Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Einige Zeit nach diesen Geschichten kam die Frau Mutter in das alte Schloß, um Obrists Nachfolger zu inspizieren. Es war ein Bayer mit rötlichbraunem Haar. Auf dem Scheitel, den er sehr sorgfältig zog, glänzte es in zwei glatten Bahnen, aber seitwärts baute es sich zu breit ausgelegten Lockengalerien aus, die er eifrig beaufsichtigte; er hatte immer einen Spiegelscherben auf dem Werktisch liegen. Die hohe Frau fand soweit alles in Ordnung.
»Na, und wie ist's mit dem da?« fragte sie dann, mit dem Kopf auf mich weisend. »Tut er auch gut?«
Der Schuster begann mich sofort zu loben; er konnte mich leiden, und meine Schulkenntnisse imponierten ihm. Die Frau Mutter hörte ungläubig und wie zerstreut zu.
»Ja, bei dem sind immer die Anfänge gut«, schnitt sie ihm dann die weitere Rede ab. »Sehen Sie sich mit ihm vor. Er ist ein Anarchist; er fällt denen in den Rücken, die ihm wohltun.« Dann wandte sie sich an mich. »Du wirst noch viel Schuhe putzen müssen, du Einspänner, bis du einsiehst, was zu deinem Heil dient. Hast du nicht wieder eine Verschwörung angezettelt?«
Ich schwieg, und nachdem sie meine Figur noch mit einem mißtrauischen Blick gemessen hatte, entfernte sie sich, um andere Bezirke heimzusuchen.
Wester, der Schuhmacher, hatte über diesen Englischen Gruß sehr verwundert dreingesehen, und ich mußte ihm nun alles haarklein erzählen, während er im Spiegelscherben nachsah, ob er sich der Frau auch würdig präsentiert habe. Bei der Gelegenheit entdeckte er einen Mitesser auf seiner Nase, den er sofort umsichtig auszudrücken begann.
»Sieh mal an, da bist du ja auch wirklich ein Anarchist«, meinte er dann verwundert mit einem Seitenblick nach mir; seine Hauptaufmerksamkeit galt immer noch der Nase. »Weißt du, was das ist?« Eben das hatte ich von ihm erfragen wollen. »Das ist ein Mensch, der an nichts glaubt und mit Revolvern und Bomben gegen die Kaiser und Könige vorgeht. Alle Anarchisten werden hingerichtet oder nehmen sonst ein schlimmes Ende, das mußt du dir merken.« Der Mitesser war heraus, und er richtete nun die Augen aufmerksam auf mich. »Komm mal her«, sagte er, »ich will deine Hände ansehen und dir in die Augen gucken. Ich werde dir dann sagen, ob du wirklich ein Anarchist bist, und was für ein Ende du nimmst.«
Mit wichtiger Miene betrachtete er meine Hand, dann starrte er mir in die Augen, und nachher blickte er lange schweigend aus dem Fenster, die Hände im Schoß und mit einem Fuß irgendeinen Takt klopfend.
»Tja«, machte er dann sehr ernst, »also etwas los ist mit dir, das steht fest. Du hast sehr tiefe Löcher in den Augen, und deine Finger sind lang. Ich will nicht sagen, daß es mit dir schief gehen wird. Du gehst mit offenen Händen; Diebe machen immer die Finger zu, verstehst du. Aber so etwas Anarchistisches ist schon an dir, da hat die Frau Mutter sogar recht. Ich werde dir jetzt einmal vierzehn Tage lang zusehen und dir dann ganz genau sagen, wie es bei dir steht. Es gibt zu denken, daß du die Höheren herausforderst, und das ist Auflehnung. So arme Leute wie du und ich müssen sich unterordnen, ein für allemal. In Demutt muß man sich demütigen mit zwei t; das ist ein weiser Mann, der das gefunden hat.«
Er sprach nun noch vieles über das Thema. Dann ging er dazu über, mir zu erklären, daß der Heilige Geist ihn zu ermahnen beginne, sich hier als Seminarist zu melden, um nachher mit dem Zeugnis der Armut in die Welt hinauszugehen. Und da ich doch so klug und ein guter Schüler sei, so solle ich ihn zum Eintrittsexamen vorbereiten, was ich ganz bestimmt könne, wenn ich nur wolle. Er versprach mir eine Geige, wenn ich ihm den Dienst tue, und er wolle immer für mich beten.
Nach einem gewissen ersten Aufgrünen meines Lebens bis etwa zu meinem zwölften Jahr war ich in ein trübes, ziemlich kahles Vegetieren hineingekommen. Mein ganzes Sein und Tun außerhalb des Phantasiebereichs vollzog sich selbst zu Obrists Zeit unter dem Gesichtspunkt der Pflicht. Ich war ein genauer, zuverlässiger Schüler geworden, aber die Schule machte mir außer dem Rechnen keine Freude mehr. Das Rechnen liebte ich, weil es nichts mit Moral zu tun hatte, weil es mich mit keiner Person oder Gewalt verband, die unerfüllbare Ansprüche an mich stellte oder unverständliche Erwartungen auf mich setzte. Ein Dezimalbruch ist ein Dezimalbruch. Man löst ihn und bleibt niemand etwas schuldig. Die Geschichte enthält schon Grundsätze, die wir nicht mit aufgestellt haben. Sie erheben sich zuerst unvermerkt aus Daten und Geschehnissen, durch die wir vertrauensvoll und neugierig gemacht werden sollen, um dann plötzlich riesengroß dazustehen und uns in Bann zu schlagen. Seitdem ich mit Geschichte zum erstenmal zusammengestoßen war, flößte sie mir Widerstreben und Abneigung ein. Die Römer waren mir gleichgültig, und wenn sie mir lästig wurden, so haßte ich sie. Für das Wesen der Griechen hatte ich überhaupt kein Verständnis; was ich aus ihren Taten und Leistungen lernen sollte, das ging mir nicht im mindesten ein. Die anderen Knaben begeisterten sich für Achill oder Hektor. Im ersteren sah ich nur einen ins Riesengroße projizierten Raufbold, und Hektor erschien mir irgendwie lächerlich und ärgerlich; ich schämte mich immer ein bißchen, wenn ich ihn im Vergleich zu Achill sympathisch fand. Ich konnte das alles nicht verstehen; ich sah keinen Sinn darin. Das wurde auch nicht besser mit der Völkerwanderung, obwohl ich witterte, daß hier irgend etwas auf mich lauerte, das mich vielleicht anging, aber ich konnte es nicht finden, und der Lehrer war weit davon entfernt, es mir zu zeigen. Mit wachsender Unbefriedigung stieg ich nun, Jahreszahlen und Kaisertafeln auswendig lernend, durch die Jahrhunderte herauf, nahm mit stummem Trotz und mit Wehmut Kenntnis von der Einführung des Christentums, bezweifelte den Missionaren ihre Verdienste, war aus ganzem Herzen gegen Karl den Großen, der die Sachsen mit dem Schwert in die Taufe trieb, dann für Friedrich II. und gegen den Papst, und statt an der Mißbilligung gegen Friedrichs geheimes Heidentum teilzunehmen, umgab diese Tatsache in meinen Augen den gebannten Kaiser mit einer wunderbaren Gloriole. Ich haßte die Spanier in Mexiko, und da hatte ich viele Mitgänger, begeisterte mich für die Indianer in ihren Kämpfen gegen die Weißen, wenn ich auch ihr Pathos, wie es mir aus Coopers Lederstrumpf entgegentönte, ein bißchen verachtete, genau so, wie mir die ersten Christen zu Neros Zeit leicht ein Unbehagen bereiteten, gegen das ich umsonst kämpfte, da ich eigentlich bereit war, sie zu bewundern. Irgend etwas leicht Verlogenes, Verunreinigtes, absichtsvoll Unwahres war es, was mich auf allen Spuren der Geschichte beunruhigte. Ich will mich wirklich nicht damit brüsten, diesen Grund etwa schon eingesehen zu haben. Ich sah gar nichts ein, ich lernte auswendig, was mir vor die Augen kam. Man mußte mich nur ein wenig schütteln, so prasselte es um mich von Jahreszahlen und Triumviraten, wie von erfrorenen Zwetschen um einen Zwetschenbaum. Die Schlacht von Cannä und was Alexander im Jahre 356 in Pella getan hatte – er hatte sich zur Welt bringen lassen –, wußte ich so genau, als wäre ich dabeigewesen. Aber wie eine Schlacht zum Beispiel gemacht wurde, wie ein Schiff damals aussah, was Rom für ein Lokal war, von alldem hatte ich keinen Schimmer. Es war, als hätte sich die ganze Geschichte nur in der leeren Luft und zum Teil auf Papier zum Auswendiglernen abgespielt. Alexander war der gleiche käsige Schemen wie Cäsar, und Athen konnte man genau so ins Taschentuch schnauben und davontragen wie Paris oder Moskau; es war nur Drüseninhalt.
Dafür störte einen im weiten Rußland, wenn man die dortige Geographie zu lernen hatte, weit und breit kein Mensch und kein Datum. Die Städte waren nichts als kleine Kreise mit beigedruckten Namen und die Gebirge vielbeinige kriechende Raupen, die nicht von der Stelle kamen und die man an ihrem Ort zum Eintrocknen gebracht hatte. Völker wohnten offenbar nicht in den räumigen Provinzen, wenigstens hörte man nichts davon. Tiere gab es nicht einmal in Norddeutschland, das doch schon ziemlich nahe lag. Vielleicht wäre es für mich ein Glück gewesen, zu erfahren, wie die Leute in Tibet sich kleideten, und wie sie lebten; mit fünf Worten war das nebenher zu sagen, und dann war man in Lhasa ein bißchen daheim. Aber außer dem Kreis Säckingen war die Welt wohl ein Loch, eine weite, gestaltlose Papierwüste. Im übrigen: »Konstanz liegt am Bodensee, wer's nit glaubt, kann selbst hingeh'.« Alle Städte, Flüsse, Nebenflüsse und Gebirge wußte ich so genau, als wären sie mir auf den Leib geschrieben, wie die Rolle einer Schauspielerin, und ich darf dabei nicht einmal sagen, daß es mich viel nach jenen außergeographischen Bezügen verlangte. Ich ahnte nichts von ihnen, glaubte all die Namen wie die christliche Lehre, schleppte halb verwundert wie eine geheime Sündigkeit die dumpfe Stubenluft in meinem Schädel durch die Vierteljahre und war noch stolz auf mein Wissen.
Nicht zu sprechen von der biblischen Geschichte, von den Religionsübungen und von den christlichen Memorierstunden! Ich sah von fern zu, wie ich immer mehr zum Lippenbekenner herabsank, konnte nichts dagegen tun, sowenig wie gegen mein Nasenbluten, das mich damals häufig überfiel, und gewärtigte sorgenvoll das Eintreffen des Fluches, der auf das Lippenbekenntnis ganz besonders gelegt ist. Viel hatte ich mich um eine richtige Unterbringung jener hohen Ansprache als Anarchist in meinem Charakterbild bemüht. Zweifellos meinte die scharfe Frau diesen ungünstigen Zug damit, und ich war wenigstens froh, zu wissen, was ein Anarchist überhaupt ist. Den Fluch trug ich künftig wie eine schädliche Auszeichnung mit einer gewissen Verlegenheit und ganz ohne Hochmut. Hochmütig wäre ich gern auf meine Aufsätze gewesen, weil ich mein Geschriebenes wirklich für etwas Besonderes hielt, aber Herr Ruprecht tadelte es als unzutreffend, als nicht der Wirklichkeit und Wahrheit entsprechend, und betroffen erfuhr ich, daß man bloß schreiben durfte, was alle anderen bestätigen können. Das gelang mir aber nie oder nur selten, und so trug ich ungenügende Aufsatzzensuren davon. Auch meine Zeichnungen, die ich außer der Schulstunde anfertigte, wurden als lügenhaft oder übertrieben abgelehnt. Ich machte Berge, wie ich sie mir vorstellte, Ungeheuer, hohe Häuser, Schiffe und Palmen, und erregte viel lachendes Ärgernis mit meinen Sonnen und Monden, weil sie nie rund waren, und weil sie ihre Strahlen stets ungleich verteilten. Auch ich war verzweifelt darüber; Selbstgerechtigkeit lag mir immer fern. Selbst von meinem Klavierspiel wurde ich einmal aufgestört mit der Bemerkung: »So spielt man nicht Klavier!« Ich hatte mir einige Geläufigkeitsübungen ausgedacht, die mich ungeheuer interessierten, aber sie standen nicht im Zweigli und entsprachen auch noch nicht meiner Stufe. »Wenn du Unsinn treiben willst, so wird man dir das Klavierspiel überhaupt entziehen!« bedrohte man mich. Mein Baum wollte also an keinem Zweig blühen.
Nur in der Sprachlehre, die außer dem Rechnen Herr Johannes gab, kam ich durch die unbedingte Verehrung, die ich dem Lehrer entgegenbrachte, zu kargen Erfolgen, obwohl das Feld hart und stachlig war, aber wie durch ein Wunder gab ich fast immer die richtigen Antworten, denn wenn ich von einer Theorie nichts begriff, so war es die der Grammatik. Das heißt, wenn er sagte: Vorvergangenheit, so war mir alles klar; sobald ich aber hörte: Plusquamperfekt, so hatte ich ein Brett vor dem Kopf und mußte die richtige Antwort aus der Stellung der Frage erraten. Außerdem hielt ich mich noch ans Singen, wo wir es ebenfalls mit Herrn Johannes zu tun hatten, und wo ich eine vollkommen unbestrittene und auch stets anerkannte Herrschaft ausübte. Ich sang absolut sicher, taktfest und mit so viel Verständnis, daß ich an schwierigen Stellen manchmal den ganzen Chor führte; während ich frisch und warm vorausschrie, fühlten sich die anderen Stimmen mir tastend nach, bis nach der zehnten oder zwanzigsten Wiederholung die Sache fest saß. Einmal gelüstete es mich, meine Macht zu spüren; ich tat, als ob es mir langweilig wurde, und gähnte. Richtig vermißten die anderen, die Brüder einbegriffen, den Leithammel, und fielen um. Obwohl ich auf diese Folge gehofft hatte, tat es mir doch sofort leid, weil ich Herrn Johannes dadurch einen Verdruß verschaffte, und schuldbewußt sah ich nach ihm. Er klopfte ab. »Natürlich, Schattenhold hat gegähnt, und alles purzelt durcheinander!« sagte er ärgerlich. Ich senkte beschämt die Augen und sang durch den Rest der Stunde wie ein Erzengel. Im Singen vergaß ich meine Minderwertigkeit, das Trödelgeschäft zwischen mir und den höheren Mächten, meinen Ungnadestand und den frühen Anarchismus meines unbefriedigten Schweifens – etwas war nämlich wirklich daran – sowie das dürftige Philistertum meiner Lern- und Gehorsambeflissenheit. Vollends auf die Feste zu, wenn die alten, mächtigen Notentafeln aufgestellt wurden, die den ambrosianischen oder sonst einen ehrwürdigen Lobgesang enthielten, lebte ich auf einer heiteren und kaum noch bekümmerten Seinsebene über mir, ohne viel darüber nachzudenken, warum dieser gehobene Zustand hier zur Wirkung kam, während ich überall sonst damit nur Niederlagen erlitt. Wir hatten ein uraltes Lied in C-dur, das mit der Sekunde, also mit D anfing, mit Zwei, wie wir sagten; das schien mir der überhaupt erreichbare Höhepunkt der Sang- und Festlichkeit, und ich war unaussprechlich stolz und beglückt über diesen Anfang, der alle anderen bekannten Anfänge mit seiner geheimnisvollen Regellosigkeit in den Schatten stellte. Durch die nächste Zeit begann ich keines der Lieder, die ich komponierte, anders als mit der Sekunde. Sie wurde mir zum Wahrzeichen des Ungewöhnlichen, der Freiheit, des Ich inmitten des Alltags und des Du-Sollst, und wochenlang ging ich so eingebildet herum, als hätte ich es selber erfunden.
Aber noch ein anderes »D« existierte unter einigen von uns. Der Johannesbund lebte immer noch in der Form eines etwas obskuren Verschwörerklubs mit Kleiber als geistigem Oberhaupt. Man wußte eigentlich nicht, was man wollte; es war genug, daß man zusammenblieb und einander in der ungünstigen Meinung über das vorhandene Leben, über die Obrigkeit und Gott von Zeit zu Zeit bestärkte. Die Bibel, auf die wir uns stützten, war ein sogenanntes Sechstes Buch Mosis, das aus dem Umweg über einen Knecht vom Meierhof in unseren Besitz gekommen war. Niemand von uns wurde klug daraus, und das war auch nicht nötig. Unerläßlich war aber ein besonders charakterfestes Fluchen, Schwören und Lästern, worauf periodisch sorgfältige Examina stattfanden. Neue Mitglieder wurden nicht mehr aufgenommen. Ein pflichtgemäßer Hochmut herrschte unter uns und hielt das Trüppchen räudiger oder angesengter Ehrenmänner hinlänglich aufrecht, wenn der Blitz wieder einmal unter sie schlug. Kleiber allerdings genoß ein natürliches Ansehen als Ausnahmecharakter mit Recht, und ich behauptete meine Stellung als guter Kopf. Aber sonst befand ich mich in der richtigen Gesellschaft, um vielseitig aufgeklärt zu werden. Immerhin erfuhr ich hier etwas, während mir die offizielle Schule alles schuldig blieb. Richtig rechnen oder schreiben konnte keiner der Helden, aber sonst wußten sie alles, was sie nichts anging, und sie waren unermüdlich und großartig im Mitteilen.
Es kamen auch andere Dinge vor, aber die machten mich nicht neugierig; dazu hätte ich ihre Vollbringer doch mehr achten müssen. Streckenweise verdächtigten sie mich daher als Verräter und Mucker – Kleiber ausgeschlossen, der seit seinem Ausbruch wußte, wer ich war –, und hatten nicht ganz unrecht. Ich hatte wohl Zeiten, wo ich aufrichtig lästerte und Gottes Namen schändete, aber dann hörte ich wieder heimlich das Gras im Himmel wachsen, entwarf eine Geographie des Tausendjährigen Reiches nach der Apokalypse, oder zählte mit Eifer die Anzahl der Personen, die in den vier Evangelien vorkamen, weil ich einen mystischen Aufschluß davon erwartete. Ab und zu unternahm ich private Bußübungen in aller Stille, entzog mir Essen oder Schlaf, verwehrte mir einen geliebten Anblick, zum Beispiel »bestrafte« ich mich dadurch, daß ich einen ganzen Tag lang Herrn Johannes nicht ansehen durfte oder mir verbot, Klavier zu spielen. Gelang es mir, die Aufgabe zu erfüllen, so war ich nicht sehr beglückt, aber entschädigte mich durch einen geistlichen Hochmut, der mit dem gottlosen abwechselte. Mißlang es mir, so hatte ich mit Heine etwas Pläsier, kam mir aber doch sehr anfechtbar vor. Nur wenn ich mir vornahm, eine Woche lang den Namen Jesus nicht mit den anderen beim gemeinsamen Lesen oder Beten auszusprechen, drang ich lückenlos durch, aber wohl war mir dabei erst recht nicht, und am wenigsten wußte ich, was das eigentlich bedeuten sollte, ja, ich kam mir damit ein wenig dumm vor, und nur, weil ich nichts Besseres wußte, blieb ich dabei genau bis zur vorgesetzten Stunde.
Als schon alle neuen Zuzügler des Frühjahres angekommen zu sein schienen, tauchte plötzlich noch wie eine Mondelfe ein schönes Franzosenkind unter der Mädchenschar auf. Eines Abends – draußen schwamm die Welt in einem gewitterhaften Schwefelgoldglanz, aus dem es leise und glückhaft donnerte – saß sie im Eßsaal auf der Mädchenbank, lachend, frisch, klug, ungebändigt, und sah neugierig nach der Knabenseite hinüber. Ich war dies Jahr gerade hoch genug hinaufgerückt, um in ihrem Blickfeld zu sitzen. Als einer der ersten hatte ich sie bemerkt, und auf einen Moment standen unsere Augen fragend und freundlich aufeinander. Unwillkürlich lächelte auch ich. Ich wurde in der letzten Zeit viel wegen meines düsteren Blickes beredet, aber bei dem holden und herzerquickenden Anblick wurde es mir hell im Kopf und leicht ums Herz. Sie wandte sich gleich an ihre Nachbarinnen, um, wie ich wohl sah, über mich Nachrichten zu bekommen. Nun, ich kannte ja meinen Ruf hier. Ihre Augen wurden groß, und ihr Blick bekam einen verwunderten Ausdruck, während sie meine Figur noch einmal, jetzt mit sichtbarer Unruhe, überflog. Dann wurde der Herr Vater hereingetragen. Man erhob sich zum Beten, und das Essen nahm seinen Verlauf.
Ich blickte noch oft nach der neuen Lichtgestalt, aber sie sah nicht mehr her. Sie war wohl wenig jünger als ich, hatte, wie man nachher erfuhr, rasch hintereinander beide Eltern verloren, und war infolge irgendwelcher Beziehungen vielleicht bloß für einstweilen hierher untergebracht worden; sie nahm sich unter den anderen Weibern auch aus wie ein Paradiesvogel im Hühnerhof. Um ihre leichte, bewegliche Gestalt schwebten alle Reize der gesegneten Landschaft, aus der sie stammte. Auch ohne es zu wissen, sah ihr jeder sofort die Französin an; wer mehr Erfahrung hatte, wies sie dem Genfer See zu, dessen nördliches Ufer ihre Heimat war. Aber ihre Mutter stammte vom Züricher See. Unwillkürlich, während meine Augen immer wieder nach ihr gingen, dachte ich an meinen ersten Abend hier in der Anstalt, und die Empfindungen, die mich dabei überfallen hatten. Ich sah, wie ihr Gesicht ernster wurde, wie eine stille Trauer über ihre Haltung kam, als das Lied gesungen wurde – diesmal: »Wann krieg' ich mein Kleid, das mir ist bereit, vor Gott zu bestehn, und mit ihm zur Hochzeit des Lammes zu gehn?« – und wie während der Textverlesung und der Betrachtung die stumm mitdröhnende Hoffnungslosigkeit dieses Platzes sie zu erschüttern begann. Der Text aus 3. Mose 14 enthielt die Verordnung über die Aussätzigen, die Wiederaufnahme der ausgestoßenen Kranken, wenn sie gesund geworden waren, und die weitläufig beschriebenen Zeremonien und Opfer dabei, ein langes, unverständliches, gewichtiges Kapitel von siebenundfünfzig Versen, deren keiner uns geschenkt wurde. Es wurde wieder alles auf Gott und seine Weisheit bezogen, und wie immer blieb, für uns nichts übrig, als die Demut und die Ergebung in die absehbare Folge unserer Jahrzehnte. Diese Nacht träumte ich, daß ich den gichtbrüchigen alten Mann, der unser aller Schicksal war, überfiel und halt- und maßlos mißhandelte. Sein künstliches Gebiß sprang ihm aus dem Mund. Er schrie mit furchtbar dröhnender Stimme gellend und weltverlassen. Und schließlich warf ich mich wild aufweinend vor ihm nieder. Ich schluchzte zuerst siebenmal, dann elfmal, dann neunmal. Am anderen Tag ging ich herum wie ein Verurteilter und wagte den Herrn Vater nicht anzusehen. Ich bezweifelte und begrämte mich, wie ich es noch nie getan hatte, nicht so sehr wegen der Traumroheiten an sich, sondern weil meine erste Antwort auf den Liebreiz Marie Claudepierres eine wüste Haßentladung gegen einen immerhin ehrwürdigen Greis gewesen war.
Acht Tage später – ich stand auf dem Zementboden und putzte Schuhe – kamen zwei kleine Weiber mit einem Korb voll zerrissener Mädchenstiefel, die sie in der Schusterei abliefern sollten. Die eine trug die braune Anstaltstracht, die andere Schwarz. Die Schwarze war Marie. Scherzend strebten sie von der Wendeltreppe der Schusterei zu, aber plötzlich bemerkte Marie mich, und wie unwillkürlich blieb sie stehen und betrachtete mich wieder mit ihren fragenden Blicken. Ich hatte Schuh und Bürste sinken lassen und sah ihr mit leichtem Herzklopfen ebenfalls entgegen. Meine Schürze starrte vor Schuhschmiere und Wichse. Auch die Jacke glänzte fettig bis über die Ellbogen hinaus. Aber daran dachte ich erst hinterher. Sie war in der Nähe noch schöner, als es mir von weitem geschienen hatte; vor allem war sie heller und gütiger, und ihr Mut schien keine Grenzen zu haben. Eben war es, als wollte sie mich anreden, da wurde hinter der Tür des Andachtsaales das Räuspern der Frau Mutter hörbar, und der Griff der Falle ging herunter. »Komm schnell«, sagte die Braune hastig und zog Marie, die widerstrebend gehorchte, mit dem Korb weiter. Die Frau Mutter mußte noch Maries letzten Blick nach mir und meinen antwortenden aufgefangen haben, aber wider Erwarten sagte sie nichts dazu. Ohne mich weiter zu beachten, folgte sie den Mädchen, um die Ablieferung und nebenher den Schuster zu überwachen, damit nichts vorfiel, was nicht zur Sache gehörte. Aber als alle wieder gegangen waren – ich hatte noch einen verstohlen leuchtenden, übermütigen Streifblick von Marie erhalten – und ich eben umständliche Betrachtungen über ihre Vorzüge anstellen wollte, bemerkte ich auf dem Boden ein Blättchen Papier, das vorher nicht dagelegen hatte. Schon ahnungsvoll angeregt ging ich darauf zu, hob es auf und entfaltete es. Es enthielt folgende Worte: »Warum machst du nicht Frieden mit dem Herrn Vater?« Ein Name stand nicht darunter, auch die andere Seite enthielt keine weiteren Hinweise. Ich las die Worte zum zweiten- und drittenmal und legte das Blättchen zwischen zwei Seiten eines Buches, in dem ich heimlich nebenher las; es war die Jugendgeschichte von Thomas Platter, die ich sehr liebte, weil sie den Werdegang und Aufstieg eines armen Jungen beschrieb. Nachher brachte ich den Zettel in den Erinnerungen des Missionars Doktor Krapf unter, einem Buch, das ich von meinem Vater her besaß, und das mein teuerster Besitz war, den ich nie in andere Hände gab.
Wir hatten hier ja auch schon schöne Mädchen gehabt, aber sie waren nur noch größere Muckerinnen gewesen als die anderen, und hatten ihre Schönheit dazu benutzt, um sich Liebkind bei der Obrigkeit zu machen. Davon war bei Marie nicht die Rede, im Gegenteil sah man, daß seit ihrem Auftreten an diesem Platz ein neuer Zug in die Weiber kam. Nachdem man sie früher kaum gehört hatte, selbst wenn sie spielten, gab es jetzt Mittagstunden, wo es beinahe toll zuging auf dem Kiesrechteck vor dem Haus. Ein Gelächter jagte das andere. Neue Spiele erschienen auf dem Plan, die man noch nie gesehen hatte, und denen die Lehrerin zuerst gegenüberstand wie die Henne dem Teich, auf dem ihre Küken schwimmen. Zum Glück fand dieser Umschwung an ihr trotz ihrer Bigotterie keine Spielverderberin, und in den deutschen und sogar französischen Reigen, die nacheinander aufklangen, sang sie schließlich gottergeben mit. Sie war eine Person mit einem sozusagen ständig über sich und andere verwunderten Schwergewicht, ziemlich massigen Gliedern, langsamen Bewegungen, wasserblauen Augen, die ständig zu bitten schienen: »Macht bloß keine Ungezogenheiten um Gottes willen!«, einem kleinen, rötlichen Kützchen von zusammengewundenem Haar auf dem Wirbel, und wenn sie abends ihre Zähne putzte, so putzte sie ebensoviel Lücken mit. Sie ließ sich Jungfer Rosalie nennen, mit dem Nachdruck auf der zweiten Silbe, und sie und alle Mädchen brachen bei jedem unerwarteten Vorkommnis einstimmig in den Ruf »Biiiih!« aus. Es sollte ursprünglich heißen: »Ich bi–tte dich!« aber die Mehrzahl der Laute blieb an den Zahnstummeln der Respektsperson hängen, und nun redeten auch alle Mädchen, als ob sie bloß Stummeln im Mund hätten.
Allmählich hörte man von Spannungen mit der Frau Mutter, die gegen den neuen Geist einen wachsamen Krieg eröffnete. Es sollten die althergebrachten Spiele getrieben werden; die neuen verfolgte sie als jungenhaft und wild und die Reigen als leichtfertig. Die Mädchen schmollten, und wenn sie die hohe Frau aus Hörweite glaubten, so fingen sie doch wieder mit den neuen Sachen an. Schließlich wurde Marie hart angelassen und fand an der Jungfer eine Fürsprecherin. Am nächsten Mittag spielten die Mädchen überhaupt nicht. Es stellte sich heraus, daß Marie der Kopf auch dieser Demonstration war. Jetzt sollte sie Strafe erleiden, aber Jungfer Rosalie, nun die wahre Mutter der Waisenschar und mit Marie wieder jung geworden, machte eine Kabinettfrage daraus. Das alles erfuhren wir aus dritter Hand, als der Sturm schon vorbei war. Die Frau Mutter, die bei der Bewegungsunfähigkeit ihres Mannes hier auch als Hüterin des Anstands waltete – beim Essen mußten alle Jungenhände auf dem Tisch liegen; sie war eine abgesagte Feindin unserer Hosensäcke, und das Bockspringen war uns ebenfalls aus Anstandsgründen verboten –, überlegte es sich drei Tage lang, und fand dann – wahrscheinlich auch ein wenig unter der Beeinflussung ihrer männlichen Umgebung – die Verantwortung für den Verlust einer sonst so brauchbaren Person, wie es Jungfer Rosalie war, zu groß. Die neuen Spiele behaupteten den Platz, und das zählte zu den unerhörtesten Vorgängen, die überhaupt erlebt worden waren. Marie wurde zur Heldin des Tages. Ich prägte damals das Wort: »Der heilige Georg hat den Drachen erschlagen. Das ist noch nichts. Marie Claudepierre hat die Frau Mutter überwunden.« Das Wort ging von Mund zu Mund; Herr Bunziker, unser dritter Lehrer, sprach mich daraufhin an und lachte gewaltig. Einen Tag lang war ich auch wieder einmal ein Held.
Aber nachdem einmal das Eis bei den Mädchen gebrochen war, gab es kein Halten mehr. Die chinesische Mauer, die sie bisher von uns und der ganzen übrigen Welt abgeschlossen hatte, schwand in dem nassen Vorsommer, als ob sie aus Salz gewesen wäre. Nach dem Ablauf des ersten Monats hatten sie ihren Bewegungskreis über die ganze Hofweite ausgedehnt. Jungfer Rosalie gluckerte von Anfang ein bißchen hinterher und machte mit ihren wasserblauen, verwunderten Augen Vorstellungen, denn da sie immerhin die Verantwortung dafür übernehmen mußte, daß tatsächlich keine Zusammenkünfte mit Knaben stattfanden, so hatte sie nun viel zu laufen und wenig Vergnügen. Wo die Mädchen spielen wollten, da scheuchte sie uns weg, und bald waren wir nicht mehr Herren in unserem eigenen Hof. Mit stummem Staunen wohnten wir anfänglich diesem Umschwung bei; dann fuhr er uns selber in die Knochen. Bald schwebte mittags über dem Raum zwischen dem Schloß, dem Tor und dem Mühlenbach ein neuer, bisher völlig unbekannter Ton der Lebensvergnügtheit. Durch die Hallen des Wagenschuppens klang mit dem Gezirpe der Schwalben das Gezwitscher unserer bisher so verachteten Schicksalsgenossinnen, und manchmal auch ihr herzhaftes Geschrei und Gelächter. Wer hatte hier bisher ein Mädchen über die Bänke zwischen den Kastanien springen sehen? Das war jetzt der regelrechte Weg aus den Verstecken zum Sammelplatz vor dem Schloß. Sie sprangen wie die Gazellen, Marie immer am kühnsten und am anmutigsten.
Schließlich brachen sie in die Ställe ein. Neben Fritz, dem Anstaltspferd, und den Kühen hatten wir einen blinden Esel und einige Schafe, alle genau dieselben Höhlenbewohner wie wir. Niemand kam in die Ställe zu den Tieren, als wer hinkommandiert war. Von den Mädchen hatte bisher noch keines überhaupt auch nur die Schwelle mit der Fußspitze berührt; das Betreten eines Stalles durch weibliche Personen galt unausgesprochen als ein unzüchtiger Akt. Eines Tages beschloß Marie, die Tiere zu sehen, und hing sich der Lehrerin an, damit sie die kleine Weiberbande, die sich um sie gebildet hatte, hin begleitete; das lehnte Jungfer Rosalie aber entsetzt ab. Dann steckte sie sich hinter die Küchenmagd, damit sie mit Siegrist, dem Knecht, spreche. Als ihr das zu lange dauerte, fing sie den Alten selber ab. Der sah das schöne Kind zuerst groß an und schwieg verwundert. »Tja, da ist der Stall«, sagte er dann. »Macht, was ihr wollt. Nur treibt mir keinen Unfug.« Niemand hatte ihm das zugetraut. Zufällig stand ich in der Nähe, als sich dies neue Wunder abspielte. »Wieviel Schönes und Gutes es doch gibt!« ging es mir ungefähr durch den Kopf. Ich regte mich nicht, sah aber gespannt zu, was weiter geschehen werde.
Wie eine Windsbraut stob die Bande nach dem Stall. Dort hielt Marie sie auf. »Jetzt ganz ruhig!« mahnte sie erfahren. »Sonst machen wir die Tiere scheu.« Dann ging die Tür auf. Die Schafe blökten. Bald darauf kam Marie mit dem alten Esel heraus. »Du armes Tierchen!« hörte ich sie eifrig bedauern. »Gar niemand kümmert sich um dich. Und es ist überhaupt nicht wahr, daß du dumm bist. Sogar sehr klug siehst du aus. Die Menschen sind dumm, nicht du.« Das blinde Tier schnupperte in die Luft. Die Sonne schien. Die Schwalben schossen pfeifend am Tor vorbei. Bunte Schmetterlinge gaukelten herum wie betrunken, plötzlich streckte der Esel den Hals und stieß ein lautes, erregtes Geschrei aus: »I–ah! I–ah! I–ah!«, daß der ganze Hof davon widerhallte. Halb klang es sehnsuchtswild, halb freudig erregt. Ich verharrte gebannt. Darauf warf er sich zu Boden und wälzte sich in der Sonne dankbar und angelegentlich auf dem Rücken. Marie stand mit glänzenden Augen dabei. Auf einmal bemerkte sie mich. Einen Moment hielten wir äugend einander gegenüber. Dann winkte sie mir mit dem Kopf, näher zu treten. Der forschende Ausdruck war wieder in ihrem Blick.
»Du, warum gehst du nicht zum Herrn Vater?« stellte sie mich zur Rede. »Nicht einmal geantwortet hast du mir. Was bist du denn für einer?«
Sie betrachtete mich mit leichtem Stirnrunzeln und etwas unzufrieden, aber um ihre Lippen und in der Tiefe ihrer Augen spielte irgendein übermütiges Lächeln. Ich schwieg einen Augenblick. Dann besann ich mich auf meine Verpflichtungen als Johannesbündler.
»Ich – habe beim Herrn Vater nichts zu tun«, versetzte ich spröde. »Wenn er mich will, kann er mich holen lassen.«
Sie zog die feinen Brauen ein bißchen hoch.
»Soll ich ihm denn sagen, daß du bereust?« fragte sie verwundert. Sie war an meiner Stelle bei ihm Vorleserin geworden.
Ich schüttelte den Kopf. Unschlüssig und auch etwas enttäuscht wandte ich mich ab. Ich wußte nicht, sollte ich gehen oder noch auf etwas Besseres warten. Aber sie schien einen Begriff von meiner Verfassung zu haben. Rasch trat sie mir näher.
»Du, ich will dir nicht Bekehrung predigen, das mußt du nicht von mir denken«, sagte sie sehr ernst. »Aber ich will, daß es hier lustiger wird. – Ich habe viel von dir gehört. Früher warst du anders. – Wir wollen uns etwas zum Geburtstag des Herrn Vaters ausdenken. Machst du mit?«
»Zuerst kommt bei uns Herr Johannes daran«, entgegnete ich bockig.
Sie lachte.
»Tu dich nur nicht so wichtig. Alle geht ihr herum, als wenn ihr Essig getrunken hättet.« Noch einen Moment betrachtete sie mich mit blitzenden Augen; halb war sie auch zornig über mich. »Es ist gut, zuerst euer Herr Johannes. Ein Wunder, daß ihr wenigstens den gelten laßt. – Rede mit den andern, und schreibe mir dann.«
»Wenn ihr sicher bei uns mittut«, mißtraute ich noch.
»Wir sind lustige Mädchen. Wir haben keinen Essig getrunken.«
»Aber Tinte«, sagte ich plötzlich eifersüchtig. »Ihr spielt die Wohlerzogenen beim Herrn Vater.«
»Seh' ich so aus, du Affe?« fragte sie erstaunt und in beleidigtem Ton. Die Röte stieg ihr in die Wangen.
»Du nicht«, lenkte ich ein. »Aber die anderen.«
»Gut, daß du das sagst«, besänftigte sie sich. »Mir soll hier keiner Muckerei nachreden. Aber wie ihr's treibt, das ist erst recht dumm. Weshalb verderbt ihr euch alles? Ist denn das angenehm?«
Ich mußte über die offene Verwunderung ihrer Frage lachen.
»Nein, angenehm ist es nicht«, gab ich zu. »Aber man hat uns auch danach angefaßt.«
»Wenn man fröhlich ist und das Rechte tut, ist alles nur halb so schlimm«, bemerkte sie freundlich im Ton des Selbstvertrauens. Ihre Augen lächelten wieder.
Die anderen Mädchen kamen jetzt aus dem Stall heraus. Dazu begann die halbe Hausgemeinde um uns und den Esel zusammenzulaufen. Er lag jetzt ganz behaglich auf dem Rücken, alle viere in der Luft, und ab und zu stieß er einen schnaufenden oder grunzenden Ton aus. Die Sonne beschien seinen abgescheuerten alten Bauch und die mageren Rippen, während er mit den blinden Augen und den vergnügten langen Ohren halb aufmerksam, halb träumerisch auf die Versammlung um ihn herum lauschte. Es war für alle ein großes Ereignis. Aus dem Stall blökten die Schafe; sie wollten auch heraus. Erwachsene stießen jetzt zu uns, zuerst einige Brüder. Die nahmen sofort eine Stellung ein wie die Jünger, als die Frauen die Kinder zu Jesus brachten. Aber von ihnen ließen wir uns schon lange nichts mehr sagen. Es gab einen richtigen Streit, ja, ein großes Gezänke erhob sich um das Tier. In diesem Moment langte Herr Johannes auf dem Platz an.
»Was ist denn hier los?« fragte er verwundert.
Sofort gab man ihm Raum. Der Senior erstattete erbost Bericht. Herr Johannes hörte schweigend zu und überging dann die ganze Gesellschaft mit den Augen.
»Wer hat denn das Tier herausgelassen?« fragte er.
»Ich«, sagte Marie.
»Und wer hat es dir erlaubt?« forschte er weiter.
»Der Knecht Siegrist.«
»Sieh mal an, den hast du auch schon im Garn?« Seine Brille funkelte wieder. »Ja, wenn es der Knecht Siegrist erlaubt, dann können wir alle nichts dagegen tun. – Soll das jetzt jeden Tag so sein?« fragte er noch halb verlegen, wenigstens tönte es so, wenn er es sicher auch nur spielte.
»Bloß, wenn die Sonne so schön scheint«, bat Marie errötend und schüchtern.
»Wir wollen mit dem Knecht Siegrist sprechen«, entschied er sich. »Für heute bringt den Hans wieder an seinen Ort; es wird ohnehin gleich läuten. – Ihr«, wandte er sich an uns Jungen, »habt heute nach dem Kaffee keine Freizeit, weil ihr gegen die Brüder frech wurdet. – Und ihr«, sagte er zu diesen, »könnt Gescheiteres tun, als mit denen da Zank anfangen. Wir werden in der nächsten Pädagogikstunde repetieren, wie man sich Achtung bei Kindern verschafft. Geht jetzt an eure Arbeit.«
Die erste Unterrichtstunde in der oberen Klasse hatte er zu geben; es war Rechnen, und es herrschte nun eine geheime Festlichkeit, ein liebenswertes Einverständnis unter uns. Er war nicht weniger genau als sonst, aber er gab heute dem so verhaßten kaufmännischen Rechnen mit Elle, Gros und Ballen eine neue Form, kleidete jede Aufgabe in ein kurzes, spannendes oder komisches Beispiel, und erlebte heute nicht eine Fehllösung. Wir aber erfuhren nebenher, wie es beim praktischen Gebrauch dieser Rechnungen zugeht, und bekamen einen Begriff von der Geistesverfassung, sogar von der äußeren Umwelt des Kaufmännischen. Es wurde daraus eine der spannendsten, unterhaltendsten und fruchtbarsten Schulstunden, die ich überhaupt erlebt habe. Untersuchte ich ihr Licht genauer, so ging es wieder auf Marie zurück. Wenn nämlich Herr Johannes schmunzelnd sagte: »Sieh mal an, den hast du auch schon im Garn?«, so hieß das, daß er bereits selber darein geraten war und sich darin nicht unglücklich fand. Und wer fühlte sich nicht sonst von ihrem Liebreiz und ihrer gesunden, gerechten Fröhlichkeit bezaubert! Der zweite Lehrer, der dritte Lehrer, die Mägde, die Handwerker, ja selbst der Herr Vater, wie man hörte, alle sahen, daß sie einen Strahl von dieser Sonne auf ihre Blumentöpfe ableiteten. Wer irgend konnte und es sich getraute, suchte seine Sprachkenntnisse hervor, um sie an ihrer schnellen, hüpfenden Redeweise zu galvanisieren und wieder zum Knistern zu bringen. Manchmal gefiel es Herrn Johannes, mit ihr ein bißchen gegen uns Partei zu bilden, indem er zu ihr auf Französisch eine Bemerkung über uns oder einen von uns machte.
Aber einmal machte er eine über sie zu mir. Es war in der vielgefürchteten Sprachlehre, dem einzigen Fach, in dem es bei ihm Pfötchen gab. Er schlug nie heftig. Es war vielleicht im Grund nur eine etwas schmerzhaste Neckerei. Auch hieb er nicht mit dem Stock auf die flache Hand, sondern ließ den Sünder die fünf Fingerspitzen zusammennehmen, und da klopfte er ein bißchen oder auch ein wenig ernster drauf. Außerdem liebte er es, das Ohrläppchen umzudrehen, oder bei ganz krauser Laune gab es Nasenstüber. Nun war er bei der Bildung der Vorzukunft für das Zeitwort »lieben«, und hatte schon zwei Bänke hindurch lückenlos Pfötchen ausgeteilt. Die Sache näherte sich bedenklich Maries Platz, und ich hielt es für an der Zeit, ihr schnell schriftlich die Lösung zustecken zu lassen. Er fragte ruhig weiter, bis wirklich Marie mit verblüffender Sicherheit die richtige Antwort gab. Ein Weilchen betrachtete er sie schmunzelnd.
»Ich konnte euch Deutschen jetzt eine Rede darüber halten, daß euch das Franzosenkind alle beschämt«, sagte er dann zu uns. »Aber das wäre wahrscheinlich ungerecht, und ich kann mir mehr Spaß machen, wenn ich sie frage, mit welchem Kalb sie gepflügt hat. Laß uns einmal hören, Marie. Nun?«
Marie wurde rot.
»Schattenhold hat mir geholfen«, gestand sie freimütig.
»Auf welchem Weg?«
Sie brachte meinen Zettel hervor. Er las ihn.
»Ich würde sie nicht gefressen haben«, bemerkte er darauf zu mir. »Auch dies ist – welche Zeit?«
»Vorzukunft«, sagte ich unsicher.
»Sehr gut. Vorzukunft, das ist nämlich so eine Art von Naseweisheit. Denn sieh einmal: Auch ich würde an deiner Stelle geliebt haben, aber das ist noch kein Grund, einen alten Mann wie mich hintergehen zu wollen. Dafür bekommst du jetzt ein Pfötchen, und die Marie bekommt auch eins, weil sie dabei mitgetan hat. Ich würde euch nämlich nicht geliebt haben, sondern ich liebe euch Präsens. Aber der Herr stäupt nicht bloß jeden Sohn, den er aufnimmt, sondern auch die Töchter.«
Ich nahm mein Pfötchen entgegen. Da Herr Johannes einmal beim Improvisieren war, erhöhte er sie auf zwei mit der Bemerkung: »Wer lieben will, muß leiden!« Ich kam mir irgendwie öffentlich begutachtet und schon halb verlobt vor. Ob Marie mit ihrem Pfötchen auch so beglückt war, weiß ich nicht. Ich wagte für heute keine Unternehmung mehr nach ihrer Gegend, nicht einmal einen Blick.
Eines Morgens, als wir auf den Herrn Vater zu warten hatten, blätterte ich vor der Andacht so die Sprüche Salomonis durch, die ich sehr liebte, und ersah hintereinander drei Worte, die mir einen unerwarteten Eindruck machten. »Ein weiser Sohn ist seines Vaters Freude, aber ein törichter ist seiner Mutter Grämen«, stand am Anfang des zehnten Kapitels. Das zwölfte eröffnete sich mit dem Spruch: »Wer sich gern läßt strafen, der wird klug werden; wer aber ungestraft sein will, der bleibt ein Narr.« Und der Beginn des achtzehnten lautete so: »Wer sich absondert, der sucht, was ihn gelüstet, und setzt sich wider alles, was gut ist.« Gewiß hatte ich diese Worte vorher auch schon gelesen oder wenigstens gesehen, ohne daß sie mir besonders auffielen, aber nach der langen Dürre meiner Rechthaberei und bei dem lauen Regen des Menschlichen, unter den ich jetzt wieder geraten war, fand ich mich bereit für jeden guten, forthelfenden Zuspruch. Meine Gedanken gingen suchend weiter und kamen zum jungen Salomo, der zu Gott gesagt hatte: »Ich bin ein kleiner Knabe, weiß weder dies noch das«, und der dann um ein gehorsames Herz bat, um das Gute tun und gerecht richten zu können. Dies Verhalten schien dem meinen genau entgegengesetzt zu sein. Da war irgend etwas demütig Heiteres, bescheiden Frohes, an dem ich es hatte fehlen lassen. Immer hatte ich an meiner »Sünde« trotzend gerüttelt und mich eigenbrötlerisch auf meine Fehlbarkeit versteift. Jetzt bekam ich erst einen fernen, scheuen Begriff davon, was Sünde überhaupt war, daß es nur ganz wenige wirkliche Sünden gibt, die dann gleich unsühnbar sind, und daß mein Vergehen lediglich in meinem geistigen Hochmut bestand und in einer Verblendung der Gedanken, nicht richtig erkennen zu können. Mit einer heilig milden Betroffenheit verließ ich heute den Andachtsaal, ohne für diesmal viel von dem gehört zu haben, was der Herr Vater sagte.
Das schlüssigste und hellste Wort aber – da ich doch einmal wieder den Überfällen des Geistes ausgesetzt war – erreichte mich unter Maries Blicken bei einer der nächsten Abendandachten, plötzlich, während ich ihren freien, klugen Kopf betrachtete, stand mir freudig die Ermahnung des Apostels vor den Augen: »Seid fröhlich in Hoffnung, geduldig in Trübsal, haltet an im Gebet.« Das war wie ein geheimnisvoller Zirkel, der mich jetzt aufnahm und sich um mich schloß. Tagelang ging ich umher in einer stillen inneren Festlichkeit, als ob ich mich darauf rüstete, Gott zu begegnen, so wenig ich gerade in jener Zeit an ihn oder an Christus dachte. Ein wunderbarer Zustand hatte mich ergriffen; das war alles. Eines Morgens nahm ich ein schönes Stück Zeichenpapier und malte mit Goldtinktur folgende Buchstaben darauf: »F. – G. – A.« Das hieß: »Fröhlich. Geduldig. Anhaltend.« Den Zettel heftete ich von innen mit Reißnägeln an meinen Pultdeckel. Immer nun, wenn ich das Pult öffnete, fiel mir der Zuruf des Apostels wie ein Vater- oder Freundeswort in die Augen.
Noch einige Tage ging ich umher mit diesem frohen Schreck über mich selber, und betrachtete noch einmal alles, so ehrlich und aufrichtig ich konnte. Ich brauchte jetzt keine weiteren Ermahnungen mehr, um wach zu werden; ich war es ganz. »Wer sich gern läßt strafen, der wird klug werden!« klang immer näher und überzeugender die Stimme des Weisen aus fernen Zeiten und Räumen zu mir her. Eine staunende Ergriffenheit erfaßte mich über dem Gedanken, daß dies Wort nach so vielen Hunderten, ja Tausenden von Jahren immer noch seine frische, lebendige Wahrheit behielt. Mir wurde ganz einfach und ehrfürchtig zumute ohne alle geistlichen Überklugheiten. Eines Nachmittags nahm ich beim Aufseher Urlaub, um den Weg zum Herrn Vater anzutreten. Was mit mir geschehen würde, das würde geschehen. Nebenher war mir so, als ob ich dort außer ihm in einem neuen, weiteren Sinn mich selbst finden sollte, denn immerhin stammte ich aus protestantischem Geist, wenn auch aus katholischem Geblüt, und jetzt führte bei mir der Geist. Als ich nach so langer Zeit wieder allein vor der hohen, steilen Tür stand, bekam ich Herzklopfen. Durch die Flurfenster herein brach die Sonne in feierlichen Strahlen und teilte das weite, hallende Treppenhaus in Lichtschächte und breite, tiefe Schattenschläge.
Voll Bangnis und Kindesscheu klopfte ich an und trat ein.
Ich fand ihn wie immer allein in der Mitte des großen Zimmers. Mit seinen halbblinden Augen blickte er nach der Tür.
»Wer ist da?« fragte er, als ich reglos dastand und keinen Laut hervorbrachte. Noch einen Moment zauderte ich.
»Ich, Schattenhold«, sagte ich dann mit stockender Stimme.
Ein Augenblick verging, ehe er antwortete.
»Es ist gut, daß du den Weg wieder hierher findest«, bemerkte er. »Tritt näher. Was willst du?«
»Ich – will abbitten –!« brachte ich hervor. »Ich bereue, daß ich das damals mit den Kreuzen gemacht habe –!«
Er schwieg wieder, ja er schien mich beinahe zu vergessen. Wie suchend blickte er an mir vorbei in eine Ferne, in welcher er vielleicht eben verweilt hatte, und von der ich, das fühlte ich demütiglich, noch keine Ahnung hatte. Immer höher stieg diese neue, verstehende Achtung, die ich für ihn jetzt hegte, in meinem Gefühl.
»Weißt du, was du eigentlich mit diesen Kreuzen getan hast?« fragte er mich endlich. »Ich meine, kannst du mir heute sagen, was du im Grund damit ausdrücken wolltest?«
Ich dachte nach. Zu meiner großen Verwunderung war mir plötzlich alles unbegreiflich. Ich verstand nichts mehr, und fast erschrocken sagte ich: »Nein, ich weiß es nicht.«
Der Ton der Wahrhaftigkeit in dieser Aussage fiel auch mir auf. Er horchte flüchtig hin und senkte dann den Kopf. Nachdem er noch eine Weile denkend vor sich niedergesehen hatte, nahm er von neuem das Wort.
»Ich würde dir«, sagte er in freundlicherem Ton, »wenig darauf halten, wenn du aus Zerknirschtheit kämst, um dir mit der Abbitte wieder bessere Zeiten zu erkaufen. Aber man hat mir in den letzten Wochen Gutes über dich gesagt, und da fing ich an, auf dich zu warten.« Er faßte mich plötzlich voll in den Blick. »Ich träumte außerdem heute nacht von deiner Mutter. Sie stand da und forderte Rechenschaft von mir, was ich nun für dich getan hätte. Ich sagte: ›Das will ich Ihnen sagen, Frau Schattenhold –!‹ Aber dann besann ich mich ganz vergebens.«
Er verstummte wieder, und auch ich hatte nichts zu sagen. Ich stand da wie geblendet und halb betäubt. Ich fand ihn gealtert. Die Linien in seinem Gesicht waren tiefer geworden, und neue hatten sich eingegraben, die ich vorher nicht bemerkt hatte. Er kam mir vor, wie der Erzvater Jakob in seinem Unglück, und zum erstenmal ahnte ich von ferne, was es heißt, alt zu werden und dem Grab entgegenzugehen. Ganz andere Gedanken mußten es sein, die ein solcher Mann dachte, als die mich bewegten, andere Wünsche, andere Vorstellungen. Mir klopfte das Herz schnell und ängstlich. Bangend und in Furcht fragte ich mich, ob ich in seinen Tagen auch so groß und gerecht bestehen werde wie er. Hier roch es übrigens immer noch nach Büchern und kaltem Tabakrauch, und ein Spürchen seines geliebten Kölnischwassers schwebte dazwischen. Die ihn genauer kannten und ihm eine kleine Freude machen wollten, schickten ihm immer einmal ein Fläschchen.
»Hast du unterdessen in der Musik Fortschritte gemacht?« fragte er dann lächelnd. »Setz' dich ans Harmonium und spiele mir etwas vor. Kannst du einen Choral? Jesu, meine Freude? Ziehe die Flute, den Prinzipal und die Baßkoppel. Und spiele langsam.«
Wie träumend ging ich zum Harmonium. War dies derselbe Herr Vater, der meine Freunde Kleiber und Leuenberger hatte blutig schlagen lassen? Ich öffnete den Deckel, zog die angewiesenen Register und spielte. War ich befreit? War er befreit? Ich wußte es nicht. Geister durchschwebten die Stube, die früher nicht darin gewesen waren, und horchten mit auf meine Klänge. Wie erleuchtet empfand ich, daß Freiheit etwas ist, was aus weiten, tiefen Himmelsräumen hervorbricht und als Gnade über den Menschen kommt, wenn er vielleicht lange genug gekämpft hat.
»Nicht schlecht«, lobte er. »Einige Harmonien haben nicht ganz gestimmt. Ein musikalischer Mensch muß nämlich jedes Lied, das er hört, aus dem Kopf nach dem inneren Ohr richtig nachspielen können. Es gibt zuviel Leute, besonders Frauen, die auf dem Klavier von teuren Lehrern gedrillt werden, und können kein Volkslied nach dem Gehör vortragen. – Spiele jetzt den Choral, den du am meisten liebst.«
Ich brauchte mich nicht lange zu besinnen. Sofort begann ich in Es-dur nach dem württembergischen Gesangbuch den Choral: »Der Glaub' ist meines Lebens Ruh«, dessen warme und schöne Melodik es mir schon lange angetan hatte. Der Durchführungsteil enthält für das Spielen aus dem Kopf eine harmonische Falle, aber ich kam gut darüber hinweg.
»Das ist keine schlechte Wahl«, anerkannte er. »Und diesmal hast du auch rein gespielt. Sieh dir auch den anderen Choral noch einmal an. Anfang und Ende jeder Leistung ist das richtige Durchdenken. – Und jetzt wollen wir schreiben. Setz dich wieder an deinen Platz. Du wirst alles in der alten Ordnung finden. Nimm Papier und Feder. Und mach keine Fehler.«
Auch hier war der Raum voll Sonne und irdisch-überirdischem Glanz. Der Dompfaff, der mich gleich erkannt und mich schon lange angepiepst hatte, kam herbeigeflogen, sobald ich wieder an meinem Platz saß, um mir zuerst mit dem linken Auge und dann mit dem rechten zuzusehen. Darauf zupfte er an dem Blatt Papier, auf dem ich schrieb, rannte zum Tintenfaß, wenn ich die Feder eintauchte, flog zwitschernd auf und beschrieb einen Bogen durch das Zimmer, kam zurück und setzte sich mir auf den Kopf, wozu er aus vollem Hals pfiff: »Wer nur den lieben Gott läßt –!« Den Rest verschluckte er auch jetzt. Alle Bücher sahen feierlich und wohlwollend auf mich herab. Die Bilder Luthers und Ulrich Zwinglis schienen mich zu bewillkommnen; sogar Calvin schien geneigt zu sein, es noch einmal mit mir zu versuchen. Früher hatte ich sie gedankenlos betrachtet; heute begriff ich, daß sie große Männer gewesen waren, und daß ich nichts war. Das beruhigte mich und machte mich fröhlich. Mit dankbarer Genauigkeit schrieb ich nieder, was der Herr Vater mir diktierte. Es war eine Abhandlung über die Gnade, die heute manches für mich enthielt. Mir schien, mein Begriffsvermögen sei größer geworden, aber doch war ich zu scheu, um mich tiefer damit einzulassen. Bis gegen das Abendessen schrieb ich. Niemand wußte, wo ich geblieben war. Vom nächsten Tag an war ich vom Schuhputzen befreit.
Siegrist und das Pferd Fritz waren lange Zeit die unveränderlichen Originale bei uns gewesen. Sie galten als unzertrennlich, und man kannte oder dachte sie nur gleichzeitig. Siegrist, ein angehender Fünfziger, war vom christlichen Standpunkt aus betrachtet vielleicht der Unbotmäßigste von allen Hausgenossen. Beim Beten faltete er die Hände bloß, wenn es ihm paßte, und bei den Morgenandachten erschien er höchstens, wenn es draußen regnete oder es ihm zu kalt war. Diese Gelegenheit benutzte er, um noch ein Schläfchen, manchmal auch einen richtigen Schlaf zu machen, so daß sein Schnarchen oder Schnaufen sich wie Waldesrauschen durch die Predigt des Herrn Vaters zog. Dann versetzte ihm der zweite Knecht einen Rippenstoß, und auf ein paar Minuten hörte man bloß den Herrn Vater, worauf mit einem tiefbeseligten Schluchzen oder Glucksen das träumerische Gebläse im Winkel hinter uns wieder einsetzte. An einem Morgen herrschte draußen ein solcher Regensturm und gab sich Siegrist so ausschweifend seiner Andachtsinbrunst hin, daß der Herr Vater sich kaum zu Gehör brachte. Ich kam nachher gerade dazu, als die Kalamität besprochen wurde und der Herr Vater lachend zu Herrn Ruprecht bemerkte, so gehe das nicht weiter; etwas müsse geschehen. Als ich mich gemeldet hatte, fragte er mich, ob eigentlich die alten Orgelpfeifen noch auf dem Estrich existierten. Ich wußte es nicht und mußte nachsehen gehen. Nach einigem Suchen entdeckte ich in einer Kiste etwa zwanzig alte Zinnpfeifen. Ich probierte gleich einige von ihnen; sie tönten wie der Wind in Telegraphendrähten, und es gingen mir in der Eile eine ganze Menge Verwendungsmöglichkeiten durch den Kopf. Der Herr Vater vernahm meinen Bericht mit Zufriedenheit und beauftragte mich, am nächsten Morgen sechs blaskräftige Jungen mit je einer Orgelpfeife zu versehen. Sobald Siegrist schnarche und er mit der Predigt einhalte, sollten sie blasen, und damit solle so lange fortgefahren werden, bis das gute Gewissen gestört sei, auf dem Siegrist so ruhig schlummere.
Am nächsten Tag war immer noch schlechtes Wetter. Der Herr Vater begann zu sprechen, und Siegrist begann zu schnarchen. Der Herr Vater hielt ein, und wir setzten die Orgelpfeifen an, worauf sich ein greuliches Gesause und Geheul erhob. Die wenigsten der Hausgenossen hatten davon etwas gewußt. Bei den Mädchen schrien einige auf. Von Siegrist wurde nachher erzählt, er hätte verwundert die Augen geöffnet, einen Moment um sich gesehen und gehorcht und dann auf dem Stuhl eine noch bequemere Lage gesucht, um seine Andacht fortzusetzen. Wir bliesen diesen Morgen noch große Töne, auch am nächsten einige, aber als schließlich Siegrists Gebläse nach dem Absehen unseres Sturmes ungestört weitersauste, verzichtete der Herr Vater etwas ärgerlich lachend auf die Fortführung seiner verspäteten Erziehungsmühe, und für die Zukunft entband er ihn ausdrücklich von der Pflicht, die Andachten zu besuchen. Dazu sagte Siegrist nichts. Aber als es wieder regnete, erschien er wie immer an seinem Platz in der Andacht und begann zu schnaufen, sobald der Herr Vater zu predigen anfing. »Ich weiß gar nicht«, sagte er in seiner bedächtigen, brummigen Redeweise, als noch einmal die Sprache darauf kam, »was er eigentlich von mir will. Ich gehe gern in die Andachten und habe nur nicht immer Zeit. Man will doch auch schließlich in den Himmel kommen. Wozu ist sonst die Schinderei da unten?«
Die Andachten des Siegrist gaben auch zu einem anderen Zwischenspiel Anlaß. Der Herr Vater behandelte den Glauben. Jeder Lehrer weiß, daß es kaum ein Ding im Himmel und auf der Erde gibt, das einer begrifflichen Erfassung einen so tückischen Widerstand entgegensetzt wie der christliche Glaube. Draußen herrschte zweifelhaftes Wetter, aber es war dabei warm und wohlig. Nachdem verschiedene Versuche des Herrn Vaters an verschiedenen Subjekten gescheitert waren, griff er, um endlich die gewünschte Dämmerung in den Köpfen zu erzielen, zu einem anschaulichen Mittel. »Nun paß einmal auf«, sagte er zu dem Jungen, den er vor sich hatte. »Sieh nicht zurück. Draußen regnet es, und man kann vielleicht nichts auf dem Feld machen. Siegrist hat noch nicht geschnarcht, aber das kommt auch manchmal vor. Wird er nun bei dem Wetter in der Andacht sein?« Der Junge besann sich einen Moment. »Ich glaube«, erwog er. Der Herr Vater lächelte. »Gut«, sagte er. »Du glaubst. Ist nun das das Glauben, von dem wir hier sprechen oder ist es ein anderes Glauben?« Und damit war man plötzlich auf dem lange umsonst gesuchten Weg zum christlichen Glauben. Es blieb aber die ganze Stunde still in dem Wetterwinkel hinter uns, und Siegrist war in Wahrheit nicht dagewesen.
Ich sagte schon, daß auch das Pferd als Original betrachtet wurde. Fritz war das größte Tier seiner Art in der ganzen Gegend. Wir nannten es immer »das trojanische Pferd« oder »den Fritz von Troja«. Wenn der Herr Vater einmal nach Heinfelden fuhr, um dort eine Erbauungstunde abzuhalten, so lief er vor der alten, wackeligen Droschke so gnädig und gravitätisch, als hätte man ihn zum Spaß vor einen Kinderwagen gespannt. Wer aus der Gegend am Weg stand, und Fritz kam mit dem Kasten daher, Siegrist saß im Radmantel ernst und steif auf dem Bock, der grüßte auf jeden Fall, ob er jemand darin sah oder nicht, gerade so, wie wenn die Equipage des Großherzogs vorbeigefahren wäre mit einem galonierten Kutscher vorn und einem Diener hinten. Der Herr Vater war eine Respektsperson weit im Land herum. Ich bin aber überzeugt davon, daß nicht mehr halb soviel Leute gegrüßt hätten, sobald ein anderer Kutscher auf dem Bock und ein anderes gewöhnliches Pferd in der Deichsel mit der Droschke erschienen wäre.
Eines Tages hörte man aber folgende Geschichte. Der schon bekannte Bruder des Herrn Vaters und des Herrn Johannes, Elias vom Züricher See, hatte sich zum Besuch angesagt und sollte mit der Droschke durch Siegrist und Fritz vom Schweizer Bahnhof in Heinfelden abgeholt werden. Es war Sonnabend, und niemand hatte Zeit, mitzufahren. Nur die Magd Kathrin, ebenfalls eine alte Vertrauensperson des Hauses, die schon viele Sträuße mit der Frau Mutter ausgefochten hatte, und vor Marias Zeiten die einzige gewesen war, die sich nicht vor ihr fürchtete, mußte zum Zahnarzt, da sie vor Schmerzen nicht mehr wußte, wo sie bleiben sollte. Als Siegrist abfuhr, war sie schon vorausgegangen; die Droschke hatte sie zornmütig abgelehnt. Je weiter sie aber von der Anstalt wegkam, um so besser wurde es mit ihrem Zahn, und einen Büchsenschuß von der Meierei beim unteren Tor setzte sie sich auf einen Wegstein und sah sich die schöne Gegend an, von der sie ja die Woche hindurch wirklich wenig vor Augen kriegte. Dann kamen Fritz und Siegrist mit dem alten Kasten angewackelt, der ohne weiteres bei der Magd hielt und sie so selbstverständlich in seinem Innern aufnahm, als hätte sie noch nie jemand anderen gefahren. Aber damit noch nicht fertig, kam oben auf der Landstraße die Fahrt noch einmal zum Stehen, und Kathrin kletterte aus dem Kasten zu Siegrist auf den Bock, obwohl es dort doch zog, aber dafür waren nun die Felder der Anstalt zu Ende und brauchte man keine unerwünschten Beobachter zu fürchten. Wie die Folge zeigte, waren sie aber doch nicht ohne solche ausgekommen.
Indessen scheint nämlich nach dem zweiten Halt das Fahrzeug überhaupt nicht mehr richtig in Schwung geraten zu sein. An der Landstraße standen auch so hübsche Apfelbäume mit gekälkten Stämmen. Links glitzerte der Rhein. Rechts blickten fröhlich die Rebenhänge und der Wald herab. Die Sonne schien. Samstagsgefühle nahmen überhand. Fritz fand am Straßenrand grünes Gras und saftige Kräuter die Fülle. Und nachdem Herr Elias auf dem Bahnhof in Heinfelden eine Viertelstunde umsonst gewartet hatte, machte er sich mit einer dort gemieteten Droschke selbständig auf den Weg. Vor dem Städtchen begegneten sich dann die beiden Fuhrwerke und wechselten ohne große Erregungen die Fahrgäste aus. Herr Elias fuhr mit Siegrist nach Demutt zurück und Kathrin mit dem Stadtkutscher nach Heinfelden, wo sie zwar nicht den Zahnarzt aufsuchte, aber Verlobungskarten bestellte. Eine Woche später überraschten die neuesten Brautleute alle erwachsenen Personen der Anstalt mit der Nachricht, daß sie im Herrn einig geworden seien, miteinander in den heiligen Stand der Ehe zu treten. Siegrist hatte der Magd die Abfassung des Textes überlassen, und da sie nicht bloß eine fromme und unabhängige – sie hatte es vor Jahren Herrn Elias gegenüber bewiesen–, sondern auch eine gebildete Persönlichkeit war, so war die Anzeige zu dieser ungewohnten Form gekommen.
Am Abend nach dem Bekanntwerden der Jubelbotschaft bliesen wir noch einmal auf den Orgelpfeifen, aber diesmal ehrenhalber und harmonisch abgestimmt. Das Paar kaufte in der Nähe unter den Katholiken eine kleine Wirtschaft aus seinen Ersparnissen und fehlte in keiner Sonntagspredigt. Kathrin horchte dann aufmerksam und heilsbegierig auf die Worte des Herrn Vaters, und Siegrist nahm die Gelegenheit wahr, um den Weg zum Himmel, für den ihm die Geschäfte der Woche so wenig Zeit ließen, auf seine Weise wieder um ein Stückchen zu fördern, aber jetzt puffte ihn nicht mehr der zweite Knecht wach, sondern seine liebe Frau.
Das beste an der Geschichte schien mir aber die Erklärung Kathrins, daß ohne Marie Claudepierre vielleicht doch nichts daraus geworden wäre. Sie hatten sich schon lange gern gesehen und einander geärgert, wo sie konnten, ohne deshalb viel miteinander zu reden. Als nun aber Marie mit dem Anliegen wegen des Esels zu Kathrin um Vermittlung kam und Siegrist der Kathrin eine grobe Antwort gab, lief das Faß über, und nach drei Tagen voll verhaltener Wut fand sie, daß das nicht mehr auszuhalten sei. Aus der Aussprache, die sich dann entwickelte, ergab es sich, daß man vielleicht ganz gut ab und zu einander ein bißchen mehr als bisher das Wort gönnen könne, und die aufs höchste getriebene Spitze dieser neuen Gesprächigkeit war die Verlobung auf dem Bock der Droschke hinter dem Rücken der ganzen Anstalt und des braven Pferdes Fritz. Kathrin lohnte Marie das Ergebnis mit einem schönen großen Stück von ihrem Hochzeitskuchen, und nie kam sie sonntags zum Gottesdienst, ohne ihr irgend etwas mitzubringen. Aber Siegrist hielt darauf, immer wieder festzustellen, daß er den Esel herausgelassen habe, bevor Kathrin ihm über den Kopf gekommen sei. Auf diese Weise erhielt er sich seine Unabhängigkeit vom starken Geist seiner Frau.
Neben dieser Verlobungsgeschichte lief lange unbemerkt eine zweite einher. Seit ihrer Auflehnung gegen die Frau Mutter hatte der damals dritte Lehrer, Herr Bunziker, eine Auge auf die Jungfer Rosalie geworfen. Er war ein helläugiger, frommer, gerechter und innerlich unabhängiger Mann, der schon selber dies und jenes für die Gerechtigkeit hauptsächlich unsertwegen gewagt hatte. Die schöne Revolte des schweren alten Mädchens, wozu es durch Maries lichte Anmut erweckt worden war, und dann die mütterliche Beharrlichkeit auf dem guten neuen Weg machten ihm einen so ernstlichen Eindruck, daß er daraufhin auf geraden und auch auf krummen Pfaden eine Annäherung an sie anbahnte.
Als die einzige männliche Lehrkraft, die nicht zur Dynastie Cranach gehörte, hatte er eine etwas abseitige Stellung, aber als ehemaliges Demutter Pflegekind und gewesener Demutter Seminarist und Bruder lebte er geistig ebenso tief in der Tradition der Anstalt wie etwa sein Freund Ruprecht, der zweite Sohn des Herrn Vaters. Schwarz, sehnig, von mittlerer Größe, klug, lebhaft, sehr einfach trotz vieler Belange und Fähigkeiten, die über das Mittelmaß der Lehrer bei weitem hinausgingen, von fröhlichem Gemüt, sehr musikalisch – hatte er nur den einen Fehler, daß er furchtbar rauchte. Wenn man in seine Stube trat, so brummte einem zunächst aus ziehendem und in den Ecken ungeheuer geballtem Gewölk sein dröhnender Baß entgegen, ohne daß man etwas von ihm sah, einesteils vor Rauch, andernteils, weil einem zunächst die Augen übergingen. Über seinem Schreibtisch erhob sich ein phantastischer Burgbau von leeren Zigarrenkisten und Streichholzschachteln, die er kunstvoll zu Torwölbungen und Türmen aufrichtete. Die Architektur war ihm längst über den Kopf gewachsen, und wenn er noch eine Weile so weiter baute, so mußte er außerhalb seines Zimmers Platz nehmen, um zu rauchen und zu arbeiten. Er war ein guter Orgelspieler, aber an Herrn Johannes reichte er nicht heran. Dagegen machte er mehr mit der Geige, und oft hörte man sie aus dem hochschwebenden Fensterchen seiner Zelle im Torbau durch einen besonders schönen Abend oder eine Mondnacht wie eine Nachtigall schluchzen und werben, während Jungfer Rosalie hinter ihrer Gardine oder am offenen Fenster saß und darauf horchte. Außerdem sang er gern und herzhaft, überhaupt hatte seine Stimme etwas sehr Kräftigendes und Treues, etwas, das Vertrauen erweckte nicht bloß zu ihm, sondern auch dem, der sie hörte, zu sich selber.
Hier bereiteten sich aber Veränderungen vor, die schon tiefer in unser aller Dasein eingriffen, als es die Verlobung des Knechtes mit der Magd getan hatte. Als triebfroher, zielbewußter Mann, der er war, gab es für ihn bald keine ordentliche Unternehmung mehr, die er nicht unter dem Gesichtspunkt seiner Begeisterung für Jungfer Rosalie stellte. Doch nicht genug an den laufenden Gelegenheiten, erfand er auch noch neue dazu. Den ersten Begriff vom Ernst der Lage bekam ich auf einem sogenannten großen Spaziergang. Alljährlich im Juli wurde mit uns ein eintägiger Ausflug in die weitere Umgebung der Anstalt unternommen, entweder auf den Dinkelsberg nach fernen unbekannten Dörfern, ins Wiesental oder ins Wehratal. Dies Jahr führte uns Herr Bunziker ins Wehratal. Sonst war er bei gemeinsamen Ausflügen frisch mit der Spitze vorausgelaufen und hatte sich den ganzen Tag um die Weiber aller Altersgrade wenig bekümmert. Diesmal folgte er befehlshaberisch am Schwanz des ganzen Zuges in einem dichten Mädchentrupp Seite an Seite mit der Jungfer Rosalie, mit welcher er fraglos sehr heuchlerische und gespielt ehrenwerte Gespräche pflog. Die Unterhaltung ergab, aus der Ferne eingeschätzt, ein äußerst würdiges, besonnenes, aber verwickeltes und raffiniert weitblickendes Ansehen, und es war bei den Realisten unter uns bereits eine feststehende Tatsache, daß wir heute nicht viel von ihm zu fassen kriegen würden. Es war neuerlich auch solch eine ungewohnte und ganz unbequeme Überlegenheit an ihm. Man fand längst nicht mehr den guten Kameraden in seiner Gesellschaft, der er vorher manchen gewesen war. Er hielt mehr auf Hoheit, zog auf einmal eine Standesgrenze, eröffnete moralische Belehrungen, wo er früher mit einem raschen Witz oder einer wohlverdienten Tachtel die Sache geordnet hatte, kurz, er befand sich nach vielfachem Urteil in einer ungünstigen Entwicklungsperiode, und man wußte jetzt nicht, was aus ihm werden sollte. Die erste Stunde unseres Weges wurde daher ausgefüllt mit einer ausgedehnten verärgerten Maulerei und einer eifrigen Diskussion darüber, ob er jetzt auch solch einen Demutter Zwingherrn und Hochmutsgeist aus sich machen werde, wie man andere kennengelernt hatte, oder ob doch der gute Kern in ihm wieder die Oberhand gewinnen würde. Man hoffte in seinem eigenen Interesse das letztere.
Aber gerade ich war dazu ausersehen, seine Liebesgefühle heute noch heftig zu verletzen. Ich hatte überhaupt einen Unglückstag. Zuerst setzte ich mich auf ein Wespennest, und dann rutschte ich über eine Felsenplatte in die Wehra hinab. Die Wehra ist ein Bergflüßchen, das am Hochkopf im Schwarzwald entspringt und sich durch ein Felsental ungebärdig und lärmend zum Rhein durcharbeitet. Links von unserem Weg blitzten und schäumten die Wasser des Flusses. Rechts lag ein schmaler Streifen Wildgras. Dann stiegen schon die Felsen in die Höhe, auf denen ab und zu eine einzelne Tanne stand, oder durch deren zackige Lücken da und dort ein Stückchen Wald vorbrach. Über uns leuchtete der blaue Himmel, in dessen unendlichem Raum vielleicht ein Raubvogel kreiste. Man mußte hier drunten auf der Talsohle sehr laut sprechen, um verstanden zu werden. Wie wir uns aber nun so predigend dem Flüßchen nach aufwärts zogen, kam mich ein kleines Bedürfnis an; zudem hatte ich ja nasse Füße, und dergleichen soll wirken wie das Wasserziehen der Sonne im Gewölk. Den Mädchentroß hinter uns umsichtig bedenkend, denn ich war immer ein dezentes Gemüt gewesen, lief ich ein wenig voraus und schlug mich dann seitlich über den Grasstreifen zu einer Felswand, die mir einen guten Eindruck machte und mein Vertrauen erweckte. Eben war ich im besten Tun oder Lassen und hatte sonst nichts im Sinn, als ich plötzlich in großen, befremdenden Sprüngen neben meinem Schatten an der Felswand einen anderen, viel breiteren und höheren auftauchen sah, dessen Gegenstand sich in unverkennbarer Eile meinem Standort näherte. Verwundert blickte ich mich um, hatte aber kaum des Herrn Bunziker zornentflammtes Angesicht erkannt, als ich auch schon ein Sortiment von sechs oder acht rüstigen Ohrfeigen vereinnahmte und dazu seine in sittlicher Auflehnung bebende Stimme vernahm: »Du Schweinigel, schämst du dich nicht, vor allen Mädchen so da zu stehen?« Nun, ich hatte heute schon andere Jungen in ähnlicher Lebenslage bemerkt, ohne daß irgend jemand irgend etwas dabei gedacht hätte. Ganz verwirrt stand ich da und ließ alles über mich ergehen, und was ich vorher bloß dem ernsten Fels gezeigt hatte, das konnten nun infolge meiner Bestürzung schätzungsweise alle Hausgenossen zur scham- und gramvollen Kenntnis nehmen. Ein neuer Beweis dafür, daß blinder Eifer nur schadet.
Der Vorfall machte unter der Jungenschar sehr schlechten Eindruck. »Man muß jetzt den Schnellzug nehmen und nach Basel fahren, wenn man etwas nötig hat«, hieß es spöttisch. Aber es kam noch schlimmer. Die Jungfer Rosalie erklärte, müde zu sein, und Herr Bunziker bestimmte infolgedessen, daß man auf das eigentliche Ziel des Ausfluges, den Bärenfelsen, Verzicht leisten müsse. Aber wegen des Bärenfelsens ging man überhaupt ins Wehratal, und bei uns erhob sich schweres Gebrumm. Auch die Mädchen waren nicht alle zufrieden; besonders Marie betrachtete mit verlangenden Augen den hohen, kühnen Felsenzacken, von dem man eine herrliche Umschau übers Land hatte. Über das ganze Gemaule hörte er charakterfest hinweg. »Es ist nichts mehr los mit ihm, seitdem er ein Maitlischmöker (Mädchenriecher) geworden ist!« kopfschüttelte Kleiber aufrichtig erschreckt. Es wurde Mittagsrast bestimmt am Fuß eines Wasserfalls. Der Platz war schön; dagegen ließ sich nichts einwenden. Aber wir rotteten uns abseits zusammen, die Blicke starr und anklagend zum Bärenfels hinaufgerichtet, und der Wasserfall deckte unsere wenig respektvollen Reden. Am Bärenfelsen ließ sich Räuber spielen wie nirgends sonst. Da hatte es Klüfte und Höhlen, Wasserrinnen, durch die man vor dem Gendarmen abfahren konnte, Baumwirrnisse und wildes Unterholz, und wir hatten eigentlich darauf gerechnet, daß dies Jahr die jungen Weiber auch mittun würden. Um alle Hoffnungen hatten uns die Plattfüße der Jungfer Rosalie gebracht. Nachher sollte hier auf der Wiese gemeinsam mit den Mädchen gespielt werden, aber wir waren aufsässig und zu nichts zu brauchen. Wir verpolterten jede Unternehmung, verbrüllten jedes Lied, und die Hälfte war überhaupt nie vorhanden; entweder krebsten sie im Wasser oder gingen auf Erdbeeren aus. Kurz, man hatte noch nie einen so verpatzten und unwürdigen »großen Spaziergang« gehabt, und auf dem Heimweg waren wir bereits so weit, uns vor unseren Nachkommen zu schämen, daß wir im Wehratal gewesen waren, ohne den Bärenfelsen zu erklimmen und dort Räuber zu spielen.
Aber das Maß der Unbequemlichkeiten, die uns aus dieser Liebe erwuchsen, war noch lange nicht voll. Bald mußten wir den Mädchen in unserer Mittagspause Schaukeln unter den Kastanien machen. Dann sollten wir sie wieder abnehmen, weil die Frau Mutter wegen Gefährdung der Anständigkeit einschritt. Am Sonntag mußten wir mit dem Nachmittagsausgang warten, weil Herr Bunziker noch mit der Jungfer Rosalie poussierte. Oder der Ausflug wurde abgekürzt, weil er mit ihr im Fremdenzimmer vierhändig Klavier spielen wollte; manchmal begleitete sie ihn auch zur Geige. Er bekam einen idealistischen Schwung an den Leib und setzte es sich in den Kopf, uns französische Lektionen zu geben – natürlich frühmorgens in unserer Freistunde, die wir sonst zum Lesen oder zum Markenschachern hatten. Endlich verabredeten die beiden miteinander, daß am Sonntagabend für unser ungebildetes Geschrei im Hof Erzählungstunden eingeführt werden sollten. Anstatt zu unseren Ballspielen oder Räuberfahrten hatten wir uns also künftig im Andachtsaal zu versammeln, wo Herr Bunziker Scotts Ivanhoe beweglich und anschaulich vorzutragen anfing, von uns in diesem Tun zunächst mit sehr geringer Gegenliebe gefördert und durch geheimen Widerstand sogar ernsthaft gestört. Den Front de Boeuf und Brian machte er brav schwarz, um uns für ihn zu interessieren, während der Ivanhoe den Weibern zum Entzücken in der Weiße und Seelengröße eines Erzengels erstrahlte. Vollends Ivanhoes geliebtes Ding machte jeden Engel zum Landbriefträger. Es war rötlichblond wie die Jungfer Rosalie, hatte eine milde Stimme wie sie, war gebildet, gefühlvoll und unaussprechlich sanft, alles wie die Jungfer Rosalie. Fünfzig Pfund Gewichtsunterschied spielten keine so große Rolle, darüber sah Herr Bunziker liebreich hinweg, und wir taten schließlich dasselbe. Und daß das Judenfräulein hohe Türme behende auf seinen zierlichen Füßen erklomm, während die Jungfer Rosalie nicht einmal auf den Bärenfelsen kam, davon war jetzt auch nicht mehr lange die Rede, denn die Geschichte fand allmählich Anklang. Für den edlen Ivanhoe wollte sich freilich niemand von uns recht erwärmen. Den überließen wir den Weibern, die über ihn Tränen der Rührung schnaubten. Wir erhitzten uns für den König Richard Löwenherz und die Bösewichte, für die sich eine starke und einflußreiche Partei bei uns bildete.
Aber auf einmal war diese Geschichte fertig, und eine andere begann. Es kam nun die ebenso anstrengende wie überirdische Historie vom blinden Beatus und seiner schönen, reinen, guten Tochter. Da lernten wir erst recht, was für Güte und Unschuld es in der Welt gab. Ordentlich strapaziert kamen wir aus jeder Erzählungstunde wieder ans Licht des gemeinen Tages. Blaß und in finsterer Schweigsamkeit saßen wir nachher vor unserem Teller übelriechender Reissuppe und erwogen, ob es sich bei sotanen Umständen noch lohnte, weiterzuleben. Die Mädchen waren vollends aufgelöst, und viele verzichteten für diesen Abend auf die Fortsetzung ihrer Ernährung. Die Liebe und Opferfähigkeit feierten vernichtende Orgien. Die Bosheit erschien unsäglich einleuchtend mit sämtlichen Hauern, Schauern, Zähnen und Tränen, knirschend, gifttriefend, und stets zu unserer aufrichtigen Beunruhigung in vollendeter Ohnmacht. Man begriff gar nie recht, warum eigentlich die guten Leutchen in die unkomfortable Höhle über dem Thuner See flüchteten und sich von Kräutern und wildem Honig ernährten, wenn ihnen doch nichts passieren konnte, da Gott so atemlos und aufreibend über ihnen wachte. Den Schmachtroman hatte natürlich die Jungfer Rosalie beigesteuert, und es ist leider die blutige Wahrheit, daß uns in dieser passionierten Zeit alles zuwider wurde, die Jungfer, die Mädchen, Herr Bunziker und wir selber. Einige von uns kamen sich vor wie ausgelaugte Lebemänner, die nichts mehr zu hoffen hatten. Andere bekamen einen Heiligkeitsrappel und besuchten bloß noch notgedrungen die öffentlichen Örtchen. Kurz, die Verwüstungen waren schrecklich und unübersehbar. Schließlich gipfelte das Ganze in einem Lied, das sich aus der Seele des Herrn Bunziker rang, und das er auch selber komponierte. »Herr Gott und Vater, so nenn' ich dich«, lautete es, »siehe dein Kind und blick auf mich. Bricht dann des Leidens Dunkel herein, wolltest du dennoch mein Vater sein. Und in des Todes finstrer Ruh gib deinen Segen noch dazu.« Das Lied mußten wir wacker lernen, was wieder Freistunden kostete, und zum Geburtstag der Jungfer Rosalie singen. Die Mädchen sangen überhaupt vier Wochen lang nichts anderes mehr; sie waren vollkommen beatustoll und für das Zusammenleben verloren. Wenn ich manchmal daran dachte, daß dies alles eigentlich durch Marie in Bewegung gesetzt worden war, so wunderte ich mich sehr darüber, was für tiefe Schatten doch manchmal große Lichterscheinungen werfen können.
Noch ein anderes von ihm gedichtetes und komponiertes Lied hatten wir zu singen: »O du Stadt von lautrem Golde, schöngeschmückte Gottesbraut, ach, ich habe schon von ferne deine Herrlichkeit geschaut.« Über dies Lied dachte ich lange nach. Schließlich gaben mir die Kapitelüberschriften Luthers im Hohen Lied Salomonis die richtige Wegleitung. Mit der Stadt aus lautrem Golde meinte er natürlich feine Jungfer Rosalie, und mit der schöngeschmückten Gottesbraut ihre Seele. Sie war eines Tages zu unser aller Bestürzung mit einem Mund voll tadelloser weißer Zähne, wie eine Siegerin lächelnd, unter den Mädchen erschienen, nachdem wir sie solange nur mit etwa fünf oder sechs unansehnlichen, aber sympathischen Stummeln gekannt hatten. Dazu waren ihr über Nacht infolge der Liebe oder sonst eines wundertätigen Mittels viele neue Haare gewachsen, so daß jetzt anstatt des rötlichen Kickels eine ganze volle Krone ihren Scheitel beschwerte. Ich konnte schon verstehen, daß er sie »schöngeschmückte Gottesbraut« nannte, und der Ausdruck »Stadt« schien mir angesichts ihrer blühenden Natur auch nicht sehr übertrieben. Obendrein erinnerte ihre rötliche Haarkrone wirklich an Gold, und daß er ihre Herrlichkeit erst von ferne geschaut haben wollte, wundert mich nur solange, bis ich bedachte, daß er ja immer noch nicht mit ihr verheiratet war. Die ganze bild- und klangreiche Auszeichnung gönnte ich ihr aber von ganzem Herzen, denn sie war wirklich ein treue, aufrichtige und viel freiere Seele, als es ihr bei ihrer Langsamkeit mancher zugetraut hätte, ja, seitdem sie Zähne und neues Haar hatte, schien sie auch mir in gewisser Weise vom männlichen Standpunkt aus beachtenswert, und in der Folge machte sie mir einen immer tieferen und ernsthafteren Eindruck. Sie ist denn auch eine tüchtige und großherzige Mutter geworden, wie ich es voraussah, die sich neben ihrem Mann und dilettierenden Lehrer ein heilsames Maß von Unabhängigkeit bewahrte.
Noch vieles könnte ich erzählen, was in diesem Sommer bei uns anders wurde. Auch Herr Ruprecht, der zweite Sohn des Herrn Vaters, hatte Feuer gefangen und brannte lichterloh. Aber sein geliebtes Ding befand sich nicht hier, sondern es weilte in Tübingen in Württemberg. Jeden Tag empfing er Briefe und schrieb er solche von zehn bis zwanzig Seiten Umfang. Das Glück seines Freundes, des Herrn Bunziker, hatte ihm den Mund wässerig gemacht. Schließlich dichtete auch er, aber er hatte es auf Hohenstaufendramen abgesehen, und zwischenhinein machte er Schweizer Festspiele. Auch ein großes Zwiegespräch zwischen Christus und dem Teufel fertigte er an und führte es vor dem Herrn Vater auf; er selber sprach den Erlöser und weinte heiße Tränen dazu, aber der Satan war unverbesserlich. Übrigens stellte er einen Christus dar von einer Leibeslänge, die alles Volk um einen ganzen Kopf überragte; den Teufel agierte ein kleiner, runder Bruder mit schwarzen Knopfaugen, der die Zähne fletschte und grinste, daß es den guten Fliegen an den Wänden davor grauste. Aber Marie Claudepierre stieg inzwischen auf das Kathederpult des Herrn Vaters hinauf und rief von dort herab mit lauter, heller Stimme: »Er ist gerichtet!« Eine Veranstaltung, die ihm dann doch so in die Knochen fuhr, daß er tot hinfiel. »Er ist erlöst!« sagte jedoch Christus leise und weinte stärker.
Indessen erwog aber Herr Ruprecht, daß so viele und so wichtige Hochzeiten, wie sie bei der Charakterstärke der Beteiligten bestimmt bevorstanden, auch besondere Vorbereitungen bedurften. Außerdem befand man sich in gehobenen Umständen. Außerdem war man notorisch musikliebend. Außerdem hatte man sowieso schon Jahr um Jahr bei vielen Anlässen einen handfesten, zuverlässigen Posaunenchor vermißt. Also wurde ein Posaunenchor gegründet. Herr Ruprecht übernahm das Englische Horn, Herr Bunziker, da er doch einmal eine Baßstimme hatte, die Posaune, aber bald sattelte er zum Waldhorn über, damit die Freunde bei ihren Wanderungen zu ihrer Liebe zweistimmig blasen konnten. Brüder und sogar Handwerker stürzten sich in Unkosten und ließen sich einreihen. Der zweite Knecht übernahm das Bombardon; er übte und brüllte in der Knechtekammer beim Tor, daß das Vieh Zustände bekam. Der Schuster bewarb sich um Herrn Bunzikers freigewordene Posaune, um sich bei den Obern in Gunst zu setzen, da er den Einritt bei den Brüdern immer fester ins Auge faßte. Wenn er nun nicht Aufsätze schmierte und Rechnungen zusammenkratzte, so riß er an seiner Posaune, und das Generalstabszimmer Bernhards von Weimar wurde ihm fast zu eng. Durch die nächsten Wochen herrschte in der Anstalt und in der näheren Umgebung ein Höllenlärm. Vom sogenannten Storchennest, dem Horst des Herrn Bunziker, jammerte annoch das Waldhorn, bis es gelernt hatte, zuverlässig melodisch zu klagen. Am Rhein drangsalierte Herr Ruprecht das Englische Horn. Er hatte dabei dunkel das Beispiel des Demosthenes vor Augen, der seine Reden an einem brausenden Seestrand übte, um seine Stimme zu stärken. Im Gartenhäuschen saß der Gärtner wie ein roter Teufel und fauchte jeden durch die Tuba an, der sich ihm nur von weitem zu nähern wagte. Oben in der Nordecke des Gartens, wo die Eisenbahnzüge vorbeiratterten, war ein Bruder postiert, der durch eine Kavallerietrompete, die ihm sein Onkel aus Sachsen geschickt hatte, unheilbare Luftzerreißungen vollzog. Aber nach vier Wochen einsamer Qual kamen sie zusammen, um sich zum erstenmal durch ihre neuerworbenen Ausdrucksmittel gemeinsam auszusprechen. Sie hatten als erste Stufe den Choral »Nun danket alle Gott!« gewählt, und sie dankten in allen Tönen und Nebentönen, die ihnen zur Verfügung standen. Herr Ruprecht blies mit hingebender Anstrengung und hochrot vor Erregung quinten- und oktavenweise daneben, fand aber doch immer wieder zur Melodie zurück und landete eine Quart zu tief. Das Waldhorn des Herrn Bunziker tönte, als ob es im Stimmbruch läge, und da Jungfer Rosalie gläubig zuhörte und sich ganz auf ihn verließ, so fanden wir die ernste Bedenklichkeit seines Gesichtsausdrucks vollauf gerechtfertigt. Vor jedem der Bläser stand ein Junge, der ihm das Notenblatt hielt. Ich hielt es auf seine Bitte dem Schuster; er wollte in der schweren Stunde gern etwas Bekanntes um sich haben. Zum Lohn stieß er mir den Auszug der Posaune einmal vor die Kniescheibe und einmal vor den Bauch, so daß ich nicht mehr wußte, wo ich stehen sollte. Es war ein große und triumphierende Unternehmung, denn nachher befanden sich wider Erwarten alle noch am Leben, wenn auch in stark verminderter Form.
Schließlich begann, von der allgemeinen Liebeslust angeregt, auch der Schuster eine Anbandlung mit einer Magd vom Meierhof, wurde aber überrascht, zur Rede gestellt, und wenig fehlte, daß er »flog«. Er gelobte weinend Besserung und alles, was dazu gehörte, und mit der Gelegenheit brachte er seine Meldung als künftiger Bruder an, über die man sich Bedenkzeit vorbehielt. Jetzt schob und bearbeitete er wieder nichts als seine Posaune und flüsterte er nur noch über seinen Rechenaufgaben. Von Herrn Johannes aber, der ihn in Arbeit gehabt hatte, sprach er nur in den höchsten Tönen. »Das ist ein gerechter, furchtbarer und weitblickender Charakter!« lobte er, während er in seinem Spiegelscherben den richtigen Verlauf seiner Lockengalerie kontrollierte. Aber abends überraschte er die ganze Hausgemeinde damit, daß er sich plötzlich vom Tisch erhob und mit großer Deutlichkeit und von sich selbst ergriffenem Nachdruck folgende Erklärung abgab: »Ich, Emanuel Wester, gebe hiermit kund, daß ich ein schlechtes Subjekt bin und einen sündigen Artikel habe. Ich bin das Prädikat der Unkeuschheit und das Verbum der Liederlichkeit. Mein Adjektiv ist: ›Unzulänglich!‹, aber ich will mich erheben, wie die Schrift sagt. Ich ersuche um die heilige Fürbitte aller erweckten Brüder, die Bescheid in Sachen wissen. Die Herren Lehrer wage ich nicht zu belästigen.« Von diesem Tag an begann er, mir durch Ermahnungen lästig zu fallen. Nebenher fing er heftig an, Gott zu lieben, zu beten und zu singen. Dazu liebte er den Herrn Vater, die Frau Mutter und alle obrigkeitlichen Personen, die sein Auge erblickte. Mit den Brüdern suchte er Himmelsfreundschaften, aber über den Wandel der Handwerker sprach er sich geringschätzig aus. Kurz, die versetzte Liebe war ihm in den Geist gefahren, wofür er mir nur zu bemitleiden schien.