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Neuntes Kapitel
Die Halbheiligen

Steiflinge, Bräutigame, Thüringer Mordhöhlen, Kaiser Karl V.

Es ist besser, ehrlich zu bekennen, daß ich den Brüdern nie grün war. Ihr gedämpftes Pietistentum, ihre Gesänge, ihre zur Schau getragene Musterhaftigkeit, die sittliche Höhe, die sie uns gegenüber fühlen ließen, obwohl sie nichts anderes waren als abgetriebene Bäcker und Buchbinder, dies alles waren Erscheinungen, die ich an ihnen nicht sehr schätzte, ja, die ich ihnen ein bißchen verübelte. Schon, daß sie die Unglücksraben waren, die uns jeden Morgen um fünf aus dem Schlaf krächzten, nahm mich gegen sie ein. Ihre Lieder waren philiströs und monoton. Sie hatten sie zwar nicht gemacht, aber sie verbesserten sie auch nicht durch ihre mühsam angelernte Kunst und ihren Korbbinderschwung. Noch heute wird es mir wind und weh, wenn ich Männergesangvereine höre, und ich denke, ich müsse wieder zu einem Tagewerk in der Armenanstalt geweckt werden.

Lächerlich war mir die Herdenhaftigkeit, in der sie immer auftraten. Junge Männer zwischen zwanzig und dreißig Jahren – welche waren noch älter – kamen einher sittsam und gemessen wie ein Töchterpensionat, machten ernste, gewichtige Mienen und führten gottselige Gespräche, oder repetierten womöglich das große Einmaleins. Ich fühlte immer sehr deutlich, daß ich in diesen Jahren etwas anderes tun würde. Nie sah man sie ein Spiel treiben. Jugendlicher Unfug, Allotria, auch erlaubter Spaß, Äußerungen von Lebensfreude waren verpönt, gehörten nicht zum Stil. Mann für Mann gaben sie sich das Ansehen von Prophetenschülern, die in die Zukunft sehen können, und uns blickten sie an, als ob ihnen all unsere Sünden bekannt wären.

Dabei wußten wir genau, wie sauer ihren Köpfen das bißchen Wissenschaft wurde, wie sich die Lehrer mit ihnen zu plagen hatten, und wie scharf und spöttisch sie Herr Johannes manchmal vornahm. Im Grund wurden sie noch geringfügiger behandelt als wir. Sie hatten genau dasselbe auf den Teilern wie wir, kannten Freistunden überhaupt nicht, mußten ganz niedrige Arbeiten verrichten, zum Beispiel unsere Abtritte säubern, um Demut zu lernen mit zwei harten »t«. Jeder hing mit irgendeinem Wohltäter zusammen, der ihm diesen gesellschaftlichen Aufstieg ermöglichte, und dem er in gewissen Abständen Dankbriefe zu schreiben hatte. Und nach bestandenem Examen wurden sie nach irgendeiner Hungerstelle geschickt, wo sich die Füchse und Hasen Gutenacht sagten, um zu zeigen, wie sie weniger Lesen und Rechnen, als Entbehren gelernt hatten.

Am unbeholfensten waren sie wohl im freien Umgang mit uns. Von den Katechismusstunden sprach ich schon. Sie verliefen wenigstens nach einem gewissen Schema, und was gefragt werden sollte, stand meist im Buch. Aber verlangten wir zum Beispiel abends nach dem Zubettgehen noch eine Geschichte, so erhielten wir unter Berufung auf die Hausordnung einen trockenen Verweis, oder es kam dabei etwas heraus, wie bei dem unglücklichen Menschen, der, um uns sehr zum Lachen zu bringen, in der Angst seines Herzens erzählte, da hätte einer einmal anstatt allmählich allmehlig geschrieben, und ein Anmelder habe seine Personalien mit den Worten begonnen: »Ich will Ihnen hiermit meinen Lebenslauf übermitteln.« Im allgemeinen kann man sagen: die steifsten und langweiligsten Brüder waren Norddeutsche, und die ungeeignetsten waren Schweizer.

Da war der Bliggli, der eine Uhrkette mit Berlocken trug und in seiner ganzen Art eine gewisse Üppigkeit und Jovialität merken ließ. Sogar eine Braut sollte er dem Vernehmen nach haben, und ich begriff daher nie recht, warum er sich da zu uns herabließ, um ein Armenschullehrer zu werden. Männer im Besitz von Bräuten hielt ich für eine übergeordnete Kategorie, für einen gesteigerten menschlichen Zustand, der alles enthielt, was man sich wünschen konnte, Geld, Ansehen, Schönheit, Ruhm. Er trug helle Westen, lachte gern und gut, und mit seinem Ring am Finger war er eine festliche Erscheinung, für die ich dankbar war, solange er in der Anstalt weilte. Er sang mit einer hübschen, hellen Stimme das »Vreneli ab em Guggisberg« und »Wo mer si uff e Rigi cho«. Der Rigi enthielt mir in der Folge immer etwas Unternehmendes, Freudeversprechendes, zu dem ich noch eine ganze Zeitlang hoffend aufsah, bis ich ihn vergaß.

Dieser Bliggli war auch ein unerschrockener Geschichtenerzähler, bei dem wir abends vollkommen auf unsere Rechnung kamen. Er trug faustdick auf, log, daß es eine Wonne war, und prahlte mit seinen Helden und für sie wie Shakespeare oder Homer. Über den Thüringer Wald erhielt ich für lange Zeit von ihm die bestimmenden geographischen und ethnologischen Begriffe. Dieses Lokal wimmelte von Räuberhöhlen, Mörderherbergen mit versenkbaren Betten, mit Messerschächten, in die man stürzte, Zimmerdecken, die langsam heruntersanken, um einen zu erdrücken, und von blutgierigen Hunden, die auf den Mann dressiert waren. Es war schließlich gut, daß der Lehrer, der die Nachtoberaufsicht über die Schlafsäle führte, den Unterhaltungen ein Ende machte, denn unserem Schlaf waren sie nicht zuträglich. Ich war damals ja ohnehin ein durchtriebener Nachtwandler, der beinahe jeden Abend auf der Treppe gefunden wurde oder sonstwo, wo ich nicht hingehörte.

Bei einer solchen Gelegenheit kamen mir die Brüder auch einmal großartig vor. Ich strich, Gott weiß wie lange schon, hemdlings im Haus herum, als die Brüder zu Bett wollten und mich im Wandelgang fanden. Beim Erwachen sah ich mich von lauter freundlichen feurigen Männern umgeben, mit denen ich sehr gerne woanders hingegangen wäre als ins Bett. Ich wollte lange nichts davon hören, erwartete irgendeine wunderbare, meiner Erwartung angepaßte Aufforderung von ihnen, etwa ins goldene Schloß oder auf den strahlenden Berg, und noch beim Wiederersteigen der Treppe war ich im Zweifel, ob ich es nicht mit Engeln zu tun hatte, die mich nur auf meinen Gehorsam prüfen wollten, um mich dann nach glücklicheren Gefilden zu entführen. Tagelang spürte ich noch den nächtlichen Glanz an ihren schmucklosen Erscheinungen, und erst allmählich und unter aufrichtigem Bedauern erlosch die Vision.

Ein anderer Schweizer Bruder hieß Schaub, und war vorher gewesen, was sein Name noch zwei Menschenalter früher bei uns besagte: ein Bäcker. Er muß aber ein besonderer Bäcker gewesen sein, denn er konnte Klavierspielen besser als die Lehrer, und wurde einmal ernstlich gemaßregelt, weil er auf der Orgel einen Walzer losgelassen hatte. Er war knabenlieb und steckte uns zu, was er konnte. Leider konnte er nicht viel, aber einen »Mehlknollen« aus seiner Suppe, den er geduckt hinter der Reihe der Brüder herbrachte, setzte es doch beinahe jeden Tag ab. Diese Gänge wurden ihm allerdings gelegt, als man sie gewahrte. Das Brot war nie nachher so gut, wie zu seiner Zeit, als er es buk, und hatte nie so viele blonde »Kröpfli« und blätterige Zusammenbackstellen.

Ich dachte immer, er müsse eine große Gewalt ausüben, da ihn die Lehrer beim Klavierspielen nichts mehr lehren konnten. Diese Bemühungen ergaben nämlich die stümperhaftesten und kläglichsten Daseinsäußerungen von allen, die wir von den Brüdern kennenlernten, und nirgends mußten sie, um mit Obrist, unserem Schuhmacher, zu reden, für die Dämonen so faßbar sein als bei der Verübung von Musik. Den ganzen Tag beinahe jammerte irgendwo ein Klavier oder empörte sich eine Geige, und die oberste Klasse traktierte noch die Orgel. Im Winter hatten diese Fortgeschrittenen der Reihe nach vor dem Lied der Morgenandacht ein kleines Präludium zu spielen. Gigantische Dinge erlebte man da von offen verkrachendem Steckenbleiben oder zusammenkleisterndem Hinschleichen. Immer war die Orgel von einem geheimen Skandal umwittert, und das schlimmste war, daß fast alle dasselbe Vorspiel nahmen. Es hat da aus dem Orgelbock mancher Blut geschwitzt, der uns sonst zu zeigen bemüht war, was ein angehender Großer des Neuen Bundes ist. Man muß diese Brüder so inbrünstig mit seiner Abneigung beehrt haben wie ich, um meine schadenfrohen Genugtuungen dabei zu begreifen. Denn von allem, was diese Leute lernen sollten, und was die Lehrer konnten, schätzte ich die Musik als das Höchste, als das Symbol wirklicher geistiger Vollendung und männlicher Überlegenheit. Die Präludien, die Herr Johannes spielte, waren voller Kunst, inneren Lebens und unwiderstehlichen Flusses, atmeten eine gebändigte Kraft, eine gehaltvolle Milde und einen erfahrenen Ernst, und im Orgelspiel wurde seine gefürchtete Strenge zum innerlich erhebenden Stil. Erst da konnte man den seltenen Mann verstehen. Er war eine der Naturen, die durch die Musik ganz zugänglich werden und sich erschließen, weil hier keine Worte mehr schrecken.

Der vornehmste Bruder, den wir zu unserer Zeit hatten, war ein Mensch mit roten Lippen, einem schwarzen Bärtchen, mit dunklen Augen von starrem Ernst, und ausgezeichnet durch eine unnahbare, eindrucksvolle Feierlichkeit. Er galt als der Neffe eines in der evangelischen Welt rühmlich bekannten Mannes, der ein Waisenhaus in Jerusalem leitete, sollte dasselbe nach bei uns absolvierter Lehrzeit übernehmen, und die Sage behauptete sogar, daß er ein gebürtiges Jerusalemer Kind sei. Das war in meinen Augen nicht sein kleinster Reiz; er schien mir halbwegs mit Salomo, Jerobeam, Jesajas und dem heiligen Stier des Evangelisten Lukas verwandt. Sonst aber gehörte er in die Bremer Ecke, wo ein fadengerechtes Philisterium betrieben werden soll. Vorher war er Kaufmann gewesen, wie man sagte. Er kleidete sich wie ein Dozent der Philosophie, schwarz und peinlich sauber, und keiner von uns konnte sich rühmen, von ihm einer Aufmerksamkeit gewürdigt oder gar angesprochen worden zu sein. Das hob er sich wahrscheinlich für die Kinder in Jerusalem auf; wenn er dort alles nachholen wollte, so mußte er sich so viel mit ihnen abgeben, daß er schon nach vier Wochen entseelt zu Boden sank.

Trotzdem faszinierte mich seine Erscheinung, und ich tat verschiedenes, um ihm aufzufallen. Eines Sonntagmittags wandelte er ernst und bedeutungsvoll mit einem anderen Bruder im Hof, und ich kam an ihm vorausgehüpft mit ähnlichen Beweggründen, aus denen der König David vor der Bundeslade hergehüpft war, nur daß David dem Jehova gefallen wollte, während ich es auf den Bruder Schmoller abgesehen hatte. Dabei stolperte ich über eine Wurzel der Trauerweide und schlug so derb auf die Nase, daß ich mich auf einen Moment umsonst auf meine Personalien besann. Schnell erhob ich mich aber wieder. Eigentlich, so war mir, hatte ich jetzt eine freundliche Herablassung zugut, zumal ich ihm den Scharfblick zutraute, den Grund meines Unfalls zu erraten. Er erriet aber nicht. Ärgerlich und voll unbewegten Ernstes unterbrach er seine Ausführungen auf einen Moment, um mir einen Tadel zu erteilen: »Was ist das auch für ein dummes Gehüpfe. Kannst du nicht aufpassen?« Ich sah nun ein, daß ich mein Glück niemals bei ihm machen werde, verehrte ihn aus der Ferne weiter, verwandte aber keine Zeit mehr darauf, um ihm zu gefallen, so leid mir die Aussicht tat, daß ich jetzt wahrscheinlich nichts Näheres von ihm über die Stadt Jerusalem erfahren werde. Aber auch die anderen, die er seines Umgangs würdigte, erfuhren nichts. Gefragt, wie es denn dort jetzt eigentlich aussehe, gab er die kurze, ungeduldige Antwort: »Wie soll es aussehen? Unordentlich und schmutzig sieht es aus.«

Einmal hat er noch allen ein- und aufgeleuchtet, ehe er seinen Weg übers Wasser antrat, um Asien in Angriff zu nehmen. Es war ein Reformationsfest, und die Brüder machten eine kostümierte Aufführung im Andachtsaal vor dem Katheder. Bruder Schmoller war Kaiser Karl V., und er beherrschte die ganze Szene. Alles hielt den Atem an, wenn er den Mund auftat. Er hatte schöne, lange, gerade Beine, die in dem schwarzen Trikot außerordentlich zur Geltung kamen. Dazu das schwarze Bärtchen, die steife Trauer seines Wesens, das sich zur Darstellung der sogenannten spanischen Grandezza ganz besonders eignete: die ganze Weiberschaft der Anstalt, davon bin ich überzeugt, träumte die Nacht von ihm, und noch lange wurde er mit ehrfürchtigen Blicken verfolgt.

Zipp und Kraus

Die beiden starken Männer, die den Herrn Vater in meiner späteren Zeit zu tragen hatten, hießen Zipp und Kraus. Beide waren Schuhmacher gewesen. Sie zeichneten sich aus durch eine sozusagen besonnen stürmische Frömmigkeit, eine vorsichtig aufdringliche Rechtschaffenheit, und durch eine sorgfältig angelegte Augendienerei. Dabei unterschieden sie sich doch durch manche Züge sehr voneinander. Zipp schien durch die Bezeigung der angeführten Eigenschaften ziemlich strapaziert zu werden: er war blaß, spitz und giftig. Kraus schienen sie nicht nur nichts anzuhaben, sondern geradezu Vergnügen zu machen; er sah aus wie die leibhafte Gesundheit, hatte einen Teint wie ein vierzehnjähriger Junge, und den treuherzigen Blick eines Hundes. Übrigens machte er ständig den Eindruck, als hätte er eben gelacht und sei von Zipp zu seinem Schreck darüber betroffen worden, oder als wollte er lachen und wagte es nicht wegen Zipps sittlicher Strenge. Zipp seinerseits war durch Schweißfüße ausgezeichnet. Hatte er sich irgendwo aufgehalten, so roch man es noch nach einer Stunde.

Diese beiden Ehrenmänner führten einen stillen unterirdischen Krieg gegeneinander um die Würde des Seniors, die jeder für sich erstrebte. Als starke Naturen, die sie waren, verwickelten sie die ganze Brüderschar und sogar zum Teil die Lehrer darein. Zipp lieferte die besseren Rechnungen, aber Kraus schrieb die formvollendeteren Aufsätze. In Religion waren sie beide gleich gut, in der Musik gleich schlecht. Zipp hielt einen Teil der Brüder durch seine moralische Unerbittlichkeit so in Furcht, daß sie seinen Hof bildeten. Kraus gewann den übrigen Teil durch seine angeborene Gutmütigkeit und durch den verschüchterten Ansatz zum Lächeln, der um seine Lippen zu spielen schien. Sehr hatte ihm geschadet, daß auch er eines Tages mit dem Herrn Vater strauchelte. Man war darüber einig gewesen, daß die Art, wie Zipp, ohne einen Blick hinzuwenden, stumm und ernst einfach wartete, bis Kraus wieder feststand, nicht der Größe entbehrte. Dagegen kam es etwas später vor, daß Kraus droben vor dem Zimmer des Herrn Vaters volle fünf Minuten auf Zipp warten mußte, obwohl schon die Glocke geläutet hatte; die Versäumnis zog Zipp einen Verweis zu, den er blaß und schweigend hinnahm. Erst nach einem Vierteljahr wurde bekannt, daß Zipp damals im Gebet verweilt hatte, wobei er die Glocke überhörte. War schon der erstere Vorfall zu seinem Vorteil ausgelegt worden – Kraus vergalt beim zweiten seinerseits mit stummem Beiseiteblicken –, so machte die so spät bekannt werdende Erklärung und das vierteljährige Martyrium um so mehr Eindruck, und die Sache war nun eigentlich für Zipp entschieden.

Nun war aber Zipp ein fehlbarer Mensch, und zudem besaß er noch einen Rest nicht im Gebet vernichteter Hastigkeit, die ihm den klaren Blick manchmal trübte und ihn dazu verleitete, Sachverhalte falsch zu beurteilen. So war ihm der günstige Stand seiner Dinge zum Beispiel diesmal nicht klargeworden, und er ließ sich von seiner angeborenen weltlichen Eitelkeit, seinem Mutterwitz dazu verführen, seinem Glück nachhelfen zu wollen. Er nahm Krausens Bibel in einem unbewachten Augenblick, fing eine Anzahl Fliegen und klappte sie an etwa zwölf Stellen zwischen die Blätter, worauf er das heilige Buch wieder still an seinen Ort brachte. Einige Tage später sah er zufällig in die Bibel seines Rivalen und entdeckte darin zerquetschte Fliegen, die ganz unstreitig in bestimmter Absicht, sozusagen nach einem System, darin verteilt waren. Als vorläufiger Senior seiner Klasse konnte er diese Entdeckung nicht für sich behalten; er war verpflichtet, sie höheren Orts zur Kenntnis zu bringen. Kraus wurde vernommen. Er schwieg, leugnete nichts, und wurde zu einer empfindlichen Pönitenz verurteilt. Zu Zipp sagte er ruhig: »Ich habe die und die Strafe bekommen. Du hattest ganz recht, mich anzugeben.« Zipp sah ihn einen Moment fragend und sehr scharf an, wurde um einen Schein blasser, sagte aber nichts dazu.

Eine Zeitlang schien nun der Krieg zwischen den Rivalen eingeschlafen, ja sie schienen es sogar in unauffälliger Weise daraufhin angelegt zu haben, einander Vorschub zu leisten. Jeder ging zu seinem Anhang und empfahl ihm den anderen zur Aufmerksamkeit und zum Nachleben, so daß eine heillose Verwirrung und Unordnung im geheimen einriß. Niemand wußte mehr, woran er war. Alle Rollen schienen vertauscht, und keiner konnte mehr dem anderen trauen. Niemand wußte, sollte er einen blassen Ernst oder ein bescheidenes Lächeln zur Schau tragen, war es besser, sich im Rechnen anzustrengen oder im Aufsatz zu vervollkommnen.

Zu der Zeit bereitete jeder seinen großen Schlag vor. Als Kraus glaubte, daß die Sympathie der Brüder für seine Person, zum Teil von Zipp selber gefördert, eine gewisse Wärme erreicht habe, nahm er einen von seinen eigenen Leuten ins Vertrauen und eröffnete ihm, daß nicht er, Kraus, sondern Zipp die Fliegen in seine Bibel getan habe, daß er ihm aber verzeihe, ja daß er glaube, Zipp wollte bloß seine Demut prüfen. Er sei sogar davon überzeugt, daß Zipp mit dem Gedanken umgehe, diese seine Tat nächstens selber zu enthüllen, und dann werde man »alles sehen«. Natürlich redete sich diese Eröffnung bei der Brüderschaft wie der Wind herum, und die Schlacht stand nun wieder für Kraus und sein nicht hervorgewagtes oder zurückgescheuchtes Lächeln günstiger. Auch Kraus war ja nun ein Märtyrer. Er war sogar der Märtyrer einer Bosheit, zu der er geschwiegen hatte. Zwar eben das fragte sich, und manche hofften noch.

Aber Zipp hatte inzwischen seinerseits einen noch größeren Schlag vorbereitet, und in diesen wurde ich in gewisser Weise hinein verflochten. Schon lange hatte ich diesen Heiligen auf dem Kerbholz still und andächtig mit mir herumgetragen. Es kam manchmal vor, daß er bei dringenden Arbeiten einen Nachmittag in der Schusterei half, wobei er keine Gelegenheit vorbeigehen ließ, mich seine moralische Überlegenheit fühlen zu lassen. Er beanstandete mein Betragen, tadelte meinen Fleiß, griff meine Leistungen an, kurz, der Heilige war mir vielfach unbequem, und da ich ihn nicht anerkannte, so hatte ich Lust, mich gegen ihn aufzulehnen. Diese Lust verdichtete sich eines Tages zu einer Tat. Seine sterblichen Punkte waren in meinen Augen seine Schweißfüße und seine preußische Staatsangehörigkeit. Bei der letzten packte ich ihn, und bald darauf ging ein Gedicht von mir um mit dem stimmungsvollen Anfang: »Es war einmal ein Preuß, der hatte Flöh und Läus!« Schweißfüße hatte er natürlich auch, und niemand konnte daran zweifeln, daß Zipp damit gemeint war.

Nun bestand bei uns eine Zeitlang die Freiheit, daß am Sonntagabend nach dem Essen Gedichte und Musik vorgetragen werden konnten; wer glaubte, etwas geben zu können, der sollte sich melden. Da aber Faulheit und Schüchternheit bei uns Jungen die hauptsächlichen Stimmungen waren, so fuhren wir fort, die betreffende Wand, dieselbe, an der man zu Pranger stand, nur zu unserer Schande zu beleben. Um diesen Bann zu brechen, und um meinen Krieg gegen Zipp zu fördern, entschloß ich mich, ein Gedicht vorzutragen, und zwar wählte ich dazu das »Lied vom Zopf« von Chamisso. Ich wollte ein- oder zweimal anstatt »Zopf« »Zipp« sagen. Zur Anmeldung mußte man sich zum Herrn Vater begeben. Ja, das sei ja ganz schön, hörte ich dort. »Aber weshalb willst du fremde Gedichte aufsagen, wo du doch selber so schöne Verse machen kannst?« Aus dem Vortrag wurde nichts, dagegen trug man mir auf, mich bei dem Zipp zu entschuldigen und seine Verzeihung zu erbitten.

Ich war sehr niedergeschlagen, da ich mir absolut nicht vorstellen konnte, daß ich zu Zipp gehen und ihn wörtlich um Verzeihung bitten werde. Anderseits mußte ich doch den Befehl ausführen. Da half ich mir so, daß ich ein Blättchen Glanzpapier nahm, es zu einer kleinen Mappe zuschnitt, und auf die weiße Seite schrieb: »Lieber Zipp, ich entschuldige mich für das Gedicht!« Das Ganze faltete ich so zusammen, daß ich es ihm als geschlossenen Brief beim Vorbeigehen schnell in die Hand drücken konnte, was vor dem Beginn der Andacht geschah. Zipp nahm das Kunstwerkchen entgegen, und ich habe über die Sache nichts weiter gehört, hätte aber eigentlich nicht gedacht, daß er sich so billig abfertigen lassen werde. Die Erklärung dafür bekam ich erst später.

Zipp hatte nämlich seinen Triumph schon unter Dach. Und das war so vor sich gegangen. Der Herr Vater hatte ihn kommen lassen, um über eben diesen unzulässigen Fall Schattenhold mit ihm zu reden und ihm Strenge anzubefehlen.

»Herr Vater«, sagte Zipp, »mir steht es nicht zu, meine weltliche Ehre zu betreiben. Wer weiß, wer diesen Schattenhold in Bewegung brachte. Ich aber hatte mir angemaßt, die Demut eines Bruders prüfen zu wollen, ja, ich klage mich an, diese Absicht nur dazu benützt zu haben, um meinen Neid und meine Scheelsucht darein zu verkleiden.«

Bei diesen Worten hatte er sich auf die Knie niedergelassen und die ganze Sache mit den Fliegen gebeichtet, sich in keiner Weise geschont, und schließlich um eine ausgedehnte Strafe gebeten. Unter anderem sollte ich mich nicht bei ihm entschuldigen müssen, da er sicher auch mich durch seinen geistigen Hochmut gereizt habe. Gott allein wird wissen, was an dieser Taktik Berechnung war und was Erschütterung, durch mein Spottgedicht in Bewegung gebracht. Der Herr Vater als salomonischer Richter legte die Sache so bei, daß er erst die Brüder Zipp und Kraus einander gegenüberstellte, und als beide sich darin überboten, sich selber unrecht zu geben, die übrigen Brüder zusammenrief. Dabei fand es sich, daß Kraus immerhin sein Martyrium von den Fliegen selbst publiziert hatte, und damit war sein Glanz hin. Zipp mußte ihn vor allen Brüdern um Verzeihung bitten, mußte ihn auf beide Wangen küssen, aber übrigens wirkte er so stark, daß auf Bitten der Brüder er nicht nur keine Pönitenz erhielt, sondern endgültig Senior wurde.

So kam es auch, daß sich Zipp mit meiner sophistischen Erklärung zufrieden gab. Dagegen stellte mich Kraus einige Tage später. Er sah traurig und mitgenommen aus, und mit einer gewissen Erbitterung in der Stimme fragte er mich: »Warum hast du nicht auch über mich ein Gedicht gemacht? Ich bin doch so gut ein Preuße wie Zipp? Was hab' ich dir zuleid getan?« Er schien dabei zu lächeln, aber seine Augen hatten einen so niedergeschlagenen Ausdruck, daß ich mich kleinlaut davonmachte. Mein Gedicht hatte Kraus ein für allemal unter Zipps Botmäßigkeit gebracht.

Weihe und Wirklichkeit

Die große Zeit der Brüder waren die Wochen und besonders die Tage des Staatsexamens, das sie in Karlsruhe zu bestehen hatten. Man muß sich die große Leistung gegenwärtig halten, die hier von den Lehrern vollbracht wurde. Schuster- und Schmiedegesellen, die von nichts eine Ahnung hatten und in den meisten Fällen noch mittelmäßige Köpfe waren, wurden in drei Jahren zu staatlich gutgeheißenen Lehrern gemacht. Ihr Examen hatten sie zu bestehen mit den ordentlichen Seminaristen, die aus der Volksschule direkt ins Seminar gekommen waren, ohne inzwischen bei der Ausübung eines Handwerks sich Schwielen an die Hände und ins Hirn anzuschaffen. Dies Handwerk war aber gerade Vorbedingung in Demutt.

Den Anstrengungen nun, die zur Heranbildung gemacht wurden, entsprach die Feierlichkeit und der still gespannte Ernst in den Zeiten des Staatsexamens und vor dem darauf folgenden Abgang der Brüder als Lehrer. Die urchristlich demokratische Absicht der Einrichtung trat dann ins volle Licht. Alle Brüder galten als vom Geist Erwählte und auf verschlungenen Pfaden zur Reichgottesarbeit Herangeführte. Ihre Anwesenheit in der Anstalt betrachtete man als das Ergebnis eines Gnadenaktes, durch den Christus, wie weiland unter den Fischern, unter modernen Handwerkern eine Wahl getroffen hatte. Ein ganz großer Begriff entfaltete sich alljährlich in diesen Tagen. Man fühlte sich, wenn man dafür Empfindung besaß, als Glied der christlichen Hierarchie. Bildnisweise trat in einem kleinen Rahmen auf diesem weltfernen Eiland die übersinnliche Welt, die hohe und fromme Ordnung des Jenseits ahnend in die Wahrnehmung. Gott selber mit der großen Verklärung seines Sohnes brach bis dicht an die Grenze unserer Wahrnehmung vor.

Die Brüder wanderten alle dahin in neuen, feierlich schwarzen Anzügen, die sie bleich und entrückt erscheinen ließen. Sie waren nun die zur Reife Gebrachten, bereit, aus dieser stillen Werdezeit als Christi Gehilfen in die Welt des Unglaubens hinauszuziehen, und ich konnte dann doch nicht anders: ich erwog sie als Helden, als furchtlose Charaktere, die ganz im geheimen an sich eben doch das Wunder erlebt hatten. Fragte ich mich, worin dies Wunder bestand, so fand ich es darin, durch den Glauben verwandelt worden zu sein zu etwas, das sie vordem nicht gewesen waren, also etwas, woran ich himmelhoch hinaufsah und das ich Objekt des Mißtrauens sicher nie erreichen würde. Die Zurückbleibenden sangen diesen Vollendeten zu: »Nun scheidest auch du mit Frieden und Ruh!« und: »Bald ist sie hingeschwunden, die Vorbereitungszeit, die in den schwersten Stunden die größte Gnade beut.« Beides, soviel ich weiß, Lieder Christian Heinrich Cranachs, des Begründers der Anstalt.

Sehr bewegte es, daß nun die Abgehenden nicht mehr mitsangen. Sie waren schon jenseits, waren eingesegnet und so gut wie Apostel. Der Mensch, im ganzen gesehen, ist, was er aus sich macht. Selbst diesen keineswegs immer prächtigen Gestalten verlieh der schlichte Kultus, der im Namen Jesu Christi mit ihnen getrieben wurde, einen Schimmer von Würde, heiligem Ernst und hoheitsvoller Bedeutung, der nie ganz von ihnen weichen konnte, und ich würde mich verachtet haben, wenn ich in diesen Tagen gedacht hätte: »Es sind aber doch bloß gewesene Schuster und Schneider!« Eine Sehnsucht, ein Seufzer nach wahrhaft göttlicher Schönheit begleitete ihren Abgang jedes Jahr aus meiner Brust, und tagelang war ich noch wie dankbar gemaßregelt, weil ich etwas gefühlt hatte, was man mir mit Worten nicht sagen konnte, da Worte mein Vertrauen noch nicht besaßen.


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