenossen finden, denen er diesen unverbrüchlichen Gehalt des eigenen Hierseins bedeutete. Seine Auferstehung enttäuschte mich stets, und sie muß eigentlich jede Seele enttäuschen, die sich mit ihm ins Grab gelegt hat. Sie ist eine Spielerei des menschlichen Geistes, der das Endgültige, die schauerlich-heilige Unwiderruflichkeit des Todes nicht begriffen hat und ihr die letzte fromme Verehrung schuldig bleibt. Vollends die Himmelfahrt befremdete mich und machte mich jedes Jahr um etwas ärmer, das ich leidenschaftlich durch tiefe, kämpfende Wochen trotz der Auferstehung noch besessen hatte. Mit dieser ernüchternden Leistung leitet dann die Kirche jene werktägliche Reihe gleicher und festloser Sonntage ein, die nicht einmal eigene Namen haben.
Aber nun erfaßte mich der Konfirmandenunterricht und zog mich plötzlich abgründig und unaufhaltsam in die Glaubensschauer und Mysterien der Erwachsenen hinein. So nahe und dringlich uns der Herr Vater in seinen Andachten, predigten und Gebetsübungen immer einmal an die Welt Christi herangebracht hatte, so gab es doch etwas, das uns von den Erwachsenen bedeutungsvoll trennte: das heilige Abendmahl. Durch diese Lücke, um mich so auszudrücken, entkamen wir ihm und der furchtbaren Heiligkeit des Dogmas immer wieder, um in ein Reich der Verantwortungslosigkeit zurückzutreten, in dem der Fuß der Erwachsenen keinen Platz mehr hatte. Viertelsheiden, die wir somit waren, sahen wir von Zeit zu Zeit halb bewundernd und halb froh nach der Sonntagspredigt die Brüder sitzenbleiben, um sich auf das anschließende Abendmahl vorzubereiten. Das war die andere Welt, und ich insbesondere begriff immer, daß die Kluft, die uns davon und von den Erwachsenen trennte, sehr groß war; so oft und stark ich mich nach ihrer Freiheit und Selbstverfügung sehnte, so sah ich dem Tag, an dem ich sie erhalten sollte, doch auch mit geheimer Scheu entgegen.
Infolge der Rückhaltlosigkeit, die uns zu unserem Schicksalsverlauf gegeben ist, fand mich die Weihnachtszeit schon triebhaft weit in den Gedanken- und Kreuzgängen des christlichen Glaubens verfangen. Zuviel Reizvolles und Baumeisterliches hatte die Errichtung und gleichzeitige Entdeckung dieser geistigen Welt über der physischen für mich, als daß ich mich der Aufgabe nicht mit voller Wärme und Lebendigkeit hingeben sollte. Die Lehre hat ja auch für den Verstand des Kindes so große Lücken und Widersprüche, daß sie eine Phantasie- und kunstbegabte junge Seele geradezu herausfordert, diese durch Gefühlseinbauten und durch kühne Kreuzbogenwölbungen der inneren Anschauung zu ergänzen, und das ist der Zauber, den das Christentum durch Jahrhunderte auf die Seelen und Geister ausgeübt hat, ehe der schöpferische kritische Trieb der Seele ermüdete und der des Geistes erstarkte. Bald stand ich als ein kleiner Erwin von Steinbach selbst ergriffen und überwältigt unter und zwischen den ragenden und sich neigenden Formen des geistigen Domes, an dem ich baute, um die drei großen Grundpfeiler: Schöpfung der Welt, Sündenfall und Erlösung unter einen Blick zu bringen. Wenn Gott allmächtig war, warum hatte er es zulassen müssen, daß die Schlange die Reinheit seiner Schöpfung verdarb? Und wenn er allgütig war, weshalb bewahrte er seine Geschöpfe nicht in heiliger Großmut vor dem Elend, das ihnen sicher war, wenn die Absicht der Schlange gelang?
Nun soll »glauben« heißen: für wahr hinnehmen. Das ist aber ein sehr schwacher Leitfaden, der zur Lüge und Heuchelei führt. Glauben hieß ursprünglich: aus den Widersprüchen eine Architektur errichten, sie durch Gefühl und Anschauung überwinden, und ein Glaube, der dies nicht leistet, ist keiner mehr, ist lediglich eine Konvenienz. Ich glaubte, denn ich baute. Der Gehalt des Christentums war mir von Anbeginn nicht das Wissen, sondern das Geheimnis. Es ist der Gehalt aller großen Taten der Seele. Im Geheimnis trafen sich mir die Widersprüche zwischen der Schöpfung und dem Sündenfall. Die Unmöglichkeit der Erlösung dieser Schöpfung durch die Hingabe des Gottessohnes an den Tod gipfelten sich wiederum – im Geheimnis. In all diesen Dogmen steckte etwas, das »richtig« war, und darauf ließ sich bauen. Auch dies Richtigsein darin, das den Fängen des Verstandes abermals unzugänglich blieb, obwohl es einem höheren Verstand entsprang und von ihm geschaffen war, bestand im Geheimnis, im Wunderbaren.
Eine dritte architektonische Kuppelung war nötig zwischen dem Kreuzestod des Erlösers, der aus dem unüberblickbaren Trieb der Liebe sich opferte, und dem Weltgericht, das zum ewigen Sieg des Lichtes und der Gottheit überleitete. Mit Christi Liebestat war ja nun durch die Lehre im Grund ein neuer Schlangenapfel in die Welt gebracht, nur mit umgekehrter Wirkung. Weil die ersten Menschen die Frucht der Erkenntnis genossen, waren sie verloren. Die Menschen nach Christo jedoch sind verloren und werden gerichtet, insofern sie nicht erkennen, nämlich im Glauben. Eine Erlösung, wenn sie wirklich eine Erlösung aus überirdischer, göttlicher Kraft ist, dürfte nicht mehr auf ein Mittel angewiesen sein, wie es der Glaube ist, und dürfte auf kein neues Gericht hinauslaufen. Ich persönlich habe mich zeit meines Lebens keinen Moment durch Christi Tod erlöst gefühlt. Ergriffen, erschüttert, in den Tiefen gepackt und zu großen menschlichen Höhen aufgetürmt, ja! Aber niemals erlöst!
Dann war da die schneidende paulinische Dissonanz wenige Jahre nach Christi Tod, daß man zur Seligkeit wie zur Verdammnis vorbestimmt sei, eine Lehre, die dem Herrn Vater besonders wichtig und wert gewesen war. Dieser Trakt des christlichen Gebäudes erforderte die kühnsten und gemütvollsten Überwindungen. Sie verlangte nach aller Liebe und Großmut, die sogar die Kirchenväter in ihrem Leben und Martyrium der Menschheit schuldig geblieben waren. Ich hatte Augenblicke voller Gefühl und Anschauung, in denen mir die Wölbung dieses dreischiffigen Domes widerspruchslos, aber auch ohne Worte, gelang, so daß meine Seele andächtig die langen Aspekte der Schöpfung, des Sündenfalles und der Erlösung hinunter und hinauf wandern konnte, während durch die farbigen Fenster herein der Strahlenglanz des Tausendjährigen Reiches leuchtete und im Lichterschein des Altars das Unaussprechliche seine Geheimnisse hütete.
So bekam in diesem Jahr die Zeit der christlichen Feste, die mit dem ersten Adventsonntag verheißungsvoll sich ankündigte, für mich einen besonders hohen und reichgefaßten Sinn. Sehr mit dem Herzen verstehend, hörte ich die alten Vorbereitungstexte der vier Sonntage aus den Propheten Jesajas, Daniel, Micha und aus dem Psalmarum, vier klare, hochgemute und dankbar zu begehende Wege zur Freude. Wir schlugen sie alle unverweilt und rückhaltlos ein, sicher wissend, daß sie zum lieblichsten aller Mysterien hinführten. Übrigens fanden uns die Wochen nicht bloß untätig wartend. Besonders ich hatte zu allen Zeiten das Bedürfnis, das, was ich liebte und verehrte, auch zu schmücken und zu illuminieren. Der Advent fand mich daher neben meinen Aufsätzen zu den Konfirmationstunden mit dem Entwerfen und der Ausführung von Weihnachtstafeln und von Transparenten, meiner geschätztesten Kunst, beschäftigt.
Um ein Transparent zu erhalten, nahm man ein großes Blatt Zeichenpapier und verfuhr damit zeichnerisch zunächst ganz so, als ob man es bemalen wollte. Aber anstatt dann die Buchstaben und Sterne zu betuschen, schnitt man sie aus, übermalte die ganze Fläche mit dichter schwarzer Farbe und hinterklebte Buchstaben und Sterne, Blumen, Sonnen und Ranken mit buntem Seidenpapier. Nebenher war ein hölzerner Rahmen vom Umfang des Blattes zu zimmern, gegen den dieses geheftet wurde. Auf die Bodenleiste hinter das Papier kamen einige Kerzen zu stehen, und das Ganze wurde an eine Wand gehängt, nachdem die Kerzen angezündet waren. Nun leuchtete in freudigem Rot, in zukunftsreichem Blau und in daseinsgewissem Grün von der Wand die Heilsanzeige: »Siehe, dein König kommt zu dir.« Die großen Buchstaben enthielten mit dem schweren Violett und den darüber schwebenden feurigen Kometen die dunkelprächtigste Festlichkeit. Nie verwandte ich andere als gotische Buchstaben. Welche verschafften sich durch lateinische Zeichen eine Erleichterung, aber das hätte mir als Ausdruck nicht genügt. Auf den gemalten Sprüchen verbrauchte ich immer viel Gold und Purpur. Silber hatte ich von Anfang auch geschätzt, aber ich fand später, daß es zuwenig Wirkung ausgab; ich ersetzte es durch Purpur.
Eine weitere Vorbereitung, mit der wir aber alle gemeinsam befaßt wurden, war die Einübung der Weihnachtsgesänge und des Krippenspiels. Wir hatten gemischtchorige und dreistimmige Gesänge und einen Kanon: »Laßt uns gehn gen Bethlehem.« Das Krippenspiel war seit einigen Jahren eine Neuerung, die der zweite Lehrer, Herr Bunziker, eingeführt hatte, und zwar zum allgemeinen Beifall. Der Heilige Abend fand uns frisch gewaschen und gekämmt im großen Lehrsaal versammelt. Die Mädchen saßen in ihrer Arbeitstube, die Brüder in ihrem Saal. Um sechs Uhr zog die ganze Hausgemeinde im verdunkelten Haus vor den Andachtsaal, die Kleinen vornean, die Brüder hinten. Mir war es einmal passiert, daß die Frau Mutter mich dabei erwischte, wie ich untertags durch das Schlüsselloch guckte, dafür mußte ich ganz an den Schwanz des Zuges stehen. Ich sang aber deshalb nicht weniger schön und begeistert. Heute stand ich in der Mitte, das Herz voll wertvoller Schwere des Miterlebnisses, und die Augen voll Andacht und Anschauung, selber ein Transparent, aus dem der Spruch leuchtete: »Selig, die reinen Herzens sind, denn sie werden Gott schauen!«
Schweigen und ahnungsvolle Dunkelheit herrschten bei uns. Als die Uhr – dieselbe, die Herr Johannes immer am Sonntagmorgen aufgezogen hatte – mit dem sechsten Schlag ausklang, ertönte leise die Stimmpfeife des zweiten Lehrers, worauf in tiefen Stimmlagen und bis zum letzten Pianissimo gedämpft der alljährliche Weihnachtsgesang begann: »Die heiligste der Nächte bricht feierlich nun ein.« Stetig aufsteigend und anschwellend über den zweiten Vers: »Dem menschlichen Geschlechte erglänzet heller Schein!« brach er im Durchführungsteil zu voller Kraft und Höhe durch mit den Worten: »Uns ist ein Kind geboren zum Glück so wunderbar, des Name: ›Auserkoren!‹ ›Der – ist – und – kommt – und – war.‹« Durch die hohen Fenster des Treppenhauses herein drang der feierliche Sternenglanz des Winterhimmels. Im Hof lag der Schnee und leuchtet wider vom Schein des Christbaumes, der bereits durch die Scheiben des Andachtsaales fiel. Nach der dritten Strophe öffneten sich langsam die Flügel der Tür, in deren weitem Rahmen der große Baum mit allen hundert Lichtern und Sternen erschien. Von den Wänden leuchteten unsere Transparente.
In früheren Jahren hatte uns seitlich vom Baum unterhalb des Katheders die Gestalt des Herrn Vaters in seinem Fahrstuhl begrüßt, und in der Fensternische blitzte die kluge und alles sehende Brille des Herrn Johannes. Dies Jahr empfing uns neben der Tanne die schlanke und jugendliche Figur des Herrn Salis, und die Fensternische war leer. Von den Cranachs befand sich überhaupt keines im Saal; die Familie feierte das Fest allein. Bei der Aufrüstung des Baumes hatte dem Herrn Salis seine Mutter geholfen, eine freundlich aussehende, ziemlich große, schlanke Frau von stiller Haltung und mit derselben ernsten Klugheit und dem aufmerksamen Blick, womit ihr Sohn ausgezeichnet war. Wir erfuhren später, daß sie aus Graubünden stammte, und das war mir immer besonders merkwürdig an ihr: Er war ein Schaffhauser, weshalb er Frä–ude und Gattlab sagte.
Unter den Augen dieser Personen nahmen wir unsere Plätze ein, wo wir unsere Geschenke vorfanden. Später erfuhren wir, daß es Mühe gemacht hatte, die Bescherung auf gleicher Höhe zu halten wie die früheren Jahre, da der größte Teil des Cranachschen Kreises an der Zurückhaltung der Familie gegen Salis Anteil nahm, was sich in der Gebewilligkeit ziemlich stark äußerte. Herr Salis mußte seine persönlichen Bekanntschaften in Anspruch nehmen, und es scheint, daß er auch seine eigene Kasse nicht geschont hat. Aber davon wußten wir jetzt nichts, im Gegenteil: die Geschenke dieses Jahres schienen uns einen frischen Zug zu enthalten. Die Farbenkasten, Messer, Bücher, Werkzeuge und so weiter sahen neuer aus und waren durchweg größer und gehaltreicher geraten. Selbst die Naschteller enthielten bisher unbekannte Spezialitäten, wie Datteln und Feigen, und bloß die bekannten dunkelbraunen, harten Anstaltsleckerli waren in der sonstigen Zahl und Beschaffenheit vorhanden.
Der Besichtigung der Geschenke schloß sich eine kurze, nicht beschwerende Ansprache des Herrn Salis an, die von der Verlesung des Welhnachtsevangeliums eingeleitet und mit einem Psalm geschlossen wurde. Hierauf ertönte wie jedes Jahr das uralte Lied: »Es ist ein Ros' entsprungen!«, das seinerseits die Weihnachtsaufführung eröffnete. Nach einem sinnvollen, liebreich durchdachten Schema waren uns Aussprüche aus dem Alten und dem Neuen Testament zugeteilt. Zuerst kamen die schweren, dunklen Zeiten des Sündenfalls und der Gottverlassenheit zum Ausdruck, denen die sehnsuchtsvollen Fragen und Rufe der Propheten folgten. »Wächter, ist die Nacht bald hin?« Allmählich verdichtete sich das schmerzliche Suchen zum begnadeten Ahnen und zur ersten Weissagung, die aus den Messias deutete: »Sein Name ist Wunderbar, Rat, Kraft, Ewigvater, Friedefürst!« Es folgte jene großartige Stelle im Propheten, die das Meer von Segeln belebt sieht und die Straßen der Welt von friedlichen Heereszügen, alle mit dem einen glücklichen Ziel: die Liebe Gottes und den neuen Glanz des messianischen Zeitalters mit eigenen Augen zu sehen.
Der heißen Prophetie gegenüber wirkte das stille Christkommen im Stall von Bethlehem wiederum wie eine Vorbereitung auf noch Höheres und Gewaltigeres, und der Veranstalter des geistlichen Spieles trieb in weiteren Ankündigungen nun ungeduldig dem Tausendjährigen Reich entgegen. Die dichterisch reinsten und mächtigsten Stellen entnahm er dem Mund des Erlösers selber aus besten leidenschaftlich bewegten Reden vor seinem Todesgang nach Jerusalem. Ihm schlossen sich die Apostel an, und die großen Gesichte der Offenbarung ließen die erlösten Gesänge der ewig Seligen bereits in großer Nähe vernehmen. Inzwischen hatten wir selber gesungen: »Sieh, ein weites Totenfeld!« und: »Tröstet mein Volk!« Dann: »Tochter Zion, freue dich!« nach dem Händelschen: »Seht er kömmt!« und, ganz einig mit der Gegenwart: »Stille Nacht! Heilige Nacht!« Endlich entfernten sich die Lieder einer Zukunft entgegen, deren Weg noch von vielen heiligen Gewittern überhangen, von schreckend schönen Regenbogen überstrahlt und von kämpfenden Geistern umlagert war. Aber weit im Hintergrund der Zeiten strahlte anstatt des Christbaums das übermächtige Nordlicht der Letzten Dinge, des Weltgerichts und der Ewigkeit, darinnen es orgelhaft donnerte, und woraus unsäglich beängstigende und lockende Posaunentöne einzeln wie Raketen aus des verborgensten Gottes Dasein hervorbrachen, des reifen Spätgottes, der die geheimnisschweren Worte sprach: »Ich komme!« Doch der Endgesang führte wieder tröstend zum Augenblick voll von Kerzenglanz und vorläufiger Erfüllung zurück mit dem altlieblichen: »O du fröhliche, o du selige gnadenbringende Weihnachtszeit!« als zum goldenen Schlüssel der ganzen Gottesoffenbarung von der Schöpfung bis zum brausenden Schlußschrei der Cherubim und Seraphim.
Man sagt von der griechischen Religion – wenn sie diese Bezeichnung verdient –, daß ihr nichts von Schicksal bewußt war, bloß von Sein und Gegenwart. Im Gegensatz zu ihr ist die christliche so voll davon, daß sogar die Anordnung der Feste in einer strengen Chronologie den unerbittlichen Schicksalsverlauf wiederum darstellt. Von den Heiligen Drei Königen an drängt und treibt die christliche Zeit unterirdisch wühlend und Herzen beunruhigend, ohne beim Weihnachtswunder länger als acht Tage stehengeblieben zu sein, den Fastenwochen mit ihrer gebrochenen, zuckenden Doppelbeleuchtung zu, hinter der früh der furchtbare Schatten des Kreuzes heraufgeistert. Mit der Fastnacht kündigt sich auch bei uns diese beinahe jähe Zuwendung zu den Zeichen des Leidens und des Todes, nach der kurzen Freude des Geborenseins, an.
Von alters her bestand bei uns der Brauch, die Fastenzeit in besonders enger Fühlung mit dem Ausklang des Erlösers zu verleben. Die Texte begannen sich dunkler zu färben. Die Gestalt des bereits von lange her zum äußersten Elend und zum Untergang verurteilten Erlösers auf seinen letzten Wegen trat beängstigender und drohender an uns heran. Wie die fernen Feuerzeichen eines nahenden Krieges flammten die ungeheuren Reden vor Jerusalem auf. Als der Föhnwind über die südlichen Pässe zu uns herabwehte, war unsere Atmosphäre schwer von Frühlingsvorgefühl und Todesschauern. Manchmal mit gespanntem Ernst gingen wir Konfirmandenklasse durch all dies Werden und Treiben, von den anderen bereits als Ausscheidende, nicht mehr in ihre Welt Gehörige betrachtet. Der Unterricht wurde nicht zelotisch oder schwärmerisch, aber mit vollem Nachdruck erteilt. Herr Salis schenkte uns nichts: wir sollten mit der vollen Kenntnis und ausgerüstet mit dem Wissen um die ebenso hochsinnigen als gefahrvollen Beziehungen, in die er uns einführte, in die christliche Welt hinausgehen. Für ihn war diese im geistigen Sinn das kraftzitternde und hochgeladene Spannungsnetz einer Wechselstromanlage, das ebenso unabsehbaren Segen wirken als unheilbare Zerstörung hervorrufen kann, je nach dem Gebrauch, der davon gemacht wird. Eindringlich ermahnte er uns, unsere Seelen vor Vorwitz zu hüten, und nicht zu denken, es sei von uns verlangt und erwartet, wie in ein Handelsabkommen mit der Konfirmation nun sogleich in ein näheres Verhältnis zu Christus und seiner überirdischen Energie zu treten. Mit dieser Ermahnung verschaffte er uns jedoch nicht, obwohl es vielleicht so scheinen mochte, gegenüber der unbedingten Forderung des Herrn Vaters eine Erleichterung, sondern mit dem persönlichen Spielraum der Freiwilligkeit, den er uns zugestand, deutete er uns nur mit um so bewegenderen Anzeichen den blutenden Ernst an, der auf uns wartete. Während wir beim Herrn Vater berechtigt waren, gegen den Gewissenszwang auszuschlagen, standen wir bald dieser überkühnen Freiheit ratlos und bang gegenüber.
Wir waren eine gute und ernsthafte Klasse, aber das war hauptsächlich ein Erfolg unseres Lehrers. Was er mit uns unternehmen mochte, und wenn es dem Religionsunterricht noch so fern zu liegen schien, bekam von ihm, ob er wollte oder nicht, das tiefe und spannende Licht, dessen Mittelpunkt der ihm innewohnende Christus war, und das einen desto stärkeren Zauber auf uns ausübte, als er jede Aufdringlichkeit vermied.
»Seht«, sagte er, »die Kirche will einmal, daß ihr mit äußerlich wahrnehmbaren Zeichen in ihren Kreis wissend eingeführt werdet, nachdem ihr durch die Taufe bereits unwissend eingeführt wurdet. Wie die Taufe nun euch, die ihr nicht wußtet, keine Verantwortung auferlegte, bis zu dem Augenblick, in dem ihr sie innerlich vielleicht nachträglich bestätigtet, so ist es auch mit der Konfirmation. Was ihr davon begreift und bejaht, das könnt ihr auch verantworten. Aber euer Wissen geht selbst nach allem, was ich euch gesagt habe, und ich habe euch viel gesagt, werde euch das Größte und Schwerste aber erst noch mitteilen: ich sage, euer Wissen geht nicht weit. Eure Jahre sind unreif. Euer Geist ist erst halb erschlossen und für ein ganzes, volles Sakrament nicht vorbereitet. Geht also getrost darein ein, es ist größer als ihr, und darum auch großmütiger. Es ist nur ein Eingang, die Eröffnung eines langen Weges voller Überraschungen und geistig gewaltiger Wendungen, die euch die Sittlichkeit Christi und die eure in überzeugenden Beispielen offenbaren werden. Und so wird sich das Sakrament in euch langsam erst bilden, oder es wird sich nicht bilden. Eure Verantwortungen werden im gleichen Schritt mit euren Kräften wachsen. Fürchtet euch also nicht.«
Dieser Mann hatte einen offenen Sinn für Welt und Natur, und den Mut, revolutionäre Neuerungen einzuführen, ob man dazu scheel sah oder nicht. Man sah scheel, aber er schien es nicht zu bemerken. Er stieg mit uns nach dem Nachtessen auf den Kirsauer Hügel hinauf, um uns den Sternenhimmel zu deuten. Bisher hatten wir das bloß auf der ersten Seite im Atlas gesehen. Vom Polarstern ausgehend, machte er uns in vielen Gefilden und Gründen des Weltraums bekannt, gab uns einen Begriff davon, daß die Notation das Geheimnis des Weltzusammenhanges sei, und von den fernen, bleichen Geisterwiesen der Milchstraße aus führte er uns an die ergreifende Tatsache heran, daß unsere Erde nichts ist, als ein schwirrendes Großatom in ihrem feierlich kreisenden System. Er eröffnete uns den Weltraum als einen Abgrund, in dem die Körper von Ewigkeit zu Ewigkeit stürzen, ohne zu fallen, und daß auch dieser Raum nicht wirklich ist, sondern bloß geschaffen von unserem rechnenden Verstand, der in Verhältnissen denkt. Nach kurzem Zögern fügte er hinzu, daß es wahrscheinlich im Grund auch keine Zeit gebe, denn eine Minute sei ebensogut eine Annahme, ein Übereinkommen, wie ein Zentimeter, der nur sei, solange man an ihn denke.
Mir war es, als spreche er auch jetzt in all diesen scheinbar so fremden Formen nur von Gott und von seiner Unmeßbarkeit, von der Unmöglichkeit, ihn nachzuweisen und festzustellen. Bei dieser Anschauung wurde mir seltsam wohl, und ich war Herrn Solis aus ganzem Herzen dankbar. Mir war, als hätte ich eine Zeitlang gefürchtet, der Konfirmationsunterricht könnte dazu führen, den sicheren Nachweis der Existenz Gottes zu erbringen, einer Macht, die ich bisher eben als das Geheimnisvolle, nicht zu Erfassende verehrt hatte. Es blieb also beim Schweigen der Abgründe über uns. Gestärkt und in freimütiger Weise beruhigt, stieg ich von dem Hügel herunter. Am Weg stand ein Kreuz, das mit seinen strengen Zeichen einen großen Teil des leuchtenden Firmaments durchschnitt und teilte. Ich dachte, Herr Salis werde vielleicht auch darüber noch etwas sagen, aber er ging schweigend daran vorbei. Ich indessen hatte ein Gefühl, als ob mir jemand in großer Stille und Verborgenheit die Versicherung gäbe, daß mir dieser himmelragende Christus in aller Macht nichts tun könne, solange ich in mir die hohe Verhältnislosigkeit Gottes lebendig erhalte.
Eine andere Unternehmung, die dem Herkommen widersprach, war ein Frühausflug am Sonntag vor Palmarum über den Dinkelsberg nach Schopfheim. Um vier Uhr standen wir schon auf, während alles noch schlief. Die Amseln sangen bereits; sie sind die ersten und die letzten Sänger der schönen Jahreszeit. Als wir in den Wald kamen, fanden wir die Anemonen blühend, Herr Salis schien alles innig, ja heftig zu lieben, aber er sprach nur in gefaßten und klar bezeichneten Ausdrücken darüber, die seine Kennerschaft verrieten. In Schopfheim kehrte er mit uns ein. Unsere Betroffenheit darüber war sehr groß, denn uns hatte man bisher das Wirtshaus als Vorplatz der Hölle begreifen gelehrt. Wir bekamen Kaffee und Brötchen, und ich erstaunte mich im geheimen darüber, daß ein Mann das alles so ohne große Vorbereitungen aus seiner Tasche bezahlen konnte. Ich verstand auch das Beispiel von sittlicher Freiheit, das er uns durch den Gebrauch gab, welchen er von dem Wirtshaus machte. Unwillkürlich zählte ich unsere Köpfe, aber wir waren nicht zwölf, wie die Jünger, sondern bloß sieben, wie die törichten Jungfrauen. Und Herr Salis war kein Christus, sondern ein schweizerischer Ehrenmann und Pfarrer, der Dialekt sprach und weit davon entfernt war, Beziehungen auf die Spitze treiben zu wollen.
Trotzdem tat er es als sittlich klar gerichtete Kraft, die er war. Um ihn schwirrte und wühlte es nun schon von feindlichen Einflüssen und stillen Verschwörungen. Wir wußten es nicht, aber seine Tage in der Anstalt waren bereits gezählt. Hatte er hier vielleicht eine Wirkungstätte und eine Zuflucht für sich und seine Mutter zu finden gehofft, so war ihm diese Hoffnung schon vereitelt, und seine Liebe zur vorhandenen Kinderwelt, wenn er eine gefaßt hatte, litt an blutendem Herzen, war in der Vorbereitung begriffen, sich loszureißen. Nur wir gehörten ihm ganz, und so gehörte er auch uns. Das erklärt vielleicht manches Leidenschaftliche, Ungewöhnliche in seinem Verkehr mit uns. Er war sicher viel kühner und angreifender, als er selber wußte. Als ich mich später mit der Gestalt des schweizerischen Reformators Ulrich Zwingli beschäftigte, fand ich in seinem Wesen nach Charakterfarbe und Temperament mancherlei Gleichklänge mit Salis, dieselbe frische Unvoreingenommenheit, die gleiche offene Klugheit und brüderliche Neigung zum Mitteilen, den freien Blick für Welt und Leben und die humane Unerbittlichkeit in der Auswirkung des einmal als richtig Erkannten und als seiend Innewohnenden.
Auf dem Weg nach Schopfheim kamen wir an einem Irrenhaus vorbei, dessen Insassen sich draußen in der jungen Frühlingsonne bewegten. Andere stierten apathisch vor sich hin. Welche redeten unaufhörlich. Und einer war darunter, der sich rastlos damit beschäftigte, über ein eingebildetes Hindernis zu springen und dann in die Hände zu klatschen. Diese Ausdrücke der Verstörtheit gaben uns viel zu reden, und auf dem Heimweg begannen wir zu betrachten, ob es nicht möglich sein werde, die Unglücklichen durch die Macht des Gebetes zu heilen, wovon wir ja unter dem früheren Regime mancherlei gehört hakten. Herrn Salis schienen diese Reden zu mißfallen. (Er schnitt sie ziemlich kurz ab, stellte aber in Aussicht, darüber in der nächsten Konfirmationstunde eingehend zu sprechen. Auf dem Heimweg war er auffallend still.
Seinem Versprechen gemäß führte er uns dann während der Montagstunde in die Machtverhältnisse des Gebetes ein.
»Das Gebet vom Menschen, mit Bewußtsein angewandt«, so sagte er, »besitzt das Geheimnis, Gottes Allmacht mit Ohnmacht zu schlagen. Hätte Christus auf dem Ölberg nicht hinzugefügt: ›Doch nicht, wie ich will, sondern wie du willst!‹ so wäre es Gott nicht möglich gewesen, seine gewaltige Absicht der Welterlösung, seit Jahrtausenden gefaßt, zu verwirklichen. Im Gebet steht der Mensch der höchsten Macht gleichberechtigt mit gleicher Gewalt gegenüber, und mit einem vermessenen Gebet kann der Sterbliche den Unsterblichen zum Zittern bringen. Wehe aber diesem Menschen, vor dem der Unsterbliche zittert!
Das Gebet enthält daher die höchste und unerbittlichste Verantwortlichkeit des Menschen gegenüber seinen Mitmenschen. Seid euch eurer furchtbaren Macht über Gott im Gebet bewußt, aber seid es in Zagen und heiliger Furcht, den vernichtenden Blitz hervorzulocken. Gewiß gibt es keine Grenze zwischen Gott, der herabströmenden Seele, und der Menschheit, der zurückflutenden Seele. Aber es gibt schwere und verderbliche Gegenwirkungen, Verwirrungen, Störungen, die in der geistigen wie in der physischen Welt die gewitterhafte Entladung hervorrufen. Darum sollt ihr nichts wollen und erbitten, was nicht im Weltplan der göttlichen Vernunft liegen kann. Schont Gott in Großmut und Zartheit, so schont ihr euch selber und fördert das Heil und das Wachstum des Guten in der Menschheit und in Gott!«
Das war die letzte Eröffnung unseres Lehrers über das Wesen unserer Seele und ihres Schöpfers. Mir war sie aus dem Mund dieses stillen, klugen Mannes eine Mitteilung von beinahe niederschmetternder Wucht. Alles, was ich vom Herrn Vater gehört hatte, kam ihr an Ungeheuerlichkeit nicht gleich. Gesprengt war schon mein feiner und fröhlich andächtiger Kuppelbau der christlichen Lehre, und herein brach wetterleuchtend die erhöhte Anschauung unmittelbarer Fühlung und Wechselwirkung mit Gott selber, der zwischen dem Ich und dem Du keine Einbauten duldete. In diesem Gedanken vom Gebet war in mir bereits der christliche Formalismus zerstört, aufgelöst jede Zuflucht, vernichtet der letzte Unterstand vor der freigewaltigen Geistesmacht des Gewissens und der Selbstverantwortung! Noch zitterte in mir jede Hirnfaser im übermenschlichen Bemühen, diese furchtbar schöne Wahrheit zu fassen, und meine Seele war ein heiliger Aufruhr in und gegen Gott, voll Bangigkeit, in ihn hineinzustürzen, voll Widerstreben und Lust, ihn in mich hineinzureißen – kurz, eine herzbeklemmende Verwirrung hatte von mir Besitz ergriffen, als es mit mir wie mit Blitz und Donner geradeswegs in das Sakrament der Konfirmation hineinging. Plötzlich war die Vorbereitungszeit vorbei, und bestürzt sah ich den Morgen des Palmsonntags über mir heraufziehen.
Er dämmerte regnerisch. Wir versahen uns mit den neuen schwarzen Anzügen. Als wir zu unseren bisherigen Kameraden kamen, begriffen wir, daß sich die Kluft zwischen ihnen und uns über Nacht noch verbreitert hatte. Wir waren ihnen zur Weihe bestimmte Erwählte, und aus den Blicken, mit denen sie uns betrachteten, konnten wir die große Verwandlung, die an unseren Gestalten vor sich ging, ermessen, wenn wir sie selber nicht fühlten. Sie weigerten sich, in der bisherigen Weise mit uns zu verkehren, und hätten wir unsere Feierlichkeit, unseren gehobenen Zustand nicht selber gewollt, so würden sie ihn unbedingt von sich aus hergestellt haben, eben durch den Abstand, den sie zwischen uns legten. Aber wir wollten ihn ebenfalls. Heute versammelten wir uns nicht im Hof zur Predigt, sondern im Zimmer des Herrn Salis. Er sprach einfach und freundlich zu uns, ohne es darauf anzulegen, unsere Beklommenheit noch zu vermehren, strich dem und jenem leicht mit der Hand über den Kopf, und dann führte er uns nach dem Andachtsaal hinunter.
Ich muß hier bemerken, daß ich wohl als sein reifster Schüler seine Aufmerksamkeit erweckte, aber eine Vorzugsbehandlung oder gar eine Ausnahmestellung genoß ich bei ihm nicht. Er erhielt jedem von uns seine vollkommene Unbefangenheit und Freiheit auch ihm gegenüber, und mir blieb es daher im unklaren, inwieweit er ein inneres Verhältnis zu meinem Wesen gefaßt hatte. Dagegen ließen mich manche Fragen an mich und Antworten auf meine Fragen vermuten, daß er sehr klar blickte und sich keinen Täuschungen hingab, und seine Ratschläge waren ohne Ausnahme für mich brauchbar und richtig, wenn ich in der Folge auch weit davon abkam, sie anzuwenden.
So trat ich meinen Weg zu Gott an in wohltätiger Gleichheit mit meinen Kameraden und Mitwallfahrern. Unsere Bank vor den Brüdern war heute leer, dafür hatte man eine Reihe Stühle für uns vorn beim Katheder aufgestellt. Rechts nahmen wir Platz, links die Mädchen, die mir als Konfirmandinnen in der Gesamtheit heute zum erstenmal wieder einer aufmerksameren Beachtung wert schienen; aber ich hielt mich nicht dabei auf, da ich mit mir genug zu tun hatte. Eigentlich hätte auch Marie Claudepierre da sitzen müssen; auch diese Erinnerung zog nur wie eine leichte, träumerisch schimmernde Wolke über mich hin. Schon war das Vorspiel beendigt, und es begann der majestätische Choral: »Stärk uns, Mittler, dein sind wir!«, dessen wechselnde, stark zu Gott andringende Rhythmen mir einen ungeheuren Eindruck machten. Der Gesang gehört zu den kraftvollsten Stücken der protestantischen Kirche, und Johann Sebastian Bach selber hat ihm die großartige harmonische Fassung gegeben, in der wir ihn heute kennen.
Noch während wir sangen, machte sich draußen ein seltsamer Sturm auf, den niemand erwartet hatte, und dessen Stöße immer nachhaltiger gegen die Fenster des Saales anliefen. Während des Gebetes durchzuckte der erste Blitzschein den Saal; ein Gewitter war im Anrücken. Unter immer verstärkten Donnerschlägen hielt Herr Salis seine Festpredigt. Seine Stimme wuchs an mit der Stimme der Natur draußen, gewann einen metallenen Klang voller Leben und gesammelter Männlichkeit, und während mit kaiserlicher Entfaltung das erste Gewitter des Jahres das Rheintal herauffuhr, standen wir einer nach dem anderen vor dem lieben, einfachen Mann, empfingen den Segen und die Konfirmationsbibel, und kehrten beschenkt aus seiner Kraft, ohne zu wissen, wie, an unsere Plätze zurück. Mir las er zu meiner stillen Betroffenheit als meinen Konfirmationspruch das Wort des Apostels Paulus vor: »Gott ist getreu, der euch nicht läßt versuchen über euer Vermögen, sondern macht, daß die Versuchung so ein Ende gewinne, daß ihr es könnt ertragen.« Nun wußte ich ziemlich sicher, ob er ein inneres Verhältnis zu mir besaß. Bald darauf klang der Gemeindegesang wieder auf.
Seltsam entrückte Tage hoben nun an, die einen Ausnahmezustand nicht nur für einen, sondern für uns alle brachten. Konfirmiert und noch nicht kommuniziert gingen wir umher, einstweilen der Hut Gottes anbefohlen, entzogen alten niederen disziplinarischen Gewalten, und in einer hohen, doch noch nicht höchsten Gemeinschaft mit dem wachsam brüderlichen Geist des Herrn Salis. In den Schauern der Karwoche nahte wie in brauenden Nebeln das Mysterium des heiligen Abendmahls. Tag für Tag begleiteten wir den Herrn auf seinem Weg nach Golgatha. Der sogenannte Gründonnerstag war uns schwarz von Wolken und schwer vor Lebensbangnis. Wenn der Heilige, der Sohn Gottes selber, in dieser Welt dem bösen Gestirn erlag, was sollte aus uns werden?
Am Morgen des Karfreitags war die Erde wieder weiß. Während wir uns zum Abendmahl bereit machten, begann es von neuem zu schneien. Das Amen nach der Predigt wurde gesprochen, und unter leise hinschwebenden Klängen des Instrumentes verließen die Kinder den Saal – wir nicht mehr mit ihnen. Mir schien, die Luft würde kühler und das Licht bleich. Die Stimmung der erwachsenen Welt brach, vorerst noch ohne Gestalten und mit unbeschriebener Wesenlosigkeit, fremd über mich herein. Ein unerwarteter Ernst erschien plötzlich in unserer Mitte. Mit dem scheu ergriffenen Gesang der Orgel nahm die Kindheit Abschied. Der Wein, den mir Herr Solis reichte, hinterließ auf meiner Zunge einen Vorgeschmack strenger und nüchterner Dinge und einer beinahe feindlichen Vernünftigkeit, die mich als Zukunft erwartete. Selbst die Haltung des Herrn Salis rang heute für meine Augen mit einer überpersönlichen Folgerichtigkeit, welcher er als Erwachsener zwischen Erwachsenen zu unterliegen schien, und die er hinnehmen mußte, ohne fragen zu dürfen. Dies Hinnehmenmüssen, ohne fragen zu dürfen, schien mir der tiefste Punkt, bis zu dem uns unser Lehrer führte, die Sohle des Grabes, in welchem Christus zur Ruhe gekommen war, Eingang und Ausgang aller Geheimnisse, aller Wahrzeichen und Schicksale des Daseins. Eine überraschende, herrliche und nahe Erscheinung Christi in diesen schweren Minuten hätte mich vielleicht trösten und ermuntern können, aber nie stand er mir so fern in Schleiern verhüllt und unerreichbar, wie in dem bangen Augenblick, als ich durch das heilige Abendmahl Teilhaber seines Lebens und Todes wurde. Fröstelnd und mit den Gefühlen eines großen Neugeborenen trat ich unter den Klängen des Nachspiels aus dem Saal. Die Welt war mir verwandelt. Der Schnee, der wieder alle Formen bedeckte, schien meine eigene Ungewißheit und Erwartung zu sein.