Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Einige Zeit nach dem Besuch meiner Mutter begann man davon zu sprechen, daß regelmäßig morgens an die Tür des Herrn Vaters mit Kreide ein Kreuz, und an die des Herrn Johannes ein Doppeldreieck gezeichnet erschien, ohne daß man wußte, von wem die Zeichen stammten und was sie zu bedeuten hätten. Der Lehrer fragte unter der Hand nach; einmal wurden wir auch im gesamten darüber verhört. Aber es kam nichts dabei heraus, und am nächsten Morgen standen die Wahrzeichen wieder an den beiden Türen. Wir selber hatten keine Ahnung, was wir davon denken sollten. Einige von uns kannten ja die Zeichen und verstanden sehr wohl die symbolische Bedeutung, aber auch innerhalb des Bundes wollte sich niemand dazu bekennen, obwohl man den Betreffenden als großen Mann gefeiert hätte.
Auch ich konnte die Ehre mit gutem Gewissen von mir ablehnen. Es wäre nach dem Erlebnis mit der Mutter ein wohlangebrachter und sinnreicher Akt der Auflehnung gewesen, aber mit dem Herrn Vater setzte ich mich auf andere Weise auseinander. All die Wochen seither verweigerte ich ihm bei den öffentlichen Begegnungen den Gruß; auch betete ich die gemeinsamen Gebete nicht mit. Die an mich gestellten Anforderungen erfüllte ich, um meiner Mutter keine Schande zu machen, aber was davon auf ihn persönlich kam, das war trocken und pflichtmäßig, und zu seinen gelegentlichen Scherzen sah ich unbewegt mit stiller Feindseligkeit. Ihm fiel mein neuerliches Verhalten selber auf. »Der Schattenhold ist mir böse«, sagte er halb traurig, halb verdrießlich. »Nun, man muß ihm Zeit lassen. Alles gibt sich im Leben.« Auch diese Bemerkung hörte ich mit kaltem Gesicht an. Solange ich noch mit dieser scharfen Deutlichkeit meine Mutter weinend aus dem Zimmer treten sah, konnte ich ihm nicht wieder gut sein.
Indessen wurde die Geschichte mit dem Kreuz und den Dreiecken zu einer öffentlichen Beunruhigung. Alles sprach darüber. Man war abends schon gespannt, zu erfahren, ob morgen der Betreffende wieder dagewesen sein werde. Von diesem machten wir uns allmählich eine kühne, dunkle und geheimnisvolle Vorstellung. Wir begeisterten uns für ihn, betrachteten ihn als unseren Sachwalter, und zitterten alle im geheimen, daß er in einer Nacht doch ergriffen werden könnte. Schon waren Patrouillen angeordnet, die, immer zu anderen Nachtzeiten, durch das Haus zu gehen hatten, aber die kommandierten Brüder trafen nie jemand, und die Zeichen waren entweder noch nicht da, oder die Tat war schon wieder geschehen. Auch der Herr Vater wurde unruhig. Seine Züge nahmen einen gespannten Ausdruck an. Gleichzeitig schien ihn die Sache zu ermüden und sich ihm aufs Gemüt zu legen. Er war die Zeit sehr ungleich, bald gewaltsam zudringend, bald enttäuscht und scheltend, und er zeigte Neigung, uns die allgemeine Mitwisserschaft an einem Komplott zuzutrauen.
In einer Nacht nun hatte sich Herr Johannes selber vorbehalten, zu wachen; die Sache mußte jetzt zum Beschluß kommen. Dabei ergab sich folgendes: Herr Johannes nahm nach vollzogenem Lichterlöschen im großen Haus Platz auf einem Polstersessel unter der Uhr im Treppenhaus, die er jeden Sonntagmorgen selber aufzog. Sie hing links an der kleinen Wand neben dem Fenster. Das Mondlicht fiel schräg in die Gänge und ins Treppenhaus hinein, aber Herr Johannes saß im Dunkeln. Er mußte warten bis etwa gegen zwei Uhr, ohne daß etwas anderes geschah, als daß die Uhr über ihm die Stunden schlug, daß es im Haus da und dort knackte, und daß draußen ein Käuzchen schrie.
Die Uhr hatte eben gewarnt, da sah Herr Johannes, daß sich vom oberen Stockwerk langsam aber zielbewußt eine weiße Gestalt über die Treppe herunter bewegte. Jetzt betrat sie den Boden, auf dem die Zimmer des Herrn Vaters und des Herrn Johannes lagen, aber sie ging an beiden Türen vorbei und setzte still den Abstieg durch das Haus hinunter fort. Leise stand Herr Johannes auf, um ihr nachzugehen. Im ersten Stock wandte sie sich rechts nach den Lehrsälen, Herr Johannes hinterher. Doch bevor der alte Mann die Tür des großen Saales erreicht hatte, durch die sie verschwunden war, kehrte sie schon zurück; Herr Johannes hatte eben noch Zeit, sich in dem Rahmen einer anderen Tür zu bergen. Die Gestalt schritt aufrecht in selbstversunkener, gespannter Haltung dicht an ihm vorüber, ohne ihn zu bemerken.
Im Hauptgang wandte die Erscheinung sich links und erstieg im vollen Mondlicht, von Herrn Johannes wie von einem Schatten aus längstgelebtem Vorleben verfolgt, wieder die Treppe nach dem zweiten Stockwerk. Ohne umzusehen und ohne sich zu sichern, mit wunderbarer Selbstverständlichkeit, trat sie dort an die Tür des Herrn Vaters, an die sie sorgfältig, wenn auch etwas eilig, ein großes lateinisches Kreuz mit Kreide malte; die Kreide hatte sie zuvor aus dem großen Lehrsaal von der schwarzen Tafel geholt. Mit einem Seufzer wandte sie sich darauf ab, stand einen Augenblick wie nachdenkend und ging dann auf die andere Tür zu, die sie ausführlich mit einem verschränkten Dreieck versah. Als auch dies geschehen war, trug sie die Kreide an ihren Ort zurück. Wiederum ohne zu bemerken, daß sie verfolgt war, stieg sie nach den Knabenschlafsälen hinauf und legte sich, noch einmal tief seufzend – in mein Bett.
Am nächsten Tag fand eine Aussprache statt zwischen den beiden alten Männern, die unserer Anstalt vorstanden, den Lehrern und den Familiengliedern des Herrn Vaters. Diese letzteren sind die Erklärung dafür, daß einiges von den Verhandlungen durch die Wände und Türen bis zu uns drang, wenn auch nicht gleich. Es scheint dabei ziemlich bewegt zugegangen zu sein. Der Herr Vater soll unmutig und gereizt ausgerufen haben: »Immer nimmst du den Schattenhold vor mir in Schutz, als ob ich ihn vergewaltigen wollte. Nachgerade kannst du doch sehen, was für Früchte seine stille Hoffart trägt.« Dann soll auch von meiner Mutter die Rede gewesen sein, deren Widerbild in meinem Verhalten gefunden wurde, aber schließlich hat man sich wohl auf eine geteilte Behandlung des Falles herbeigelassen. Den moralischen, fürsorglichen Part übernahm Herr Johannes, während der Herr Vater mit jedem Mittel in Erfahrung zu bringen suchte, was es mit diesen Sinnbildern auf sich habe. Denn auch an anderen Orten waren die Zeichen beobachtet worden, ja, in der letzten Zeit schien eine richtige Seuche um sich zu greifen; wo man hinsah, stieß man nachgerade auf Kreuze und verschränkte Dreiecke.
Während ich so unbewußt der Gegenstand einer leidenschaftlichen Verhandlung und einer genauen mißtrauischen Beobachtung war, verbrachte ich einen stillen und etwas bedrückten Tag. Das fallende Laub machte mich schwermütig. An diesem Tag waren auch die Störche weggezogen; ihr Nest stand leer. Ich fühlte mich einsamer als sonst; mir war, als hätten sie mich persönlich verlassen. Auch der nächtliche Täter machte immer noch von sich reden, und alsgemach begann er mich zu beunruhigen. Ich weiß, daß ich mich zu einem Bundesmitglied äußerte: »Es wäre gut, wenn er jetzt aufhörte. Er übertreibt es und wird noch alles in Gefahr bringen.« Damit gab man mir recht. Das Wort wurde herumgesprochen mit dem Bemerken, wenn es einer von uns sei, der solle jetzt aufhören. Aber abends, als ich mit meinen Kameraden zu Bett gehen wollte, wurde ich zu Herrn Johannes gerufen. Er erwartete mich in seinem Zimmer.
»Also, Schattenhold«, sprach er mich nach kurzem Betrachten an, »du gehst jetzt hinauf und holst dein Bettzeug herunter, Tücher, Kissen, alles, verstehst du? Du wirst die drei nächsten Nächte hier bei mir schlafen. – Weißt du, warum?«
Ich sah ihn überrascht an und verneinte.
»Nun, wir reden noch darüber.«
Ganz bestürzt ging ich hinauf und tat zur allgemeinen Verwunderung, wie mir befohlen war. Meine Bundesbrüder, von denen einige auch hier lagen, beunruhigten sich sogleich sehr.
»Du, paß auf, das hat mit dem Ding nachts zu tun!« warnte mich einer. »Halt jetzt die Ohren steif!«
Als ich mit meinem Zeug wieder bei Herrn Johannes erschien, hatte er mir sein altes geschwungenes Sofa abgeräumt, und darauf mußte ich betten.
»Heute gehen wir nämlich einmal schlafen wie Vater und Sohn«, meinte er lächelnd. »Möchtest du mein Junge sein?«
»Ja«, sagte ich nach kurzem Zögern, dann aber sehr bestimmt und so, als ob ich von dieser Frage mir etwas erhoffte. Er sah mich ein bißchen überrascht an.
»Ich weiß aber immer noch nicht, ob ich dein Vater sein möchte«, meinte er wie erwägend und voll heiterer Alterszweifel. »Bis jetzt habe ich jedenfalls noch keinen gefunden, der mir Stich gehalten hätte. Es wird besser sein, auch weiter allein zu bleiben. – Zieh dich jetzt aus und leg dich schlafen.«
Ich gehorchte mit einer gewissen ängstlichen Geehrtheit, während er noch einmal das Zimmer verließ. Da war dieser stille, freundlich-ernste Raum mit den vielen Bildern an den Wänden, Stahlstichen von Ruinen, Landschaften, Pyramiden und fremden schönen Figuren, deren Bedeutung ich nicht verstand, und auch einige Ölgemälde waren darunter. In hellen Schränken standen Reihen von alten Büchern, nicht so große, dicke, prunkende Bände von Gottesgelehrtheit, wie beim Herrn Vater, sondern kleinere mit alten, braunen Rücken, auf denen reihenweise in leicht verblaßtem Gold Goethe oder Jean Paul zu lesen war, auch den Namen Gottfried Keller las ich dort zum erstenmal, ebenso den des anderen Gottfried von Straßburg, Schiller, Lessing und viele neue Namen, von welchen ich mich an Storm und Heyse erinnere. Beim Fenster neben dem Bücherschrank stand gleich ein bequemer alter Ohrenstuhl, in welchem man wohl untergebracht lesen konnte, aber dazu ließ dem viel in Anspruch genommenen Mann nur die Nacht Zeit, das heißt, wenn er nicht die dummen Hefte der Brüder zu korrigieren hatte. Auf dem Schreibtisch brannte eine Petroleumlampe mit großer weißer Glocke. Zwei fremdartige Teppiche bedeckten den Boden, wie ich sie sonst noch nirgends gesehen hatte, auch nicht beim Herrn Vater; später erfuhr ich, daß es türkische waren, die er sich von der Reise für wenig Geld mitgebracht hatte.
Ich begriff, daß ein Mann in einem solchen Zimmer unangreifbar war, denn auf dem Bücherschrank fand ich neben den deutschen Namen, die ihn gleichsam schützten, noch viele fremde und sogar solche aus sehr alten Zeiten, Seneca, Plautus, Sophokles, Plutarch, Äschylus, Marc Aurelius, Sokrates, Platon, dann Buddha mit seinen Reden, Laotse, Konfuzius, daneben Dante mit der Göttlichen Komödie und den Cherubinischen Wandersmann Angelus Silesius. Sie alle sahen stark behütend auf ihn herab, verwalteten fühlbar die Geheimnisse seines Geistes und den Gang seiner Jahre, und ein großes Übel konnte ihm sicherlich nicht mehr widerfahren. Mit leichtem Herzklopfen lag ich endlich auf dem Rücken; denn so viel war mir klar, daß es damit nicht sein Bewenden haben werde. Er kehrte zurück, und nachdem er noch irgend etwas in ein Buch eingetragen hatte, schloß er dieses und wandte sich mir zu. Neben dem Sofa ließ er sich auf einen Stuhl nieder.
»Liegst du bequem?« fragte er mich. Das bejahte ich beklommen, und er betrachtete mich noch einmal mit abwägender Sorgfalt. Zugleich erschien in seinem Gesicht eine stille Zartheit. Wahrscheinlich wurde er immer wieder die Beute der Vorstellung, von welcher er vorhin gesprochen hatte, daß er nämlich hier als Vater seinen Sohn zu Bett gebracht habe.
»Ja, sieh mal«, hob er dann zu sprechen an. »Ich bin da nämlich dem nächtlichen Unfug mit dem Kreuz und dem Doppeldreieck auf die Spur gekommen. Kannst du dir denken, wie das zustande kam?«
Ich verneinte verwundert und unruhig zugleich, denn sehr deutlich kam die Sache jetzt auf mich zu.
»Das hat ein Nachtwandler getan. Nun, einen Nachtwandler haben wir nur da in der Anstalt. – Du bist zweimal dicht an mir vorbeigegangen. Hast du mich denn nicht gespürt?«
Ich schüttelte stumm den Kopf; der übrige Körper lag starr, und mich fing sofort an zu frieren. Das mochte er bemerken. Er deckte mich väterlich noch höher zu.
»Ich frage nicht, was es mit den Zeichen auf sich hat«, fuhr er dann fort. »Für meinen Teil kann ich nur raten, nicht noch weiter Wände, Mauern und Türen damit zu verschmieren. Diese Dinge sind zu ernst und bedeutungsvoll, als daß so grüne Jungen zu ihrer Kurzweil ihren Unfug damit treiben. Dann das, was dich davon angeht. Du bist ja kein so unergründliches Geheimnis, daß man sich die Sache nicht zusammenreimen könnte. Nicht wahr, wo ich durchgehe, da ist das Dreieck, und wohinter der Herr Vater sitzt, da findet man das Kreuz. – Nun, begehe auch kein Unrecht. Auch du weißt und verstehst nicht alles. Der Herr Vater hat vielleicht deine Mutter hart angefaßt. Hinter dem Herrn Vater ist solch eine Welt, und hinter deiner Mutter solch eine. Wie willst du kleiner Mensch da den Richter spielen? Ich spreche jetzt nämlich nicht mehr von deinen nächtlichen Spaziergängen, sondern von der inneren Gesinnung, die dich dazu führte.«
Er machte wieder eine kleine Pause, um mir zum Nachkommen und Begreifen Zeit zu geben. Aber meine Bestürzung war so jäh, daß ich noch nichts zu denken vermochte.
»In dieser Verfassung kannst du dich als hinfälliges und pflegebedürftiges kindliches Wesen nicht auf die Dauer wohl fühlen, da sie deinem natürlichen Zustand widerspricht«, schloß er ernst. »Überlaß hier der Zukunft und dem Leben die Entscheidung. Das Schicksal richtet immer gerecht und trifft jedesmal das Richtige. Du bist jung, kommst frisch aus der Wiege. Der Herr Vater ist alt und schwankt wie wir Betagten alle dem Grab zu. Das überdenke einmal, dann wirst du manches in einem anderen Licht sehen. – Weißt du jetzt, warum du drei Nächte bei mir schlafen sollst?«
Ich wußte es vielleicht mit dem Herzen, aber nicht mit dem Kopf. Der Kopf begriff nichts, und an all meinem Witz verzweifelnd, starrte ich ihn noch eine Weile stumm an. Mir war zumute wie einem, der in den berühmten Teich Bethesda gefallen ist und darin zu ertrinken fürchtet, anstatt daß ihn die wunderbare Heilung ergreift. Endlich brachte ich mit größter Anstrengung, um den verehrten Mann zufrieden zu stellen, ein zitterndes Ja hervor, während mir würgend und schmerzend die ersten Tränen in die Kehle stiegen. Im nächsten Moment warf ich mich haltlos aufweinend in die Kissen herum und schluchzte mir von der Seele herunter, was von Schutt und unkindlichem Groll und von vielem anderen, das ich nicht einmal dem Namen nach kannte, sich darauf gehäuft hatte. Auch ich war ja vom Geschlecht der Schmoller, bloß daß ich mich nie so selbstzufrieden und achtenswert darin fand wie der Bürger Pankraz. Ich hatte auch im Grund keine Ahnung, warum ich jetzt so aufgelöst darauflos heulte, und was mich dazu gebracht hatte. Ich fühlte bloß, wie langsam der Druck und die innerliche Spannung der letzten Zeit von mir wichen, und wie ich schwer und müde wurde, während Herr Johannes mir still mit der alten ruhigen Hand den Kopf streichelte. Plötzlich fiel ich mitten aus der leidenschaftlichen Aufwallung heraus in Schlaf, der mich nach allen Aufreibungen dieses Abends und der vergangenen Tage so unvermittelt überfiel, daß ich die Stimme des Herrn Johannes, die jetzt wieder leise erklang, wie im Traum hörte, ohne zu verstehen, was er sagte. Ich meinte, ich sollte noch einmal aufstehen, aber ich konnte mich nicht mehr regen. Wie verzaubert kam ich mir vor. So ist vielleicht Hypnotisierten zumute, wenn sie mit ihrem Hypnotiseur sehr glücklich sind. Die Nacht durchschlief ich tief und traumlos wie in Abrahams Schoß, und mit großer, aufrichtiger Verwunderung fand ich mich am anderen Tag da, wo ich war. Ich brauchte eine Weile, bis ich alles begriff und wieder wußte, was geschehen war. Herr Johannes war schon auf; er schien wenig Schlaf mehr zu bedürfen, und nach den daliegenden Heften der Brüder hatte er sicher schon eine Stunde gearbeitet, ehe sich diese aus den Federn machten, um ihren traurigen Morgengesang zu erheben. Auf meinen fragenden und gespannten Blick, den ich nach seinem Gesicht tat, lächelte er.
»Es ist heute nacht nichts passiert, als daß du schnarchtest wie eine Sägemühle«, bemerkte er launig. »Wir wollen nun die nächste Nacht die Probe darauf machen, aber nicht aufs Schnarchen, das hast du scheint's schon lange ausprobiert. Schlaf dann einmal auf der Seite, wenn du dich daran erinnern willst.«
Glücklich und auch beschämt wegen meiner leidigen Schnarcherei, die mir schon soviel Maulschellen eingetragen hatte, nahm ich mein Bettzeug zusammen und verfügte mich zu meinen sonstigen Schlafgenossen zurück.
Die folgenden zwei Abende war von den vorgefallenen Geschichten nicht mehr die Rede. Herr Johannes erlaubte mir, bei ihm etwas länger auf zu bleiben. Ich durfte seine Bücher und seine Bilder ansehen, und von drei kleinen, feuerroten Bändchen mit goldenem Aufdruck konnte ich eines in die Ecke neben dem Schreibtisch nehmen und daraus ein Märchen lesen, während Herr Johannes arbeitete. Es war die Geschichte des kalten Herzens von Hauff. Als er fertig war, mußte ich laut vorlesen, während er sich in den Ohrenstuhl setzte und sich eine kleine Pfeife stopfte. Wenn er sich wohl fühlte, so rauchte er ein bißchen, während der Herr Vater regelmäßig nach dem Mittagessen zur Beförderung der Verdauung eine Zigarre verbrauchte. Über das Märchen sprach er einiges mit mir, dann mußte ich zu Bett. Er blendete die Lampe ab, um seinerseits in einem anderen Buch noch eine Stunde zu lesen. Ich lag wach und genoß das Gefühl der Geborgenheit und das liebliche Wunder, bei einem verehrten, ernsten Mann Sohn zu sein. Das Wissen um die kurze Dauer des Glückes machte die Empfindungen tiefer und gab der Süße eine sehnsüchtige Schärfe, die ein bißchen schmerzte und für später kleine Narben nachließ. Nach zwölf Uhr erhob er sich, um ebenfalls ins Bett zu gehen. Er stellte seine Schuhe vor die Tür, diese jedoch schloß er nicht ab, und das verstand ich als ein so großes und großherziges Zeichen seines Vertrauens zu mir, zu sich und zur menschlichen Seelennatur, daß ich mich selber ein für allemal geheilt fühlte. Es ist auch tatsächlich in der Folge kein Fall von Nachtwandeln mehr bei mir vorgekommen.
Am dritten Abend konnte er nicht bei mir sein. Es fand beim Herrn Vater eine Lehrerkonferenz statt, an der er teilnehmen mußte, doch durfte ich ihn außer dem Bett erwarten und konnte im Zimmer machen, was ich wollte. Ich machte nicht viel, saß in dem Stuhl neben dem Schreibtisch und las in einem Buch, das er mir hingelegt hatte, ein Grimmsches Märchen nach dem anderen. Ich war ganz versponnen und bezaubert, als er zurück kam; ihn aber schien etwas zu bedrücken; wahrscheinlich brachte er es aus der Lehrerkonferenz mit. Er fragte mich, was ich gelesen hätte, und es war eine ganze Menge.
»Bist du müde?« verlangte er dann zu wissen.
Ich verneinte.
»Wenn du willst, so bleiben wir noch ein bißchen auf; es ist doch unser letzter Abend. Ich mache uns etwas Warmes zu trinken, und eine Kleinigkeit zu essen wird sich auch finden. Du erzählst mir dabei eines der Märchen, die du gelesen hast, und so nehmen wir Abschied.«
Er ging nun nach dem anliegenden Schlafzimmerchen, aus dem er mit einem Spirituskocher und einem Pfännchen heraus kam. In den Kocher goß er Spiritus, indessen ich nach seiner Anweisung ein Töpfchen mit Milch und die Wasserflasche herbei brachte.
»Für uns beide ist die Milch zuwenig«, sagte er. »Wir müssen sie ein bißchen verdünnen. Dafür können wir etwas mehr Schokolade nehmen.«
»Ah, es gibt Schokoladenkaffee!« freute ich mich.
»Ihr mit eurem Schokoladenkaffee!« schalt er. »Entweder es ist Kaffee, oder es ist Schokolade. Schokoladenkaffee ist ein Unsinn. Also was gibt es?«
Das wußte ich nicht zu sagen, wenn mir der Kaffee verboten war.
»Nun, Schokolade gibt es!« Er steckte den Spiritus an. »Daß du mir von heute an nicht mehr Schokoladenkaffee sagst!«
Er setzte das Pfännchen auf und ging dann noch einmal ins Schlafzimmer, wo er zwei ziemlich große altmodische, mit Blümchen bemalte Tassen holte, und nachher brachte er noch einen schwarz lackierten Kasten mit einem großen, herrlichen Zweig blühender Kirschen darauf, den ich sehr bewunderte.
»Das ist japanisch«, sagte er. »Dergleichen können sie. Sonst sind sie Nachahmer. Wirst du auch ein Nachahmer werden?«
Ich sah ihn ungewiß an, denn auf diese Weise Nachahmer zu sein, schien mir auch nicht wenig.
»Wirst schon werden, was Gott will«, vermutete er. »Nur nicht versteigen und auch nicht in Sackgassen treiben lassen mußt du dich. Für diesmal habe ich dich noch aus dem Feuer gerettet; das nächste Mal mußt du dir selber helfen. Denke daran, es ist mein Ernst.«
Die Milch kochte, und er rührte viel Schokoladenpulver hinein, ließ es noch einmal aufkochen und goß mir dann eine Tasse ganz und die seine halb voll. Meine schob er mir zu, und in seine tat er etwas Wasser nach. Dann öffnete er die Schachtel und suchte mir daraus einige Stücke Kuchen und Kringel. Er selber aß nicht.
»Und jetzt das Märchen«, verlangte er. »Hast du die sieben Raben gelesen? Gut. Dann erzähle die einmal. Es wird sich dann finden, was für ein Leser du bist.«
Ich fing an zu erzählen, und er hörte schweigend von Anfang bis zu Ende zu.
»Hast nicht schlecht gelesen«, lobte er dann. »Nun, Gott helfe dir weiter. Ich kann ja dein Vater auch nicht sein. Aber ich bitte mir aus, daß du mir dafür in der Sprachlehre Freude machst. Was ist das nur, daß ihr euch beinahe alle so dumm benehmt? Stolpert in eurer eigenen schönen Muttersprache herum wie Kälber im Blumenbeet. ›Ich sehe. Ich hatte gesehen. Ich würde gesehen haben.‹ Ist das denn für den Geist unersteiglich, wenn man sich ein bißchen in den Zustand versetzt? Was ist da der Zustand? Nun, daß man eben sieht! Oder daß man schon gesehen hatte! Oder daß man unter gewissen Umständen gesehen haben würde. Es sind zu wenig Dichter mehr unter euch jungem Volk. Nun, man muß euch verschleißen, wie ihr seid, aber mich verlangt allmählich, abgelöst zu werden. Mich müdet's unter euch.«
Wieder schwieg er eine Weile.
»Sieh zum Beispiel«, begann er dann plötzlich von den Dingen, die ihn beschäftigten, »da hat die Sache mit den Kreuzen und den Dreiecken weite Kreise gezogen. Morgen kommen euch große Herren über den Hals. Ich werde nicht da sein. Da zeigt einmal euren Charakter. Werde dann sehen, was hinter euch steckt. – Die Klasse war in der letzten Zeit nicht schlecht, und die Aufführung ging auch sonst an. Aber Empörung ist nie gut. Widrigkeiten des Lebens bekämpft man durch Tüchtigkeit, und nur durch Charakterkraft wird man des Lebens Herr, indem man seine Forderungen erfüllt.«
Nachher ließ er sich von meiner Mutter erzählen, soviel ich von ihr wußte, von meinem Vater und Elternhaus, und er hörte still zu. Auch später äußerte er sich nicht dazu.
»Du weißt jetzt, daß du mir alles erzählt hast«, bemerkte er nur. »Es ist also einer da, der mehr von dir weiß als die anderen, der etwas von dir herumträgt und es vielleicht in seiner Seele bewegt. Daran kannst du denken, wenn dir manchmal etwas schwer erscheint. – Und jetzt ist es Zeit, daß du ins Bett kommst. Ein Glück, daß morgen Sonntag ist.«
Als am anderen Morgen die Brüder wieder von des Allmächtigen Güte sangen, war von Herrn Johannes noch nichts zu sehen. Ich zog mich still an – die frische Wäsche und den Sonntagsanzug hatte ich schon gestern abend mitgebracht –, nahm mein Bett und kam droben gerade zur Sonntagmorgenzeremonie zurecht. Die Werktagszeremonie bestand darin, daß der Bruder von Bett zu Bett ging und der Trockenheit nachfühlte; von den feuchten entschied er, ob sie zugebettet werden konnten oder auf den Boden hinaus mußten. Am Sonntag mußte man zudem mit dem getragenen Wochenhemd vor ihn treten, die innere Fläche der Hinterseite ihm zugekehrt, und wem es die Woche schlecht ergangen war, der hatte die Schande, mit seinem Hemd an den Mühlbach zu gehen und es dort auszuwaschen. Es standen nachher ihrer eine ganze Reihe am Bach und riebelten. Im übrigen wußten auch schon andere, was mir Herr Johannes mitgeteilt hatte. Gestern mit dem Abendzug waren zwei sehr große Häupter im Reich Gottes angekommen, Herr Elias, der zweite Bruder des Herrn Vaters, und des letzteren Studienfreund aus der Tübinger Zeit, der jetzige sogenannte Geisterpfarrer Blumbardt aus Württemberg. Ich muß von beiden gleich den Ruf verzeichnen, der ihnen voranging.
Herr Elias hatte irgendwo in der Schweiz eine große Anstalt für gemütskranke Erwachsene; er heilte durch Gebet und fromme Exerzitien, die hauptsächlich auf die Austreibung des unreinen Geistes gerichtet waren. Am besten begriffen habe ich ihn und sein Wesen in folgender Geschichte. Da war in der Anstalt ein Ehepaar zu Besuch, dem es beim Mittagessen passierte, daß es durch das Tischlos nach verschiedenen Tischen auseinander gesetzt wurde. Zuerst lehnten sich die Leutchen dagegen auf und machten ihre Zusammengehörigkeit geltend, aber da neben dem Gebet und den Exerzitien auch das Los in hohem Ansehen stand, so ließ man an dieser vom Willen Gottes bestimmten Anordnung nicht rütteln. Mit seltsam betroffenen Gesichtern gingen die Eheleute auseinander. Während sie nun so eines ohne das andere aßen und einander aus der Entfernung erwogen, bemerkte die Frau zum erstenmal die gedrückte Stirne des Mannes, und wie unvorteilhaft er sich mit dem Handrücken den Schnurrbart aus dem Mund wischte. Der Mann seinerseits wunderte sich, was für eine scharfe Nase eigentlich die Frau hatte, und beunruhigte sich innerlich darüber, wie sie nicht bloß mit den Händen und dem Mund, sondern auch mit den Blicken aß. Nachdem sie sich nun so unter der geheimnisvollen Entwicklung des Geistes, der jenen Platz beherrschte, an ihren verschiedenen Tischen bereits ein wenig voneinander abgewöhnt hatten, begann ihnen das ernster einzuleuchten, und sie sahen den Finger Gottes darin. Aus dem wunderbaren Mißfallen aus der Ferne wurde eine innige und gedankenreiche Befremdung in der Nähe, und schließlich machte sich die Wirkung des Geistes so kräftig fühlbar, daß diese Gedanken sich zu äußern begannen, da es Gedanken der Einkehr und der Buße waren. Das Ehepaar war nämlich gar kein Ehepaar, sondern bloß ein Paar. Das einfache Mittel der Tischtrennung hatte Gott genügt, auch eine Trennung der doppelten Sündengewohnheit herbeizuführen, und von seiten des Herrn Elias, den sie später zu ihrer Unterhaltung herbeizogen, brauchte es nicht mehr viel Zuspruch, um die heilsame Befremdung zu vertiefen und die Trennung vom Tisch auch zu einer vom Bett zu machen. Dazu gelang es ihm dank der Autorität, die er bei den Leutchen unvermutet erlangt hatte, jeden Teil mit seiner verlassenen Hälfte wieder zusammenzupassen und bruchlos anzukitten, denn beide waren legitim anderweitig verheiratet, so daß er zu allem noch das Rechenkunststück fertig brachte: drei geteilt durch zwei ist zwei, denn aus drei getrennten Ehepaaren blieben zwei ganze übrig, ohne daß er jemand dafür aus der Welt geschafft hatte.
Vom Pfarrer Blumbardt ging die Rede, daß er vollends ein Teufelaustreiber sei, der mit den Geistern ungefähr in einem Verhältnis lebte, wie ein gefürchteter und populärer Detektiv mit den Gestalten der großstädtischen Verbrecherwelt. Die Nachrichten über den seltenen Mann hatten wir übrigens von unserem Herrn Vater. Pfarrer Blumbardt predigte nachts den Geistern der Verstorbenen in den Kirchen, und wehe dem, der noch sterblich war, wenn er sich in die Gesellschaft der schon Gestorbenen eindrängen wollte. Nicht kleine Gefahr lief auch der Pfarrer selber, daß durch ein solches unberufenes Eindringen die bloß durch die stärkste Glaubenskraft gebändigte, keinem Erdengesetz mehr untertänige Geistergemeinde sich gegen ihn empören und ihn zu Schaden bringen konnte.
Diese beiden Männer waren also schon seit mehr als zwölf Stunden unsere Hausgenossen, hatten wohl auch gestern der Konferenz beigewohnt, und allgemein wurde angenommen, daß wir es mit ihnen zu tun bekommen würden. Wohl war uns nicht; auch die keine Hemden auszuwaschen hatten, fanden ihre Gemütsumstände bedauerlich gedrückt. Nach dem Kaffee, den sie in der Wohnung des Herrn Vaters mit diesem getrunken hatten – am Sonntagmorgen blieb die engere Familie Cranach dem gemeinsamen Tisch fern –, bekamen wir sie auch im Hof zu sehen. Den Herrn Elias kannten wir schon mit seinem ehrwürdigen weißen Bart und seiner mäßigen Bauchwölbung, er war ungefähr so, wie wohl unser Herr Vater gewesen wäre, wenn er hätte gehen können, schön stattlich und wohlgepflegten Leibes, und vielleicht hätte man den Herrn Vater auch weniger galligen Gemüts und etwas altersbehaglicher erfunden. Verdächtiger schien uns die hagere, langhälsige Figur des Gottesmannes aus Württemberg, und es umschwebten ihre Schwärze alle Merkmale, die nötig waren, um sie mit Mißtrauen und großer Bedenklichkeit zu betrachten. Von mir ging gleich das Wort um, die Herren müßten eigentlich die Namen tauschen. Tatsächlich sah Herr Elias weniger wie der alttestamentarische Eiferer und Himmelstürmer aus, dessen Namen er trug, als wie eine licht- und ölgesättigte reife Sonnenblume, während an dem Herrn Blumbardt gar nichts Blumiges zu sein schien, und man sich schon denken konnte, daß er eines Tages flatternd und tollkühn mit dem Feuerwagen als schwäbischer Elias dem hebräischen nach gen Himmel ratterte und knatterte.
Wenn Herr Elias zu Besuch hier war, so hielt er anstatt seines Bruders die Predigt. Wir gaben ihr den Vorzug, da sie mit viel Beispielen versehen war, aber seine Gebete schienen uns noch verfänglicher als die unseres Herrn Vaters, und vor allem waren sie viel länger und anstrengender. Eigentlich hatten wir gehofft, daß heute der Geisterpfarrer predigen würde, und wir waren bereits auf eine wilde, einigermaßen abenteuerliche und sogar ein bißchen gefährliche Sache gefaßt, aber zu unserer großen Enttäuschung predigte keiner von beiden, sondern der Herr Vater bestieg mit den Beinen der starken Brüder das Katheder und hielt eine ebenso eindringliche als vielsagende Predigt über den alten und den neuen Bund, das Judentum und das Christentum. Das Judentum stand danach auf dem halben Wege zum Heidentum, war eine niedrigere und rohe Geistesverfassung, und der Jude ein undankbarer, eigensinniger und schwer zu erlösender Mensch. Das verschränkte Dreieck bezeichnete die Synagogen, wo mit leeren Gebräuchen und vom Haß eingegebenen Spitzfindigkeiten die Zeit des Fluches, den Gott auf dieses Volk gelegt habe, bis zum Ende aller Dinge hingebracht werde. Diesen Menschen sei es verwehrt, das hohe, heilige Zeichen des Kreuzes, in dem die Menschheit erlöst und befreit sei, zu verehren. Sie müßten mit scheelem, aufsässigem Blick daran vorbeischleichen, und die große, fromme Christenheit sei ihnen ein ständiger stummer Vorwurf, die vornehme Obrigkeit ein Ärgernis und das Gesetz eine lästige Minderung im Betreiben dunkler Geschäfte. Das konnte aber nur eine Einleitung sein. Die sich von uns auf geistige Meteorologie verstanden, machten sich auf noch dickeres Wetter gefaßt.
Tatsächlich wurden nach der Predigt die vier älteren Klassen der Knaben auf elf Uhr zum Herrn Vater befohlen. Dort fanden wir wieder die beiden Gottesmänner. Herr Johannes war dem Vernehmen nach verreist. Die Orgel hatte der Pfarrer Blumbardt gespielt. Ich fand sein Spiel gewitterhaft und sehr gewaltiglich; das tiefe Weben und die beseelte Kunst des Herrn Johannes war nicht darin, soviel ich hören konnte.
Im Zimmer des Herrn Vaters ließen die Freunde diesen wieder vorsitzen. Mir kam jetzt aus ihrer Haltung der Argwohn, daß sie ihn damit ehren wollten, wie zwei Größere es sich leisten können, einen Kleineren oder weniger Berühmten vorangehen zu lassen. Er setzte nun zunächst die Predigt fort, indem er das Thema uns noch näher auf den Leib spann, kam zu den besprochenen Wahrzeichen, berief die Anwendung, die man ihnen hier gegeben hatte, und forderte uns in gut zuredendem Ton auf, den Schlüssel zu unserem Geheimnis auszuliefern. Vielleicht habe sich ein Mißverständnis zwischen uns eingeschlichen, meinte er. »Ihr seid möglicherweise das Opfer von irgendwelchen Einflüsterungen«, wollte er gelten lassen. »Wie soll sich die Anstaltsleitung dagegen verteidigen, solange ihr sie mit Mißtrauen betrachtet und im Verborgenen gegen sie kämpft? Was bedeutet zum Beispiel diese verschiedene Einschätzung der Personen über euch? Mich, euren Vater« – er stellte es mit zornigem Verdruß fest – »bezeichnet ihr mit dem Kreuz, Herrn Johannes mit dem jüdischen Doppeldreieck. Macht ihr euch klar, daß ihr welche von diesen Personen tief verletzt habt, so tief, daß es ihnen vielleicht sogar schwerfallen muß, weiter mit euch zu verkehren? – Schattenhold, tritt vor!« befahl er, als sich nichts regte.
Es war mir schon vorher ziemlich klar gewesen, daß ich für die Sache noch persönlich werde einstehen müssen. Man betrachtete mich gleichsam als die Tür zum Bund. Ich trat vor.
»Das ist der Nachtwandler«, bemerkte der Herr Vater gegen seine Gäste. »Sonst ein stilles, wenn auch verstocktes Kind.« Zu mir gewendet sagte er: »Du brauchst nicht zu befürchten, daß ich wegen deines Somnambulismus gegen dich vorgehen werde, wenn ich mich auch mit dir über den Geist auseinandersetzen möchte, der dich dazu getrieben hat. Auch unsere Träume gehören zu unserem Seelenleben und sind sogar oft die verräterischsten Zeugnisse desselben. Wir Erzieher wissen sehr gut darin zu lesen, das laß dir wenigstens gesagt sein. Indessen hast du Zeichen angewandt, die man gleichzeitig und nachher beinahe überall fand. Wer hat sie ausgebracht, und welche Jungen sind daran beteiligt?«
Mochte das nun für uns auslaufen, wie es wollte, so war ich fest entschlossen, dicht zu halten. Im übrigen sah ich bereits voraus, daß mir die ganze Unternehmung, die er Somnambulismus nannte, unmöglich bei ihm zum Guten ausschlagen konnte. Am meisten erschreckte mich daran noch das schwüle Fremdwort, das ich irgendwie mit Buhlerei in Verbindung brachte. Aber ob ich wußte, was das war, oder nicht: an meiner Verantwortung zweifelte ich so oder so nicht.
»Von den Zeichen ist mir nichts bekannt«, sagte ich daher mit echtem Kummer. »Mag ich sie gemacht haben, so geschah das im Traum. Und die andern haben sie dann nachgemacht; das ist ihre Sache.«
Jetzt tat der Herr Pfarrer Blumbardt einen Schritt auf mich zu.
»Verstockt magst du sein«, sagte er, indem er mir seine Blicke in die Augen bohrte, »aber still, wie dich der Herr Vater nannte, das bist du nicht. Du bist erfüllt von einer innerlich beredten, ja lauten methodischen Unfügsamkeit; davon zeugt jeder Zug deines Gesichtes. Unbefriedigt und phantastisch, wie du bist – man muß nur deine Augenbogen ansehen und sich in deine träumerisch-finsteren Blicke versenken! –, haben dir die Dämonen nachts keine Ruhe gelassen, und darum stehst du aus deinem Bett auf und gehst im Haus umher wie ein unseliger Geist. Dir steht eine schwere Jugend und vielleicht ein unglückliches Leben bevor mit einer solchen teuflischen Einquartierung im Herzen; das laß dir einmal gesagt sein. Aber mit jedem Bekenntnis, das du tust, wird dich einer von diesen Halunken verlassen. Also gib jetzt einmal zu hören. Es wird keinem von euch etwas passieren; dafür stehe ich ein, ich, Pfarrer Blumbardt. Wenn ich einmal ein Wort gesprochen habe, so bleibe ich dabei. Was sollte sonst aus mir werden?«
Große Feinde kann man sich mit wenigen Worten machen; das merkte ich. Ich sah dem Mann aufmerksam in den lodernden Blick, und ergeben in mein Geschick blieb ich bei meiner Ableugnung.
»Das ist ein starkes Stück Trotz!« grollte er, während mich seine Augen ableuchteten wie Laternen. »Um solche Leidenschaften auszuhalten, müßte man ein breiter Bengel sein und nicht solch ein blasses Gewächs, mein Junge. Du wirst auf diesem Weg nicht alt werden, das glaube mir. – Mit fünfundzwanzig Jahren bist du eine Leiche!« herrschte er mich an. »Und mußt vor den Richterstuhl Gottes. Da wirst du eine gute Position haben. Was? – Wie steht das mit den Geheimzeichen? Wer sind deine Vertrauten?«
Ich schwieg. Er sah mich noch einen Moment an wie einen Geist, der ihm trotzte, und wandte sich dann sichtbar angefochten dem Herrn Vater zu.
»Die sanften Obstinaten habe ich immer als die gefährlichsten gefunden«, murrte er kopfschüttelnd. »Das Kind hat außerordentliche Gaben verliehen bekommen, aber es besteht hier dringende Möglichkeit, daß sich der Wein Gottes in Essig verwandelt. Du mußt den Jungen fest in die Hand nehmen, mußt ihm in einem besonders anstrengenden Sinn Vater werden, sonst ladest du schwere Verantwortung auf dich.« Er erwähnte einige Beispiele aus der Geschichte, wo durch gute oder schlimme Taten bekannte Männer früher Nachtwandler gewesen waren, und verstummte dann plötzlich.
Der Herr Vater blickte schweigend und über die Ermahnungen seiner Person wenig erbaut vor sich hin. Herr Elias war anderer Meinung.
»Ich kann das nicht so verhängnisvoll ansehen«, sagte er in der wohlbehaltenen Altmännerart, die ihm nach allen Fehden mit seinen Geistern geworden war. Er hatte es ja mehr mit republikanischen Luftwesen zu tun, und nicht mit hochfahrenden imperialistischen wie die Monarchisten oder Anarchisten des Pfarrers. »Widersetzlichkeit ist sicher vorhanden. Auch auf Hochfahrenheit deuten Kopfbildung und Blick, ja auf ausdrücklichen Hochmut; darin gehe ich sogar noch weiter als unser Freund Blumbardt. Aber ich kann mich davon nicht so persönlich beleidigt fühlen, wie er es zu tun scheint. Es ist so ein stiller, möchte sagen: selbstvergnügter Hochmut, der manchmal mit ganz guten Seelenanlagen gepaart ist. Außerordentliche Gaben kann ich auch wieder nicht erkennen. Nachtwandlerei ist noch kein Talent, und man soll solch kleine Wesen nicht gleich mit Verantwortung totdrücken. – Nun, mein Kind, du siehst, ich halte dich für einen kleinen Menschen und Mitbruder von uns, die wir uns in keiner Weise über dich erhaben fühlen. Ihr aber setzt eurem Herrn Vater einen geheimnisvollen Widerstand entgegen, durch den ihr ihm schwere Seelenleiden verursacht. Ist es nicht genug, daß Gott ihn mit dem körperlichen Leiden geschlagen hat? Ihr solltet ihm mit besonders zarter Ehrfurcht entgegenkommen, denn Gott läßt seine Gezeichneten weder umsonst ehren noch umsonst kränken.«
Er wartete ein bißchen, war dann aber wohl zu erfahren, um sich bei mir ebenfalls eine Niederlage zu holen, und wandte sich an den ganzen Verein.
»Also, Jungen«, sagte er jovial, »nun paßt einmal auf. Wenn ihr dem Herrn Vater noch vor dem Essen mündlich oder auch schriftlich, alle oder durch einen Abgesandten, Antwort auf seine Frage gebt, so soll heute einmal die Kinderlehre ausfallen, und ihr könnt gleich in den Wald laufen. Das ist doch zu überlegen –!«
»Das geht nicht!« widersprach aber der Herr Vater in unwilligem Ton. »Kinderlehre muß sein, und für Gehorsam gibt es keine Belohnung. Die Knaben sollen bekennen, und es ist schon genug, wenn sie straffrei bleiben.«
»Natürlich!« nickte der Pfarrer so grimmig, daß wir ihn alle daraufhin ansahen, ob er sich nicht über die ganze Sache lustig machte. »Wo kämen wir da hin. Auf die Kinderlehre können wir nicht verzichten. – Na, innerhalb vierundzwanzig Stunden wüßte ich alles, was ich wissen wollte!«
»Das kann ich mir denken«, lachte Herr Elias ein wenig spottend. »Gotthold, gib mir den Jungen einmal auf einen Monat mit. Er scheint der Mittelpunkt dieser ganzen Verschwörung zu sein. In der Klausur wird er sich besinnen, und in der Zeit ist hier der Bandwurm ohne seinen Kopf eingegangen.«
Aber auch diesem Vorschlag war der Herr Vater abgeneigt.
»Was hier gewachsen ist, muß hier ausgereutet werden«, sagte er ablehnend, beinahe schroff. »Ich sehe, daß ihr auch nicht mehr wißt als ich, und das ist mir eine Beruhigung. Mehr, als der Mensch vermag, wird Gott nicht von ihm verlangen.«
Damit hatte der Herr Vater sich gegen die anderen Gottesmänner behauptet, und wir wurden mit Verdacht entlassen. Betreten über diesen Ausgang, und beunruhigt über das, was darin unentschieden blieb, schoben wir uns hinaus. Bis zum Essen verhandelten wir noch vielerlei und mutmaßten dies und das, aber von allen Erwartungen ging wieder keine in Erfüllung. Wir wurden weder gemaßregelt noch sonst exerziert, und vorläufig blieb alles beim alten, bloß daß auf unserer Seite die Zeichen verschwanden.
Ein Nachspiel zu dem hohen Besuch aus Württemberg muß ich noch berichten. Unsere Magd Kathrin, eine kühne, fromme Person, hatte nun so viel über das gewaltige Beten des Gottesmannes gehört, daß sie davon gern selber Ohrenzeugin gewesen wäre. Nachdem sie bei der Predigt, die der Herr Vater gehalten hatte, schon enttäuscht worden war, wollte sie jedenfalls am Abend zu dem Ihren kommen. Sobald sich der Geisterpfarrer zurückgezogen und seine Schuhe vor die Tür gestellt hatte, erschien ihre tüchtige Gestalt vor dem Schlüsselloch. Wohl oder übel wohnte sie den verschiedenen Stadien der männlichen Entkleidung bei, ohne daß etwas geschah. Da, bevor der Pfarrer ins Bett stieg, trat er ans Fenster und blickte eine Weile still in die Nacht hinaus. Darauf sagte er mit einem müden Seufzer: »Lieber Gott, es bleibt wieder beim alten!« schloß den Fensterflügel – er gehörte zu den Leuten, die den eigenen Dunst brauchen, um gut zu schlafen –, löschte das Licht und sank in die Federn. Die Magd hat sich nachher enttäuscht und auch etwas empört über diese familiären Umgangsformen gegenüber einer furchtbaren Gottheit geäußert – besonders das Gähnen beanstandete sie als ungehörig – und weigerte sich in der Folge, dem Geisterpfarrer eine besondere Bedeutung im Reich Gottes beizumessen.
War ich an jenem Sonntag wegen meiner künftigen Ungeschorenheit zweifelnden Betrachtungen obgelegen, so zeigte es sich, daß ich recht daran getan hatte. Mit frisch aufgenommener und diesmal erhöhter Hartnäckigkeit zog mich nun der Herr Vater zu sich. Das mittägliche Lesen wurde auf seinem Zimmer neu eingeführt, und diesmal wehrte ich mich nicht länger. Ich hatte ihm etwas angetan, und war damit einverstanden, daß ich dafür büßen mußte. Benötigte er künftig einer Ordonnanz, eines Boten, eines Vorlesers, eines Briefschreibers, so wurde ausschließlich ich gerufen. Ich rückte zum persönlichen Sekretär auf und nahm schließlich eine Stellung ein, die mir unbequem wurde wie ein Staatskleid, die mich zu mir selber in eine schiefe Lage brachte, und die ganz in der Tiefe den Grund legte zu neuen Handlungen und Wandlungen. Dies war anderseits die Zeit, in welcher ich anfing, Klavierstunden zu nehmen, was meine Ausnahmestellung noch mehr sichtbar machte, denn solange man denken konnte, war ich der einzige, der das gefordert und bewilligt erhalten hatte. Ich hätte kein Kind sein müssen, wenn ich die Bevorzugung nicht auch streckenweise genossen und als einen Erfolg meiner Persönlichkeit betrachtet hätte, aber zunächst vereinsamte sie mich, entfernte mich von meinen Kameraden und brachte mich dort ebenfalls in den Ruf, hochfahrend zu sein, etwas Besseres vorstellen zu wollen. Gelegentlich hatte ich sogar die Empfindung, als verlöre ich den festen Boden unter den Füßen, und dann fing ich vielerlei an, bis ich wieder Grund fühlte. Sehr willkommen war es mir daher, durch die verschiedenen Wortführungen vor der Behörde beweisen zu können, daß ich meine Stellung nicht zur Untreue benutzte.