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Zweites Kapitel
Auf dem Dorf

Lichtwechsel

Ich habe die Beobachtung gemacht, daß sich mein Leben in Epochen von acht Jahren abspielt. Mit dem achten Jahr wurde ich eine Waise; mit dem sechzehnten kam ich in die Lehre. Vierundzwanzig Jahre war ich alt, als ich mit meiner Handwerkerlaufbahn brach und mich der Dichtung zuwandte, und zweiunddreißig, als ich mich zur Ehe entschloß. Mein Vater heiratete ebenfalls im zweiunddreißigsten und starb im vierzigsten. Meine Mutter heiratete um vierundzwanzig und starb im sechsundfünfzigsten. Das vierzigste Jahr traf mich dabei, meinen äußeren Zustand abermals umzuwälzen, und fand mich am glücklichen Ende einer langdauernden moralischen Krise. Ich bin fest davon überzeugt, daß auch das achtundvierzigste Jahr ein wichtiger Abschnitt sein wird, und erwarte, daß ich mit vierundsechzig oder zweiundsiebzig Jahren ordentlich sterben werde, wenn nicht ein Unglück mich früher aus der Bahn wirft.

Als mein Vater tot und begraben war, bekam die Welt für mich ein anderes Gesicht. Es erschienen fremde Männer, die unseren Hausrat auf einen Wagen luden und wegführten. Ein Verwandter meiner Mutter trat auf, nahm unsere Kuh am Strick, und bewegte sich mit ihr und meiner kleinen Person, die neugierig nebenher trottete, rheinaufwärts am Grenzacherhorn vorbei dem schon genannten badischen Dorf Wyhlen zu, wo die Eltern meiner Mutter wohnten. Die Kuh sollte verzollt werden; als ich fragte, was das sei, hörte ich, daß der deutsche Staat dem Tier den Hintern abschneiden müsse, um ihn dem Kaiser zu schicken, der Anspruch darauf habe. Auf meine innige Fürbitte wollte man versuchen, die Sache mit Geld abzumachen, und tat denn auch so.

Den Abschied von der Mutter finde ich nicht in meiner Erinnerung, obwohl ich dadurch Vaterhaus und Heimat noch einmal und endgültig verlor. Ein persönliches Band zwischen uns wurde nicht zerrissen, da entweder keines bestand, oder unsere Beziehungen anderer Natur waren. Wir waren einander vielleicht so sicher, wie jedes Geschöpf seines Schicksals sicher ist. Sie hatte ihren Koffer gepackt, um mit Franz Xaver nach Amerika zu gehen und dort ihr Glück weiter zu versuchen. Mein Schwesterchen nahm sie mit, dazu das Kind, mit dem sie zur Zeit schwanger ging, und das nicht des Vaters Namen bekam, als es drüben geboren wurde. Meine Verwandten wollen wissen, daß schon meine Schwester nicht mehr in unsere Verwandtschaft gehöre; sie habe auf dem Kopf zwei Wirbel, und das sei Franz Xavers Zeichen. Diese neue Familie begleitete eine junge Schwester meines Vaters, die ihrem Mann – ebenfalls unter Hinterlassung eines Kindes – durchging, um es drüben besser zu finden, als sie es hier hatte.

Es ist nun hier ein seltsamer Fall. Auch an diese junge Tante kann ich mich nicht erinnern, das heißt, ich finde sie in keinem Vorkommnis untergebracht, trotzdem weiß ich ihre Stimme, ihr Wesen, ihre Erscheinung, die etwas sehr Ermutigendes und Freundlich-Warmes hatte, auch besitze ich ihre ganze Existenz samt dem Samtband im Haar, wie es in den achtziger Jahren getragen wurde, und dem Duft ihrer Kleider. Ohne die Reden ihrer Geschwister aber hätte ich sie sicher vergessen, obwohl sie mir sehr angenehm war, und nur durch die geheime Macht des Wortes erwachte ihr Bild wieder in mir, um nun nicht mehr zu verlöschen. Nach gewissen Zeichen, die unwidersprochen geblieben sind, war aber die Flucht der drei Personen samt dem ersten Lebensplan in der neuen Welt schon längere Zeit verabredet, und hätte zweifellos auch stattgefunden, wenn mein Vater nicht gestorben wäre. Es muß doch auch ein Freiheitsrausch unter ihnen geherrscht haben, da eine sonst so ruhige und bürgerlich empfindende junge Person, wie meine Tante, sich dem Komplott anschloß. Vielleicht ist die Teufelsbeschwörung auf dem Grenzacherhorn nur in Hinsicht auf diesen geplanten Ausbruch unternommen worden, um das Geld dafür zu beschaffen. Der Tod meines Vaters löste dann die Frage auf einem anderen Weg. Drüben fing meine Tante – im Gegensatz zu meiner Mutter, wie man sagt – sofort ein geordnetes und arbeitsames Leben an. Meine Mutter fahndete mehr nach dem Millionär, der sie und Hänner kapitalisieren sollte. Als das bißchen Geld aufgebraucht war, und es mit seinen Pflichten Ernst werden sollte, machte sich Hänner aus dem Staub, um andere Frauen mit seiner Knittlinger Mundharmonika zu beglücken. Er war zu gut für das schlechte Leben. Niemand hat wieder etwas von ihm gehört.

Unsere Kuh ging ganz wacker am Hälsig, so daß wir sie schon nach anderthalb Stunden in Grenzach vor dem Löwen anbinden und einen Schoppen trinken konnten. Dann banden wir sie wieder los und nahmen die zweite Hälfte des Weges vor. Links stiegen Weinberge auf und stießen an frische Steinbrüche, einige auch an den Wald, der dort alle Kuppen grün und weitläufig besteht; rechts dehnten sich Felder und Wiesen hin und hörten erst am Rheinufer auf. Mit der Zeit erschien der Kirchturm von Wyhlen grau, alt und eckig, und mit einem zweiseitigen Dach wie alle Kirchtürme in der Gegend; er beherrschte seinen Waldwinkel und das Dorf bei aller Gründlichkeit auf eine sehr vertrauenerweckende Weise, und gefiel mir auf den ersten Blick, obwohl er katholisch war. Nun passierten wir den Friedhof, wo alte und junge Bauern hübsch gleichgestreckt nebeneinander schlafen und ihre Knochen von der Fleischlichkeit rein und weiß präparieren, bis sie endlich zu einer provisorischen Auferstehung bereit sind, die ihnen nicht die Posaune Gottes, sondern der Gemeindetotengräber besorgt, und die nicht länger dauert als den halben Tag, durch den sie im Tagesschein liegen, auf den neuen Mieter des Grabes warten, und sich noch einmal an der Sonne wärmen; dann wird es abermals dunkel um sie, und es beginnt die milde Wandlung auch an den Knochen, der allerletzten Eitelkeit des Daseins. Ist es nicht so: wir kommen auf, reißen unser Teil heftig an uns und stürzen damit in die Grube, und das Beste, das wir dabei ergattern, ist ein Lächeln Gottes, mit dem wir ewig selig werden können, wenn wir mit unserem Quantum Eitelkeitstickstoff auch ein Windchen ewigen Lebenssauerstoff an uns gebracht haben.

Endlich kamen wir über den Bach, wo die Kuh bockte, weil der Bach nicht im Vertrag stand; aber sie ließ mit sich reden. Freilich schnaufte sie noch eine ganze Weile nachher und trat etwas aufgebracht ins Dorf ein, wo sie allen Kötern durch ihr hoffärtiges und städtisches Gebaren auffiel. Sie hatte noch nicht den Dorfgeruch an sich, und das ist der Punkt, wo der nachsichtigste Köter keinen Spaß versteht. So kamen wir unter großer Begleitung – auch einige Buben liefen mit – beim Haus des Großvaters an. Ein kleiner alter Mann trat aus der Haustür und hieß zuerst die Kuh und dann mich willkommen. Vor der Stalltür gab es einen neuen Aufenthalt, denn es war ein katholischer Stall, und sie eine protestantische Kuh, doch trieb sie auch diesen Konflikt nicht auf die Spitze, sondern entschloß sich, vor der Entscheidung erst noch das Grünfutter zu versuchen. Sie fand es angängig, behielt sich aber noch alles vor, und wir konnten für diesmal den Stall quittieren und ins Haus treten. Gleich hinter der Haustür stieg eine schmale, alte Holztreppe hinauf, die wir erklommen, dann ging es ein paar Schritte ohne Übergang durch eine halbdunkle Küche und endlich durch eine ungestrichene Tannentür in ein helles Stübchen, wo ein gichtbrüchiges altes Frauchen am Fenster saß und meine Großmutter war. Das alte Männchen war der Großvater, und der die Kuh und mich nach Wyhlen geführt hatte, der Onkel Frieder; dazu gab es zwei ledige Bauernmädchen, die meine Tanten waren, und später kam ein deutscher Soldat dazu, in dem ich auch noch einen Onkel kennenlernte. Ich hatte auch meinen Vater als Manöversoldaten gesehen, aber er war Schweizer und ein Mann gewesen, und hatte ein schweres, langes Seitengewehr umgehabt, das auf dem Rücken eine Säge trug. Dieser Soldat war aber dünn und noch kein Mann, und hatte nur ein kurzes Speckmesser als Schwert umgegürtet; doch war er mir merkwürdig als Art, und ich hoffte, daß er sich noch entwickeln werde.

Zunächst hatte ich nichts zu tun, als mich umzusehen, woran ich es nicht fehlen ließ. In der kleinen Stube stand ein Bett, in dem die beiden alten Leutchen nachts schliefen, ein Tisch, an dem alle aßen, was die Mädchen kochten, und eine Ofenkunst, auf der sich immer ein Mannsbild das Gesäß wärmte. An den Wänden hingen bunte Heiligenbilder, und vor den kleinen Fenstern blühten Geranien. Der Boden bestand aus Dielen, zwischen denen fingerbreite Ritzen klafften, mit Schmutz und Staub aufgefüllt; man konnte die Bretter scheuern, soviel man wollte, so war es nicht zu verhindern, daß die Ritzen sich sättigten. In diesem Betracht war der Tisch nicht weniger interessant als der Boden, denn auch er hatte Ritzen, und auch die füllten sich, wie sie konnten. Die Heiligenbilder wurden mir rasch lieb; es waren nicht die großen, breiten, langweiligen Öldrucke in Blau und Rot, sondern kleine Muttergottesandachten in geschwärzten Silber- und Goldspitzen hinter Glas und in tiefen Rahmen, aus denen sie herausblickten wie aus sehr alten, kleinen Himmelstüren, durch die wohl eine selige Jungfrau mit dem Kindchen treten kann, aber nicht der liebe Gott selber, weil er viel zu groß dafür ist. Dann hing noch neben der Tür ein kleines irdenes Gefäß mit Weihwasser.

Über die Küche weg lag die Schlafkammer der Mädchen; sie nahm wie die Wohnstube und die Küche selber die ganze Hausbreite ein, und das hieß nicht viel; ein rechter Kater überhüpfte sie rückwärts. Die Küche mußte außerdem noch Platz für die Treppe abgeben, die von unten heraufkam. Sie hatte einen lehmgelben Herd mit ebensolchem Rauchfang, alles gehörig mit Ruß geschwärzt und von Schwaben belebt, die in wunderbarer Anpassung die beiden Grundfarben an sich vereinigten. Der Boden war mit Backstein belegt, den die Mädchen mit einem Besen aus Buchsbaumreisern wischten, wenn er ihnen zu schmutzig geworden war. Dann machten sie die hintere Tür auf und fegten freudig und schwunghaft Kartoffelschalen, Schmutz und Schwaben in ein schmales, dunkles Gäßchen hinaus, das, abgesehen von der Steinplatte, die vor der Tür draußen als Tritt diente, in gleicher Höhe mit der Küche lag; aber nach vorn schwebte sie mit einem Fenster über dem Treppenansatz wie ein Starenkasten im ersten Stock. Das Gäßchen war nicht breiter als eine Mannesbreite und trennte meines Großvaters Häuschen von dem Hof des oberen Nachbars, der sein Vetter war. Während die Dorfstraße drunten um unseren Eckstein herumkroch, wand sie sich zugleich um ein Stockwerk in die Höhe. Nichts war nun so unterhaltend, als durch das ewig feuchte und mit tiefsinnig faulenden Düften erfüllte Gäßchen ein und aus zu schlüpfen, aus dem kühlen Schatten in die Sonne auf der oberen Straße, oder von dort durch das Gäßchen zurück über Pfützen, Steine und Hühnermist nach dem Gärtchen, das auf der anderen Seite des Hauses über der unteren Straße hing, und worin neben Bauernblumen, Kohl und Kartoffeln einige alte, schon sehr gütige und etwas bemooste Zwetschenbäume standen. Sodann konnte man über den niederen Zaun auf die untere Straße hinabspucken, und wenn man Lust hatte, so ging man durch den anstoßenden Holzschopf und über eine Steintreppe hinunter selber dahin, bog dann nur rechts herum und unten ins Haus hinein, stieg die hölzerne Stiege hinauf, und kam durch die Küche wieder in das Gäßchen. An der unteren Straße zehn Schritte abwärts plätscherte ein Brunnen, an der oberen zwanzig Schritte aufwärts ein zweiter, und außerdem rauschte ein Bach hinter der Mühle vor, die an der äußeren Ecke der Straßenbiegung stand, und begleitete die untere Straße bei jedem Wetter Sommer und Winter zum Dorf hinunter. An dem Brunnen kamen abends die Kühe zusammen; die befreundet waren, leckten einander die Hälse. Und im Bach hatte es Steine, Büchsen, Scherben, und wofür es sich sonst noch lohnt, in einem Bach herum zu waten. Hinter und neben der Mühle stieg ein allzeit wonniger Hang hinauf, aber am wonnigsten war er im Frühling, wenn er gelb und blau stand von Schlüsselblumen und Veilchen. Das war meine neue Welt.

Mein Großvater war der Gemeindemaulwurfsjäger und durfte auf allen Wiesen gehen. Anno achtundvierzig war er mit der Sense dabei gewesen, und das Jahr darauf, so sagt man beziehungsvoll, kam meine Mutter zur Welt. Von irgendeiner Wildheit merkte man ihm aber nichts mehr an; was er nicht auf seine älteste Tochter vererbt hatte, das war zu einer sehr freundlichen und kurzweiligen Betulichkeit umgesetzt, von der nur eines sicher schien, daß er damit nicht viel vor sich gebracht hatte. Indessen weiß ich nicht, wie tief er unten anfangen mußte, als er meine Großmutter nahm. Neben der Mauserei versah er noch die Küsterstelle an der Kapelle im »Himmelreich«, einem kleinen Klosterwesen, das sich dicht am Wald angesiedelt hatte, so daß er das Glück genoß, nie im Zweifel zu sein, was er mit seiner Zeit anfangen sollte; über Tags stellte er den Maulwürfen nach, und morgens und abends lockte er die Seelen ins Himmelreich, und zwar gleich in zwiefachem Sinn. Daher mochte er tun, was er wollte, so sah er immer gut aus mit seinem weißen Schopf und Schnurrbart, der Mücke unter der Unterlippe, der gebogenen klugen Nase und den hellen blauen Augen, die durch alle sechzig Jahre nichts von ihrem jugendlichen Licht eingebüßt hatten. Daneben besaß er in seiner Armut und seiner Unberühmtheit und in einem unnennbaren Etwas genug Geheimnis, sozusagen erleuchtetes Dunkel, um auch dem Seelenhunger in mir gerecht zu werden. Ein richtiger katholischer Mensch hat ja von Haus aus seine Mystik im Leib; es ist um ihn einmal ein anderes Licht als um einen Protestanten. Wenn er weder Maulwürfe fing, noch die Glocken zog, so hatte er etwas zu schnitzen oder zu basteln; er war eine ewige Unruhe und eine unaufhörliche Unternehmung im kleinen. Stand er wirklich einmal still, so war es, um die Pfeife zu stopfen, die wie er den ganzen Tag in Betrieb war. Er hatte eine Garnitur bewährter Späße, die er für mich frisch aufzog. Das reinste Vergnügen machte es ihm aber, wenn es ihm gelang, mir eine volle Backe Rauch in die Nase zu blasen, oder seinen fünftägigen Bart an meiner Wange zu reiben. Trotzdem hatte er mein vollkommenes Vertrauen, und war ich ganz sein Mann, da er so war, wie er sein mußte. Mit ihm hängen auch meine schönsten Erlebnisse zusammen, die ich mit der Natur hatte; der milden, freundlichen Überraschung, an seiner Hand durch Feld und Wald zu gehen, und mir die neuen Dinge vorstellen zu lassen, kam nichts gleich. Und da er immer unterwegs war und mich, besonders in den Ferien, fleißig anforderte, so flocht sich durch die Monate eine Reihe schöner Tage aneinander, die ich sehr wohl ertrug, und die viel früher zu Ende gingen, als es meinem guten Engel recht war.

Meine Großmutter war ein blasses, runzliges Weibchen von stillem Wesen, das sein Leiden mit großer Geduld ertrug und immer noch etwas für ihre Leute übrigbehielt, ein gutes Wort, einen heiteren Blick, einen Spaß, einen neuen Strickstrumpf, oder wenigstens einen frischgeflickten alten. Sie lebte und webte in einer heiteren Frömmigkeit, und wer sich nur einigermaßen in ihre Nähe hielt, dem konnte es nicht ganz übel ergehen, denn sie besaß einen nennenswerten Heilsschatz, von dem sie freigebig mitteilte, Ablaß auf mehrere Jahre im voraus, und gewiß genug Gnade bei Gott, um für ihre Angehörigen zu erlangen, was sie wollte, wenn es nur billig gefordert war. Reichtum hat sie offenbar nie erbeten, sonst wäre er gewiß gekommen, dagegen ist um sie herum doch wirklich nichts Schlimmes passiert, solange sie am Leben war, und die einzige, die zu ihrem Geist nicht paßte, hatte der eigene ungebärdige Dämon beizeiten ins Weite hinausgetrieben. Außerdem war sie eine Geschichtenerzählerin von wahrhaftigen Qualitäten, wobei ihr Jugenderlebnisse, Träume und Volkssagen gleich wichtig waren, auch einige Geistergeschichten liefen mit unter, und da sie glücklicherweise vom Aberglauben nicht ganz frei war, so erreichte sie es leicht, daß man ihr glaubte und sich herzhaft oder manchmal auch nicht ein bißchen herzhaft fürchtete. Neben ihr in der Fensterecke standen immer ihre Krücken und versahen diese Stunden mit etwas menschlicher Wehmut. Es war vollkommen unmöglich, gegen sie ungezogen zu sein, und es ist eben daher meine Überzeugung geworden, daß, wer bei Kindern alles erreicht, auch bei Gott allmächtig ist.

Ihr ältester Sohn tat, wie gesagt, zur Zeit Militärdienst. Er war ein hübsches, dunkles Blut mit einem scheuen Einschuß von Unruhe, hatte einen sehr roten Mund, schwarze Augen, ein schwarzes Schnurrbärtchen, und spielte mit großer Kunst die Handharmonika. In vielen Stücken glich er meiner Mutter, nur daß er, obwohl er ein Mann war, nicht wie sie den Weg ins Weite suchte, sondern von seinen gelegentlichen Ausflügen immer wieder ins Nest zurückkehrte. Er versaß halbe Tage seines Urlaubs auf dem Ofenvorbau brütend in trübe gärender Jugend- und Manneskraft, mit Späßen vorbrechend, in Lustigkeit aufflackernd, Harmonika spielend, dann geheimnisvoll in seine Schweigsamkeit zurücksinkend, die so düster war, wie sein äußerliches Anschauen farbig und freudig. Mit einem Seufzer erhob er sich, um zu gehen, niemand wußte wohin, und tagelang wegzubleiben. Wie man nachher erfuhr, war er dann in Herthen oder Nollingen gewesen und hatte dort mit anderen Urlaubern oder – nach seiner Entlassung im Herbst – mit seinen ehemaligen Kameraden in den Wirtschaften herumgelegen, ohne etwas anderes zu treiben als eine mäßige Lustigkeit und einen Unfug, der hauptsächlich im Musizieren und Singen bestand, und so harmlos war, daß ihn nicht einmal die Polizei stören mochte. In der Garnison war er Kompanieschuhmacher gewesen und hatte sich, ohne besondere Anstalten dafür zu treffen, ein kleines Geld zusammengespart; es waren ihm einfach keine lohnenden Anlässe vorgekommen, um es im großen zu vertun. Nebenher richtete er sich in dem Zimmer zur ebenen Erde – mit dem Fenster über dem Eckstein – eine Schusterei ein, und da er ein hübscher Junge und ledig war, so fehlte es ihm nicht an Zulauf. Man ließ sich gerne seine Ausflüge gefallen, die auch jetzt nicht aufhörten, und seine arbeitsunlustigen Tage, die er nach wie vor auf dem Ofen bei seiner Mutter versaß. Dazwischen packte er sein Bündel und ging für ein halbes Jahr auf die Wanderschaft, um dann ebenso plötzlich, wie er verschwunden war, wieder aufzutauchen und, als ob nichts geschehen wäre, seinen Platz am Fenster einzunehmen. Und da er nichts von seiner Hübschheit eingebüßt hatte und immer noch ledig war, so fanden sich auch die Mädchen wieder ein, um ihre Schuhe besohlen und für neue sich Maß nehmen zu lassen; nach allem, was ich merkte, maß er nicht ungern etwas höher, als gerade nötig war, aber nicht zu viel, und es fand sich auch keine, die darüber Beschwerde führte. Eine besondere tiefe und langdauernde Schwermutsperiode schloß er endlich damit, daß er im Rhein den Tod suchte und fand, nachdem er zuvor seinen Rock und Hut und seinen Geldbeutel ans Ufer gelegt hatte. Da war aber seine Mutter auch schon tot, und ich saß längst an einem anderen Fleck.

Sein Bruder, jünger als er, folgte einen ganzen Strich weit seinen Schritten; er rückte im gleichen Herbst als Rekrut ein, in dem der andere als Reservist nach Hause kam, und übernahm nachher auch den verlassenen Platz über der Straße am Fenster. Im übrigen war er blond und von treulich heiterem Schlag, der Arbeit nicht abgeneigt, und hatte Begabung für eine gemütvolle Art von Spaßmacherei, die alle wohl leiden mochten. Zu seinen blauen Augen zeigte er seines Vaters gebogene Nase, nur, daß er sie etwas höher trug, da er jenem erklecklich über den Kopf gewachsen war, wie alle seine Kinder. Die stille Kühnheit, die in seinem Nasenbogen ausgedrückt war, hätte er wohl wie sein Vater mit den Jahren in eine bestimmte Auflage von persönlicher Freiheit umgesetzt, wenn ihm dazu Zeit gelassen worden wäre. Er heiratete ein landfremdes Schwabenmädchen, was mir immer an ihm gefiel, starb dann aber früh an einem Rückenmarksleiden. Seine zwei Kinder sind gesund und wohlgebildet.

Die älteste Schwester meiner Mutter gehörte zum schwarzen Schlag. Sie war aber im Gegensatz zu ihr ein festes, breites Frauenzimmer, hätte auch sehr viel Phantastik haben müssen, wenn sie ihr Gedeihen beeinträchtigen sollte. Zu ihrem Vorteil besaß sie nur wenig, war dagegen mit einer schweren Last strähnigen, pechrabenfinsteren Haares gesegnet, das sie mit Schmalz salbte, und das auf ihren Blusen hinterwärts schwarze, glänzende Flecken absetzte. Ich verachtete es ein wenig an ihr, daß sie mit ihren Zöpfen nichts zu machen wußte, als sie im Nacken zu einem lockeren Gezottel aufzuhängen; andere Mädchen gingen hübsch frisiert. Der Nacken selber war nackt wie ein Bein, und kam mir immer etwas unanständig vor; ich wußte nicht, warum. Dieses Mädchen fühlte sich verpflichtet, meine Erziehung in die Hände zu nehmen, und da die Hände rot und fleischig waren, wie Mägdehände nur sein können, so hielt ich ihr wenig darauf. Ich erklärte ihr einen Krieg, in welchem sie siegte, wenn sie mich unter dem Griff hatte, aber nie, wenn wenigstens drei Meter Deutsches Reich zwischen uns lagen. Schlagen durfte sie mich nicht, da es die anderen nicht litten, und sie hatten recht, weil ich sonst gegen niemand ungezogen war, und sie also ihre Schadenfreude rein genießen konnten. Den größten Streit führten wir beim Essen. Ich war kein näschiges Kind, sondern aß alles, was man mir vorsetzte, aber ich wollte damit meine besonderen Ordnungen haben. Wenn es zum Beispiel Nudeln und Salat gab, so liebte ich den Salat weniger und aß ihn darum erst, um mich nachher mit reinem Behagen über die Nudeln herzumachen. Das hätte man mir lassen können, aber das schwarze Instrument des dauernden Verdrusses setzte es sich in den Kopf, daß ich Salat und Nudeln durcheinander essen solle, und gab mir Salat nach, sobald ich den Teller davon geräumt hatte; so kam es, daß ich immer dreimal Salat zu essen bekam, dem ich nichts nachfragte, und nur einmal Nudeln, die ich heftig liebte. Diese und andere Beharrlichkeiten vergalt ich ihr mit herzlicher Abneigung, die ich stets von allen Seiten wie in einem Brennglas auf dem schwarzen Schmalzfleck versammelte, wenn sie mir den breiten Rücken zukehrte. Sie heiratete später einen Schweizer Schlosser, und soll es nicht sehr hoch gebracht haben.

Ihre jüngere Schwester war von sanfter, heiterer Natur, wohlwollend und ziemlich hübsch, wie mir schien. Sie glich ihrem blonden Bruder, und stand sich mit ihm am besten, während die Schwarze auch sonst den Krieg im Haus machte. Ich mochte sie leiden, ohne viel mit ihr anzufangen. Sie heiratete ins Dorf, und vermehrte sich tapfer in eine unaufhörliche Armut hinein. Überall sind die Kinder ins Kraut geschossen. Sie haben sich zu ihren bestimmten Zeiten schreiend eingestellt, um nun ihrerseits wieder eine Geschichte anzufangen, die vielleicht niemand schreiben wird, die aber auch ungeschrieben jedermann vorher kennt. Viel anderes, als kommen, sehen und sterben, werden auch sie nicht unternehmen; ein Spürchen Unglück weniger und ein Stäubchen Gut mehr wird sie zu wohlhabenden Leuten machen, aber vom Mond aus wird es nicht zu unterscheiden sein, und der Sirius ist ein sehr ferner, sehr heiliger Stern, unter dessen feurigem Auge alles zum Himmel und Unendlichkeit wird.

Das Müllermädchen

Die Müllersleute gegenüber waren evangelisch und wurden darum mit Vorsicht behandelt, obwohl ihr Mehl genau so aussah, wie das der umliegenden katholischen Müller, und sich ebensogut buk, wenn man nur das Backen verstand. Die Eheleute lebten nicht friedlich. Der Mann hatte den Wein lieber als die Zufriedenheit und das Wohlgefallen seiner Frau an ihm. Vielleicht lag es auch an der Frau, daß er ihren Sachen nichts nachfragte, jedenfalls machten sie miteinander dem evangelischen Namen nicht viel Ehre, und der katholische Pfarrherr der Gemeinde hatte es bequem, zu zeigen, wohin das mit der Religionsänderung in der Welt schon geführt habe. In der Müllerei gingen ein paar Kinder um, erwachsene Söhne und Töchter, und ein Mädchen ungefähr von meinem Alter, mit dem ich mich befreundete, ein schon ankatholisiertes Böcklein mit einem streng evangelischen Schaf. Es zeigte sich, daß das Schaf so stößig war wie irgendein Bock; in dem Mädchen steckte das Zeug zu drei Jungen, und dann fiel noch eine normale deutsche Hausfrau ab. Da es mir wertvoll schien, von ihr geachtet zu sein, so gab ich mir Mühe, in keiner Sache hinter ihr zurückzubleiben; die Folge war, daß der Ausbund mich beherrschte und mich zu seinem ersten Hofmann machte. Springen, Klettern und Radschlagen war ihr alles eins, und ich konnte zum erstenmal in meinem Leben sehen, was es mit gesunden und festen Gliedern auch bei den Weibern auf sich hat, ja, ich könnte kurz gefaßt vermelden: Das Mädchen war meine erste Bekanntschaft mit dem Leben, das zweigeschlechtig ist. Ich sagte mir ganz richtig: »Ein junges Mensch von so haltbarer Verfassung ist aller Ehren wert!« Einleitungsweise erfuhr ich auch, was ich später immer mehr bestätigt fand: daß niemand und nichts einen Mann so zur Potenz machen kann wie ein rechtes, gelobtes Weibsbild, dem die Natur aus den Augen blitzt. Jedes tut, was es kann; das Müllermädchen machte nur ein Männchen zum Potenzchen.

Die große Haltung kostete mir einmal beinahe den Kragen. Es war im Winter; es hatte eben geregnet und fror jetzt, und ich begleitete das Müllermädchen und seine Freundin auf irgendeine Unternehmung. Von unserer Ecke machte die obere Straße noch einen letzten Ruck in die Höhe, um dann ebenso steil abzufallen und schließlich hinten aus dem Dorf zu laufen, nachdem sie zuvor schmutzig und grob, wie sie war, über den Himmelreichweg gestolpert war. Am Dorfrand führte eine Holzbrücke ohne Geländer über eine Schlucht, die der Himmelreichbach dort gewühlt hatte; es läuteten Tag und Nacht zwei Bäche durch das Dorf, und man konnte in ungestillter Sehnsucht immerzu von einem zum anderen laufen, um zu hören, wie nun der und dann wieder jener gerade tönte. Die Mädchen gingen ausnahmsweise gesittet in der Mitte der Brücke, ich auf dem Rand, und um meine Geschicklichkeit zu zeigen, turnte ich auf einem der Längsbalken, die sie auf beiden Seiten einfaßte, und machte dazu Kapriolen. Die Mädchen, die ihren seriösen Tag hatten, verlangten, daß auch ich drinnen gehe; sie wollten philosophieren. Mich lockte es aber, ihre Empfindungen für mich zu reizen, und das Ende des Wettstreites war, daß ich ausglitt und wie ein Sack in das Bachbett hinunter purzelte. Ich hätte mir den Hals brechen oder auf den Steinen den Schädel einschlagen können, aber Gott wollte offenbar nicht, daß ich so grün und naß in seinen Himmel kam. Dagegen erfuhr ich, daß der Bach ganz anders tönt, wenn man unten darin lag, als wenn man oben auf der Brücke stand. Ohnehin läuteten beide anders im Herbst und anders im Frühling; manchmal merkte man fast nichts von ihnen, und manchmal war das ganze Dorf voll von ihrem schönen Lärm. Mit den Bächen bekam ich in Zukunft noch viel zu schaffen; für diesmal mußte ich nach Hause, wo ich ausgezogen und mit einem Gläschen Träbernschnaps gegen die Erkältung ins Bett gesteckt wurde. Die Empfindungen hatten zudem meine Weiber nicht gehindert, mich gehörig aufzuziehen, sobald sie merkten, daß ich mit dem Leben davonkam.

Zu Fastnacht verlangte das Müllermädchen meinen Sonntagsanzug, um damit in den Dorfgassen herumzulaufen; ich sollte ihre Röcke anziehen. Nun verehrte ich meine Freundin ziemlich, aber mein Geschlecht genügte mir vollkommen, und meinen Sonntagsanzug wollte ich weder um Geld noch um gute Worte freiwillig hergeben; ich konnte mir unmöglich denken, daß ein anderer Mensch als ich darin stecken könne, und brachte daheim vieles und großes in Bewegung, um die drohende Entwürdigung zu hintertreiben. Aber mit Hilfe meiner schwarzen Tante, die wenig ausließ, was mich betrüben oder ärgern konnte, setzte das Müllermädchen seinen Willen durch. Wir seien ja doch beide evangelisch, da habe das nichts zu sagen. Oder ob ich anständig katholisch werden wolle? Sie hatte sich einmal das Ziel gesetzt, meinen protestantischen Eigensinn und städtischen Hochmut zu brechen, und dazu war ihr jedes Mittel recht. Tatsächlich hielt sie mich mit unverbrüchlichem Ernst für eigensinnig und hochmütig. Darüber konnte ich mich nicht genug wundern. Halb war es mir unbequem, aber halb fühlte ich mich geehrt, da es mir Wichtigkeit verlieh, und sie mir Grund gab, sie für ebenso dumm und plump, mich aber für beachtenswert klug und fein zu halten. Sie bekam später hin noch andere Philister zu Nachfolgern. Für diesmal dachte ich an meinen Vater und sagte gesinnungstreu nein, ich wollte nicht katholisch werden, und mein Sonntagsanzug verfiel der Entheiligung. Die Röcke des Müllermädchens dagegen konnte mir keine Gewalt der Erde anzwingen. Außerdem weigerte ich mich, Invokavit, Reminiszere, Okuli und Lätare, meinen Sonntagsanzug wieder anzuziehen. Aber Judika, der ein verführerischer Frühlingstag war, sollte ich mit dem Müllermädchen nach Herthen, und inzwischen war meine Jacke auch soweit ausgelüftet, daß man sie wieder versuchen konnte; vorläufig wollte sie aber noch nicht recht sitzen. An diesem Tag kehrte meine Freundin, von so viel Charakter nicht unberührt, ihre innere Seite, das weiche Unterfutter ihres Wesens, heraus, und war so lieb und anlehnend, wie ich sie noch nie erlebt hatte. Als wir unter einem Wegkreuz auf der Bank ausruhten und die Gegend besahen, bekam ich einen Versöhnungskuß, der alle Eigenschaften einer sonnenwarmen Zuckerpflaume hatte, und noch einige dazu, die ich später in gewissen italienischen Weinen wiederfand, und auf einmal saß mir mein Sonntagsanzug wieder.

Ein frühes Wunderbild

Ich hatte in jener Zeit noch eine Freundin, die aber erwachsen und eine Frau war. Jenes Nachbarhaus, das an der anderen Seite unseres Gäßchens stand, gehörte einem Vetter des Großvaters und stellte mit Stall, Scheune und Mist einen ansehnlichen Bauernhof an die Straße. Es lebten dort der Bauer mit seinem Weib, er ein ernster, bedächtiger Mann um die fünfzig, sie eine stille, brave Frau. Während mein Großvater idealistisch revolutionierte, heiratete der andere ein hübsches, vermögliches Mädchen, und diese Solidität war es wohl, die mich im gegenwärtigen Stadium ihnen gegenüber etwas scheu machte. Dann waren da noch zwei junge Söhne, mit denen ich erst später näher zu tun bekam, außerdem aber in einer Stube zu ebener Erde eine Frau von etwa fünfunddreißig Jahren, von der ich nie erfuhr, wem sie gehörte, und die ständig im Bett lag, obgleich sie nach meinen Begriffen ein rühmenswertes Weibsbild war, lang und kräftig genug, um mir durch den Bau ihrer Leiblichkeit große Achtung einzuflößen. Ich weiß nicht, was ihr fehlte, und soviel ich mich erinnere, wußte es auch niemand sonst; sie sah gut aus und hatte einen richtigen Appetit. Nie bemerkte ich einen Strickstrumpf oder eine Näharbeit in ihren Händen, die schon sehr weiß und vornehm, aber nicht im mindesten abgezehrt waren. Sie hatten warme, feste Flächen und lange, runde Finger, mit denen sie sehr freundlich zu streicheln wußte. Dagegen fand ich sie ab und zu über einem schönen Gebetbuch mit schwarzem, goldbedrucktem Lederdeckel, großen, farbigen Anfangsbuchstaben auf Goldgrund, und einem weitläufigen, ziemlich herrlichen Druck, den sie in ihrem dunkeln Himmelbett bequem lesen konnte. Alles in allem schien sie mir mit ihren schweren, braunen Zöpfen und ihrem schmalen, angenehmen Gesicht, aus dem ein paar ruhige, nicht zu große braune Augen blickten, als etwas Besseres, und manchmal bildete ich mir ein, sie liege nur im Bett, weil ihr das Aufsein mit den anderen nicht gut genug sei, und sie lieber mit sich allein bleiben wolle. Es war denn auch eine vollkommene Einsamkeit um sie, die mir jedesmal wieder die Vorstellungskraft stark anregte und mich für sie einnahm wie für ein Geheimnis, das ich, soviel zu sehen war, allein besaß. Immer kam ich in einer gewissen Spannung zu ihr, und nie traf ich einen Menschen außer ihr dort. Hohe Stille herrschte in ihrer Stube. Auf den Dielen des Bodens lag die Sonne ruhig in breiten Vierecken. Unter der niederen Decke spielten die Fliegen. Der Tisch, der alte Ohrenstuhl, die Zeit – alles schien an ihrer Einsamkeit einen feierlichen und zugleich behagsamen Anteil zu haben.

Einmal erschreckte sie mich beinahe, als ich sie bei einem der nicht zu oft wiederholten Besuche, denn ich sparte sie mir etwas berechnend auf, auf dem Bettrand sitzend fand. Mir schien, sie betrachtete ihre langen weißen Beine, und ihre Augen hatten heute einen ungewohnten Schein. An diesem Tag erzählte sie mir die erste ihrer Heiligengeschichten. Keine davon war landläufig in der Moral, wie ich bald merkte, ja die meisten hatten den Geschmack von überreifen Birnen, aber eben den habe ich zeit meines Lebens geliebt. Die heilige Anna, Priszilla, Veronika, der heilige Pankratius, Georg, Mamertus – alle waren nicht ganz kapitelfest in gewissen Regionen, und wenn man dachte, jetzt komme eine ausbündige Heiligkeit, so kam sie zwar, aber mit einer kleinen Unanständigkeit gepaart. Diese war dabei immer so einfach und selbstverständlich, daß sie mir einleuchtete, allein, es ist doch Tatsache, daß ich davon diese hohen Personen nie mehr ganz auseinander denken konnte, so daß, wenn ich von einem ruhmreichen Repräsentanten oder von einer Repräsentantin höre, ich so lange den menschlichen Punkt suche, bis ich ihn habe, und dann das ganze Wesen erst recht besitze und verstehe. Diese etwas anrüchige Stimmung haftete dem ganzen besonderen Frauenbild an. Zugleich war sie aber großmütig, vielleicht sogar großzügig, und hatte entweder ein starkes Phlegma oder eine Natur, die keine ungesunden Hitzen kannte. Jene junge Heilige, die einen unschuldigen Gefangenen dadurch vor dem Hungertod bewahrte, indem sie ihm ihre Brust reichte, gab Anlaß, meine Kenntnisse auf diesem Gebiet nachzuprüfen. Sie waren seit meiner Säuglingszeit sehr zurückgegangen, und wir repetierten einiges in aller Stille. Ich sah und befühlte Dinge lange, bevor ich davon wieder Gebrauch machen konnte, aber auch hier hatte alles diese ruhige Selbstverständlichkeit, und sie schien mir bei ihrer Zwanglosigkeit ebenso fromm, wie ihre Heiligen unanständig waren. Aus einer gewissen Schüchternheit kam ich nie ganz bei ihr heraus, und das scheint mir ein gutes Zeichen für sie zu sein, und setzt mich in den Stand, sie noch heute, wo sie längst tot ist, noch irgendwie zu verehren, weil sie mir trotz aller Offenheiten zuletzt doch ein Geheimnis geblieben ist. Niemals verbot sie mir, draußen über das zu reden, was wir miteinander sprachen oder sonst trieben, aber eben deshalb behielt ich es für mich. Schließlich starb sie ganz plötzlich und für mich vollkommen unerwartet und unnötigerweise. Niemand hatte es gewußt, ich auch nicht, und das gab mir lange zu denken; ich fühlte mich ein bißchen davon betroffen, und es setzte mir die große Vertrauensstellung, die ich mir bei ihr zu haben einbildete, nachträglich doch sehr in Frage.

Katholische Fest- und Jahreszeiten

Über alle Zeiten waren inzwischen im Garten die reifen blauen Zwetschen herabgeregnet, und dann in den Wäldern die gelben Blätter. Weihnachten fand mich als Meßbuben vor dem Altar der Dorfkirche und sehr beschäftigt um die Krippe, worin der kleine Heiland verheißend aus seinem Stroh heraus lächelte und schon so viel manierlicher und klüger aussah, als wir alle miteinander, die Alten mit einbegriffen. Die Kühe leckten sich vor Verwunderung die Nasenlöcher; der Esel reckte den Hals wie eine Giraffe, und die Hirten standen mit sehr runden und sehr befriedigten Augen auf ihren Sandalen herum, man merkte ihnen an, daß sie es als keine Kleinigkeit betrachteten, das Neue Testament anzufangen, und ohne Umstände war es ja auch nicht abgegangen, was der Zuspruch des Engels beweist. Denn immerhin waren es einfache Leute, wenn sie auch Hebräisch konnten, und hatten nur Felle an, die nicht weit an ihnen herumreichten, während die Mutter Gottes sehr schön gekleidet in einem aufgeräumten, überirdisch beleuchteten morgenländischen Stall saß, und schon mit allem fertig war; darüber wunderten sie sich wohl am meisten. Sie hatten zwar Moses und die Propheten, aber noch keine rechte Muttergottes kennengelernt, und das Alte Testament saß ihnen noch umständlich in den Knochen. Ein Baum war nicht in der Kirche; wir hatten dafür eine hohe und breite Lichterpyramide mit der Himmelsleiter Jakobs, auf der die Engel nach ihren Fähigkeiten auf und ab turnten, die dünnen geschwinder, die dickeren langsamer. Auf dem Altar brannten alle Kerzen; auch die Nebenaltäre waren hell. Die alte Kirche war voll Summen, Singen, Klingen, voll Schimmer und geheimer Pracht, Orgelrauschen und Weihrauch und Unendlichkeit. Vorher waren wir in tiefer Nacht unter dem Läuten aller Glocken die Dorfstraße hinunter durch den frischen Schnee gegangen, eine Laterne als Engel an der Hand. Hinten, vorn und aus allen Nebengassen kamen andere Leute mit anderen Laternen, und alles trieb sich tiefsinnig und erfreut, weil es eben wieder einmal Weihnachten war, der lieben Dorfkirche zu, die aus zehn Fenstern strahlte wie eine himmlische Braut, und nicht mehr aus Mauern und Stein gebaut schien, sondern aus dunkelm Samt und heller, durchleuchteter Seide. Und die Glocken hatte ich auch noch nie so gehört. Sie hatten für diese Nacht ganz überweltliche Stimmen bekommen; möglicherweise läuteten Gottes Herzwände so. »Nun singet und seid froh!« Und wir sangen nun sehr, waren heilig froh, und ich Protestantenknirps war nicht der hinterste, sondern der vorderste. Ich schwang am Altar die Glöckchen und umknickste den Herrn Pfarrer bald links herum und bald rechts herum, reichte ihm das heilige Buch, nahm es ihm wieder ab, und trieb so ein geschäftiges, anführendes Wesen um ihn, daß mir der Widerwille, den ich zuerst gegen die Meßhemden und die Fahnen empfunden hatte, nicht mehr anzumerken war. Eine Schönheit findet und erobert ein Kinderherz immer, mag sie kommen, woher sie will. Zum Beschluß beräucherten und besprengten wir unter Vorantritt des greisen Pfarrers die Gemeinde, und das süßeste Mysterium war wieder einmal gefeiert.

Nach Fastnacht hörte man keine anderen Glocken mehr, als bei Westwind die protestantischen von Basel; die unseren waren nach Rom gereist, um sich vom Papst segnen zu lassen. Alle Straßen südwärts, wenn man es recht bedachte, mußten nun voll von wandernden Glocken sein. Betzeitglocken, kleine und große Festglocken, silberne Klosterglöckchen und schwere Domglocken aus Erz, lauter katholische, geweihte alte, fromme Glocken gingen nach dem Segen des Heiligen Vaters. Zu den hohen Zeiten ertönte hier statt ihrer die Rassel, ein Holzkasten, den man vor die Kirche stellte, und in welchem ein starker Mann ein Speichenrad drehte; das klapperte innen mißtönig und zornig gegen den Kasten und erzeugte ein Geräusch, das man durch das ganze Dorf hörte. Es war etwas kanaanitisch Heidnisches an dem Lärm; es klang darin alle angeborene Gottlosigkeit des menschlichen Herzens auf, und ich war traurig und unruhig, solange die Rassel zum Gottesdienst rief. In der Kirche standen die gnadereichsten und schönsten Bilder verhüllt. Nur wenige Kerzen brannten schaurig um das Kreuz des Erlösers, das im Kirchenschiff zwischen hohen, silbernen Leuchtern ruhte, lang hingestreckt zu Füßen der Gemeinde, und so beklemmend nah, daß nach meiner Überzeugung keiner dort vorbeiging, ohne einen Schlag auf die Brust zu bekommen.

Aber in der Osterfrühe donnerten wie klingende, melodische Frühlingsgewitter alle Glockenstuben wieder hell auf. Ein Freudenschrei und Blitz der Erneuerung fuhr selig zuckend das Rheintal hinunter, schlug ein und zündete lachend. Die Herthener Glocken waren die ersten; sie hatten es frisch von den Nollingern, daß der Herr wieder erstanden sei. Wie betrunken von neuer Erlaubnis, zu leben und zu tönen, taumelte das Herthener Geläut am Waldrand her, daß die Stämme erdröhnten. Die Wyhlener Glocken ließen sich das nicht zweimal sagen; sieghaft, wenn auch ein bißchen vorwitzig, denn ich zog sie, brach die kleine los, und schon zitterte der ganze Turm vor christlichem Getöse, Gejauchze und Gesumme, und von den gewaltigen Tonschlägen, die sich klingend an den Mauern brachen, um in hundert harmonischen Explosionen aus den Schallöchern übers Land hinauszufahren. Unterdessen mochte es auch in Grenzach gezündet haben, aber davon war hier vor dem eigenen Lärm nichts mehr zu vernehmen. Erst später, als bei uns schon die Osterorgel aufbrauste, hörte man die protestantischen Basler Kirchen durcheinandersumsen; es machte den Eindruck, als seien sie auf die Botschaft nicht gefaßt gewesen – die Schweizer Reformierten sind ja immer fleißig am Abbauen – und riefen nun etwas überstürzt ihre Christen zusammen. In der Kirche freuten sich alle Heiligen; sie durften sich wieder zeigen, so schön sie waren, und alle Altäre waren hell. Das schwarze, schreckende Kreuz nahm wieder seine erhabene Stelle hoch hinter dem Altar ein. Dafür sah man hier den auferstandenen Heiland in der besten Beleuchtung, und er machte allen, die an ihn glauben wollten, so anlockende Aussichten, daß es mir unmöglich schien, es nicht zu tun. Ich diente ihm hingegeben und glaubte ihm alles, und wenn ich die Klingel schüttelte, so flog mit dem Ton immer meine Seele das Schiff entlang und redete den katholischen Bauern zu, nur auch zu glauben. Die Sonne schien ins Hochamt und in die brennenden Kerzen, und die Muttergottes freute sich heilig, daß ihr Sohn auferstanden war. Sie lächelte und segnete, und es gingen stille, tiefe Ströme von Mutterglück und allerreinster Erfahrung von ihr aus, von denen jeder schöpfen konnte, der dazu Durst hatte. Ich badete mich darin, denn ich stand am nächsten dabei. Es sprach mir später immer gegen die evangelischen Kirchen, daß sie die milde Frau und damit die Liebe und Verehrung, die sie allen Müttern schulden, so brüsk aufs Pflaster gesetzt haben, während der heilige Geist, die Verlegenheit aller Dogmatiker, nach Kräften fetiert wird, obwohl sich niemand etwas darunter vorstellen kann.

Die jungen Leute im Haus des Großvaters arbeiteten tagsüber in einer Sodafabrik, die eine Viertelstunde vom Dorf rheinwärts stand, wo eine längstvergangene Erdperiode die notwendigen Stoffe dafür niedergelegt hatte. Einmal geriet ich, ich weiß nicht mehr aus welchem Anlaß, in das Werk hinein und bekam so den ersten Fabrikbetrieb vor Augen. Die Anlage ist nicht klein und, soviel ich später erfuhr, weltbekannt. Geleise führten von der Bahn dahin, und schon daß die Fabrik mit dieser hochrühmlichen Einrichtung in direkten Beziehungen stand, genügte, um ihr meinen uneingeschränkten Respekt zu verschaffen. Nun verschluckte mich ein großes Tor, und nahm mich ein weiter, dampfender, brodelnder Magen auf, in dem Räder surrten und Treibriemen durcheinanderschwirrten, beizende Dünste aufstiegen, Dampfwolken wie kämpfende Dämonen vor offenen Fensterluken zurückgeschlagen wurden, Menschen stumm und gespannt hin und her liefen, und sich alles furchtbar vielgestaltig und nach ganz fremden Grundsätzen und Gewohnheiten abwickelte. Ich fand dort viel Leute, die ich gut kannte, und die mir jetzt in völlig unverständlichen Bedeutungen erschienen. Ich begriff einen Menschen, wenn er aus seinem Fenster guckte oder in seinem Holzschopf sägte, aber nicht mehr, wenn er in einem Betrieb arbeitete, von dem ich nicht im mindesten wußte, wem er gehörte, oder wodurch er existierte. Man sagte mir nachher, die Fabrikbesitzer seien die und die Herren, aber ich glaubte es nicht; ich hielt es für unwahrscheinlich, daß einigen Leuten so große Verfügungen zustehen sollten, ohne daß sie Kaiser und Könige waren, und da ich immer an die Vernunft des Lebens glaubte, so ging ich meinen Tanten nicht auf den Leim. Daß die Fabrik Löhne ausbezahlte, mißfiel mir nicht, allein es blieben so viel Abers zu verwinden und Ungehörigkeiten zu verrechnen, daß ich der ganzen Sache mißtraute und mich rein beobachtend verhielt. Dazu war ich dem Werk gram, weil es sich das billig zu habende Vergnügen geleistet hatte, einen armen, kleinen Wicht zwischen Rädern, Kesseln, Treibriemen und Dämpfen herumzuwerfen und ihm seine Gewalt zu zeigen, ohne ihm etwas dafür zu geben, etwa eine faßbare Anschauung, die mit anderen Erscheinungen, dem Wetter oder dem Wald, übereinstimmte, oder auch nur eine kurze, freundliche Vertröstung auf später. Bloß traurig und krank machte es mich mit seiner absoluten Fertigkeit, hinter der mir geheimnisvolle, unabsehbare Bedrohungen und festbestimmte Enttäuschungen zu stehen schienen. Die Räume waren häßlich und hohnvoll kahl. Es roch übel, und die Gefahr langte aus allen Winkeln und Gängen nach dem lebendigen Fleisch. Wie stimmte das mit den Dingen in der lieben frommen Dorfkirche zusammen? Alles sah nach Mühsal aus, und es widerstrebte meinen Wünschen durchaus, daß mein blonder Onkel und meine Tante sich dort tagsüber aufhielten. Die Schwarze mochte dort sein; sie mochte überhaupt immer dort bleiben. Vollends begriff ich nicht, daß ich meine Freunde dort lachen und schwatzen sah, und ich hielt dafür, daß sie sich in irgendeiner bösen Verzauberung befanden. Natürlich vertiefte diese Beobachtung meinen Argwohn noch und machte meine Abneigung für diesmal endgültig und unüberwindlich.

Desto inniger schloß ich mich meinem Großvater an, der mir als ein guter Naturgeist vorkam, von dem alle Erklärungen zu haben waren, und bei dem sich jede wünschbare Freiheit aufhielt. Überall, wo es schön und erfreulich herging, da befand er sich, auf den Wiesen, im Wald, im Himmelreich und in der Stube bei der Großmutter, was ich ihm alles beinahe als ein persönliches Verdienst anrechnete. In der Himmelreichkapelle durfte ich zur Vesper läuten, und auch dort schwang ich die Glöckchen zur Frühmesse und zu den anderen Kirchenzeiten. Es waren nur immer wenige Leute da, und man befand sich so traulich unter sich mit der Muttergottes und den anderen paar Heiligen, die sich dort verehren ließen. Nach den Ämtern räumten wir dann das Kirchlein miteinander auf, brachten das Weihrauchfaß mit dem Wedel an seinen Ort, stäubten da und dort ein wenig herum, schlossen die Sakristei ab und gingen in den Wald, wo Holz geschlagen wurde. Überall errichtete man die ausgemessenen Stöße Buchenholz. Die frischen, wunderbar duftenden Sägeflächen leuchteten durch das Winterlicht. Der Wald erklang von den Schlägen der Äxte und dem Gesang der Sägen. Der Boden war kalt und gefroren; in den Wagengeleisen lag das Eis. Am Niederholz hing noch das welke Laub vom Herbst; dazwischen standen dunkelgrüne Büsche von Buchs und Stechpalmen. Der Wyhlener Wald war nie ganz tot. Im Frühling und Sommer vollends drängte und brannte er vor Leben, und man hätte zehn andere daraus machen können. Immer einmal tönte aus dem Dorf das Geklapper der Dreschflegel herauf, oder ein Hund bellte. Dazu rauschte hier ein Bach, oder man kam in ein kleines Tal hinunter, wo es vollkommen still war, daß man sein eigenes Herz schlagen hörte. Dort war auch die Felsenhöhle, aus welcher der Wind kam. Wir warteten wiederholt lange, wurden aber nie Zeugen des Ereignisses. Plötzlich schwirrte dann aus einem Buschwerk ein Vogel auf, der sich solange still gehalten hatte; sah man zu, so war es ein Auerhahn oder auch nur ein Herrenvogel. Auch der Wiedehopf stellte dort sein Schöpfchen, und Kuckucke gab es so viel, daß der ewig nicht aus dem Wald kam, der ihrem Locken nachgehn wollte – jedenfalls nicht, solang der Sommer dauerte, denn es rief von allen Ecken und Enden, und es war manchmal, als säße über jeder schönen Blume auf dem Grund ein Kuckuck auf dem Baum, um sie zu bekomplimentieren. Wunderbar war es, als eines Morgens das ganze weite Rheintal bis zu den Schweizerbergen im Nebel lag, und wir in der hellen Sonne darüber auf der Höhe standen. Wie ein Meer wogte und schwieg die silbern schimmernde Tiefe und Weite. Nur unser Kirchturm ragte aus der Überschwemmung, und etwas später tauchte rauchend der Schlot der Sodafabrik auf. Über den Bergen, die jetzt Inseln waren, leuchtete in tiefblauer Reinheit der Himmel. Dort fühlte ich, angesichts dieser poesie- und sinnvollen Verwischung der Grenze, daß ich schon kein ausschließlicher Schweizerbub mehr war, sondern größeren und bedeutungsvolleren Verbänden angehörte. Unsere Bestimmungen machen wir uns ja nicht selber.

In dem Wald hatte es auch Rehe, Hasen die Menge, dazu Füchse, Wiesel, Marder, Eichhörnchen und die netten kleinen Mäuse. Mein Großvater wußte alles und kannte alles. Er konnte auf eine Weise durch die hohle Hand pfeifen, daß die Rehe neugierig näher kamen und die Vögel einen Zweig tiefer hüpften, um zu sehen, was es gebe; aber die Hasen blieben, wo sie waren, und machten nur das Männchen. Wenn er wollte, so konnte er so rufen und locken, daß die Rehe ganz nahe kamen und sich streicheln ließen; aber dazu mußte ich zuerst katholisch werden, denn alle Tiere auf der Erde waren katholisch geblieben, wie sie Gott geschaffen hatte, und einem Protestantischen gehorchten sie niemals, außer wenn er mit Zauberwerk arbeitete, und dann war es immer zum Verderb, auch wenn der Protestantische weiter nichts Schlimmes vorhatte, sondern sich nur mit List und vielleicht aus Reue und Sehnsucht in die katholische Tierwelt einschleichen wollte. Alle Tiere waren fromm. Löwen gab es hier nicht, weil sie heidnisch und ganz unbußfertig waren; sie mußten darum mit den anderen heidnischen Tieren in der Wüste leben. Wölfe und Bären waren wohl einmal dagewesen, aber seitdem die Kapelle im Himmelreich läutete, vertrugen sie das Klima nicht. Nur im härtesten und längsten Winter, wenn die Töne der Glocken in der Luft gefroren, wagten sie sich einmal herüber, aber es bekam ihnen schlecht, weil man jetzt Pulver und Blei hatte. Es war eine richtige Frage von mir, warum ein Mensch oder ein Tier sterben muß, wenn er ein Loch im Leib hat, und eine ebenso richtige Antwort des Großvaters: Weil die Seele mit dem Blut dort herausgeht, und ohne Blut und Seele kein Leben sein kann.

Zeitung und Kalender

An den Winterabenden las man die Zeitung oder den Kalender. Das Männervolk saß auf der Ofenkunst und qualmte; die Mädchen strickten oder rüsteten den nächsten Mittag, wenn sie nicht faulenzten. Die Schwarze hatte eine große Fertigkeit, in der Nase zu bohren. Wenn sie mit der Nase fertig war, fing sie mit den Ohren an; sie steckte den kleinen Finger in den Gehörgang und ließ ihn darin mit einer Geschwindigkeit schwirren, die ich nur noch an den Mäusen bemerkt habe, wenn sie sich kratzen. Nie und nirgends sonst sah ich eine Miene, die so von Zufriedenheit und Genußkraft geglättet war wie die ihre, wenn sie diesen stillen Geschäften oblag. Wenn die Luft schlecht wurde, so räucherte man mit Wacholderbeeren, die man auf eine Schaufel voll glühender Kohlen streute.

Das Blatt war im Winter voll Anzeigen über Holzverkäufe; es wimmelte darin von den hübschen, kurzweiligen Klischees, die einen Klafterstoß darstellten, immer denselben kleinen, artigen Klafterstoß, und nur die Erklärung war verschieden, indem die Holzversteigerung bald am Montag und bald am Donnerstag, bald in Oberminseln und bald in Adelshausen stattfand. Ich besah und las sie alle der Reihe nach und dann durcheinander, und meine Augen wurden voll gutwilliger und warmer Vorstellungen von den Dörfern, die ich noch nicht kannte, und den Menschen, die dort umgingen. Ich roch ihr Holz und sah ihre Wälder, und hatte ernsthafte und wohlmeinende Empfindungen von ihnen. Es fanden sich auch Klischees von anderen Geschäften. Pferdchen galoppierten gestreckt mit wehenden Schweifen, oder schritten mit gebogenen Hälsen stolz und ruhig aus, ihres Wertes bewußt. Die Amtspersonen drückten sich ohne Bildnis und Gleichnis aus; sie redeten bei aller Herablassung zum Volk wie Gott eine dunkelgewaltige Sprache. In holdem Stumpfsinn starrend, luden tanzende Paare zum Ball im Rößli ein. Traurige Narren mit der Pritsche, in den ersten Stadien der Verblödung, forderten zur Reunion auf. Im Blättchen spiegelte sich das ganze Leben dieses Rheinwinkels wider. Sterbefälle, Geburten, Aufgebote, Rekrutierungen, Konkurse, Geschäftseröffnungen, die Weinlese, Kriegervereinszusammenkünfte: nichts geschah, ohne seine Lichter oder Schatten in die Zeitung zu werfen. Wenn irgendwo Maul- und Klauenseuche war, wenn beim Pflügen sich ein römisches Schwert gefunden hatte, wenn die Halsbräune herrschte, wenn in Basel Messe war, wenn man einen Weg eine Zeitlang nicht fahren durfte, wenn die Großherzogin sich erkältet hatte, wenn in Amerika ein Kalb mit zwei Köpfen geworfen war: immer bekam man das Ereignis verständlich berichtet und so rechtzeitig, daß man seine Maßnahmen treffen konnte, auch auf das Kalb mit den zwei Köpfen.

Das war die Zeitung. Der Kalender übertraf sie, wie der Tag die Nacht. Was ein richtiger Kalender ist, das wissen heute die Großstädter nicht mehr. Sie kennen nur Abreißkalender, nicht jene tiefsinnig symbolisierenden Weltsysteme im kleinen, diese anschauungsvollen Buchführungen des göttlich nah-fernen Alls, die weisen, gelassenen Registratoren und Kommentatoren der menschlichen Brust und des Daseins auf diesem schwingenden vulkanischen Stern. Ein Kalender hängt zu allen Zeiten an der durchgezogenen Schnur neben dem Ofen, gleich beim Weihwasserfaß. Nimmt man ihn zur Hand, so geht schon mit der ersten inneren Umschlagseite der ganze Weltplan auf. Das Jahr 1884 zum Beispiel entsprach dem Jahr 6597 der julianischen Periode, dem Jahr 7394 der byzantinischen Weltära, dem neujüdischen Jahr 5646 der Weltschöpfung, dem Jahr 1302/3 der mohammedanischen Zeitrechnung und dem Jahr 5835 der Erschaffung der Welt nach Calvisius. Ich konnte nicht daran zweifeln, daß ich mich da in geheimnisvollen und großen Verhältnissen befand. Die goldene Zahl war 6, der Sonnenzirkel 9, die Epakten waren XVII, die Römerzinszahl war 4, der Sonntagsbuchstabe B. Da wußten die Leute doch, woran sie waren. Ich warf mich mit Liebe an den Sonnenzirkel, der mir am meisten zu versprechen schien, und bewegte mich den ganzen Winter darin. Immer wenn ich an den Sonnenzirkel dachte, freute ich mich. Man hatte Jahre seit der Erbauung von Breisach, Baden und Konstanz durch die Römer 1773, seit der Ankunft der Alemannen am Rhein, die ich mir in schönen, mit Grün geschmückten Leiterwagen vorstellte, 1686, seit der Erbauung der ersten christlichen Kirche durch Fridolin in Säckingen 1376.

Dann waren da die Himmelszeichen mit ihren Kennmarken. Der Stier hatte es satt und unternahm einen Angriff gegen den Kreis, der ihn umzirkelte. Stumm und übelnehmerisch schwammen die Fische aneinander vorbei. Die Jungfrau hielt mit erstaunten Augen eine Blume in der Hand. Ausnehmend verstoßen sahen die Zwillinge aus, und reichten sich mit leidgeprüften Männermienen die Hände. Dann waren da die Juden, die ihre eigenen Feste hatten – Purim, Passah, Lag-B'omer, Fasten-Gedaljah – und ihre besonderen Monate – Marcheschwan, Kislew, Schebat. Auch sie waren mir geheimnisvoll, und ich hätte gern gewußt, wie es tut, ein Jude zu sein. Sie mußten dem Kalender nach, der von Fasttagen für sie wimmelte, viel hungern, und ich wunderte mich, daß trotz dieser strengen und andauernden Bestrafung durch Gott, die mir als Grund dafür angegeben wurde, die Viehhändler so dicke und vergnügte Leute waren. Auch die christlichen Sonntage hatten ihre Namen: Epiphanias, Septuagesimä, Kantate, Exaudi, Advent. Wenn man wußte, wie ein Sonntag hieß, an dem man spazierenging, so nahm man sich seine Lieblichkeit doppelt zu Herzen. Die vielen namen- und herrenlosen Sonntage nach Pfingsten, ihrer fünfundzwanzig in den allerschönsten Jahreszeiten, enttäuschten mich immer und schienen mir nie so vollwertig wie die anderen, die die hochsinnigen und dunkelklingenden Bezeichnungen trugen.

Auf der Gegenseite zum Kalendarium sah man oben den Charakter des Monats dargestellt. Der Januar beschäftigte die Leute mit Schlittenfahren, Schneeballwerfen, Betteln und Almosengeben. Über den Februar weg tänzelte eine furchtbar vornehme und weltlich gesinnte Dame mit aufgeraffter Robe, und der April zeichnete sich durch umgekehrte Regenschirme aus. Der August wurde anziehend veranschaulicht durch einen wandernden Studenten mit Pfeife, gewundenem Stecken, verschnürtem Rock und hohen Stiefeln, der in die Ferien ging. Durch den November hindurch schoß ein Jäger den dreschenden Bauern gerade in die Scheune, auch schleppte ein alter Bauer eine Bürde Holz zu Tal, und pflegten treue Seelen die Gräber ihrer Angehörigen. Wer Bescheid weiß, erkennt den guten, alten Rheinischen Hausfreund, den J. P. Hebel gegründet hat. Diesem Reigen folgten als leise Bedrohung die Sonnen- und Mondfinsternisse, der Portotarif, die Genealogie und der Trächtigkeitskalender. Aber endlich brach im Geschichtenteil doch der gute Humor des Kalendermannes durch. Da wiegte sich ein wüster alter Kerl auf einem Stuhl, eine furchtbare Dogge zwischen den Füßen, und ein dünner junger Bursch stand freudig vor ihm: »Herr, ein Gott lebt!«, oder ein vergrämter Ehemann stützt finster den Kopf auf die Hände, und ein junges Weibchen hebt sich munter davor: »Wortlos ergriff sie ihren Teller und eilte damit in die Küche.«

Ich schreibe hier einen Nekrolog und muß um Geduld bitten. Denn wer denkt, es sei alles dagewesen, der schlägt nun mit Hunderten von eigenartigen und bedeutsamen Stichworten das Markt- oder Freudenverzeichnis für die Schweiz auf, auch für Baden, Württemberg und das Elsaß, für das Königreich Bayern, das Fürstentum Hohenzollern. Wie groß und weit doch die Welt war! Lauter ausgebreitete sonnenhelle Länder mit Fürsten, Großherzogen, Königen und Schweizer Bundesräten. Und dann all die Namen – waren sie nicht Geister, heimliche Götter? Nuglar, Breisach, Donaueschingen, Ensisheim, Sankt Blasien – jeder ein Liedervers. Ich befand den Klang als eine gehaltvolle Wirklichkeit, hinter der man lange her sein konnte, ohne sie zu ermüden oder gar zu erschöpfen. Die junge Seele ist immer genial und lebt souverän in Symbolen. Oder wie war das mit dem Inseratenteil der Schiffahrtsgesellschaften: Norddeutscher Lloyd, Red Star Line, Hamburg-Amerika-Linie? Man kam in soundso viel Tagen von Bremen nach Neuyork, und dazwischen war alles das reine Salzwasser, aber drüben waren lauter Amerikaner und Indianer, und keiner wußte, was ihm drüben passierte, sagte der Großvater. Dort lebten nun auch meine Mutter und meine Schwester, und die Tante, die sie begleitet hatte. Aber das eigentlich faßbare Leben enthielt die Heimat. Wie gut das war: Trompeten konnten an fünf Orten zugleich garantiert am billigsten und besten bezogen werden. Das sechste und siebente Buch Mosis war immer noch nicht ausverkauft, sondern zum Preis von drei Mark stetsfort zu haben bei Paul Bar, Versandgeschäft in Glochau. Außerdem gab es Diamantglasschneider, Zithern, Dreschmaschinen, Mittel gegen Mitesser und für Bartwuchs. Sauzähne für Uhrketten, für nur zwei Mark neunzig eine Stockkrücke aus russischem Rehhorn, ein paar Hosenträger mit der Aufschrift: »Gott mit uns!«, einen interessanten Gegenstand, ferner Salben für offene Beine, Trunksuchtkuren, Samen von Vollendungsrunkelrüben, Lokomobilen von Lanz in Mannheim, höchst wirksames sympathetisches Mittel gegen die Mäuse, genannt Salmanasser und Leviathan. Ein kleiner lieber Gott – so saß ich abendelang verwaltend über dieser wimmelnden Welt und sah ihr zu, und manchmal kam mir's vor, als wäre ich das selber, der ihr das tiefsinnige Leben einhauchte. In der Zeit hütete der große Schöpfer sein Geheimnis, daß er nach nunmehr 6597 Jahren nach Julian noch jung und voll von Einfällen ist und jedes Frühjahr wieder die Welt mit seinem Augenlicht und Gesang erfüllt und mit dem Duft seines blühenden Bartes berückt.

Von der geheimen Sympathie

Viel war von geheimer Sympathie die Rede bei den abendlichen Rauch- und Feiersitzen. Man holte Nüsse aus der Bodenkammer vom eigenen Baum, die ich mit aufgelesen hatte, und wenn man besonders einig war, so wurde einer nach Bier geschickt, das man mit dem heiß gemachten Feuerhaken »abschreckte«. Ich bekam ein Stück Ölkuchen zu knabbern. Es sind das die zusammengebackenen Rückstände von verölten Nüssen, von denen man für zehn Pfennige einen ganzen Haufen in der Öle bekam. Sie schmeckten halb ranzig und halb nach kaum ahnbaren zukünftigen oder exotischen Herrlichkeiten, aber eben nur halb, und eigentlich schmeckten sie scheußlich, aber man kam nicht davon los. Waren diese Vorbereitungen getroffen, und hatte die Schwarze nicht widersprochen, so wußte ich, daß es diesen Abend wieder wunderbar traulich und unheimlich zugehen werde.

Nun gab es wirklich keinen Grund, weshalb man an dem Zeugnis so vieler ehrenwerter Menschen zweifeln sollte. Da war zum Beispiel eine Gewalt, durch die man einen anderen Menschen, den man strafen wollte, auf einen Zaun, wenn er darauf saß, so festbannte, daß er mit keinen Mitteln, außer in Stücken, herunterzubringen war, so daß ihn seine Verwandten und Eltern füttern mußten wie einen gefangenen jungen Vogel. Gefiel es einem, so konnte man es so weit treiben, daß sie ihm ein Dach über dem Kopf bauen mußten, damit er wenigstens im Trockenen saß, und Mauern um ihn herum, damit er im Winter nicht erfror.

Man nannte das Mädchen, dem von unbekannter Hand die Zöpfe abgeschnitten worden waren, während es sich auf einer gewissen Örtlichkeit aufhielt. Nachdem das Haar soweit wieder nachgewachsen war, erhielten die Eltern einen Brief, worin angezeigt wurde, daß das Mädchen am soundsovielten wieder seine Zöpfe einbüßen werde, und zwar im gleichen Lokal. Nun umstellte man das kleine Häuschen von allen Seiten, hing Lampen drinnen auf und richtete die ganze Anstalt so ein, daß nichts dort geschehen konnte, ohne daß es von einem Dutzend guter Augen bemerkt wurde. Die Stunde kam, und das Mädchen nahm den Platz ein. Kaum hatte es sich niedergelassen, so hörten die Außenstehenden einen Schrei, und die Zöpfe waren wieder weg; gesehen hatte niemand etwas. Gegenwärtig war es wieder soweit mit den Zöpfen, aber das Mädchen war nun streng an das Kunstprodukt des Töpfers gewiesen, und man hoffte, auf diese Weise diesmal darum herumzukommen, vorausgesetzt, daß sich das Mädchen nicht vergaß.

Im unteren Dorf wohnte eine Witwe, die man ab und zu in völlig entseeltem Zustand auf dem Bett fand; die Sache hatte schon lange zu denken gegeben. Schließlich war es bemerkt worden, daß diese Ohnmachten mit Dorfereignissen, Bränden, Sterbefällen, Viehunglücken zeitlich zusammenfielen, und man fing an, aufzumerken. Nun hatte ein Bauer die Seuche im Stall; drei Kühe standen schon da und troffen aus den Mäulern wie die Keltern, und die anderen hörten auch auf zu fressen. Plötzlich sah der Bauer eine fremde Katze in den Stall schleichen, wie noch nie jemand im Dorf eine gesehen hatte. Geistesgegenwärtig, wie er war, schloß er sofort die Tür, nahm die Peitsche umgekehrt zur Hand und machte sich so rasch und gewaltig über die Katze her, daß sie für tot liegenblieb. Zufrieden mit seinem Werk warf er den Kadaver vor die Stalltür; als er aber nach einer Viertelstunde wiederkam, war das Tier weg. In derselben Nacht wurde der Kreisphysikus zu der vielbesprochenen Witwe im unteren Dorf gerufen. Er fand sie in einem jämmerlichen Zustand vor, verprügelt und zertreten, und stinkend von Stallmist, und hatte lang an ihr zu flicken, bis sie wieder etwas kriechen konnte. Aber den Kühen ging es von Stund an besser.

Vor einiger Zeit war ein Wirt gestorben und mit allen kirchlichen und bürgerlichen Ehren beerdigt worden; nun hatte man aber drei Nächte hintereinander eine feurige Gestalt auf seinem Grab knien sehen, und man riet, welche ungebeichtete Sünde er mit in die Ewigkeit hinübergenommen habe, die ihm nun keine Ruhe ließ. Eigentlich wußte man es aber genau.

Unerwartete Bedrohung

Aber in all diese Anregungen schlug eines Tages wie ein Blitz aus heiterem Himmel die Nachricht, daß meine Zeit hier zu Ende sei. Die Sache verhielt sich so, daß jener Pfarrherr, bei dem mein Vater Gärtner gewesen war, mich bei meinen katholischen Großeltern für schlecht aufgehoben hielt und mir in einer protestantischen Armenanstalt einen Platz aufgemacht hatte. Er löste auf diese Weise das Versprechen ein, das er meinem Vater auf dem Sterbebett gegeben haben soll, für mich zu sorgen, aber über die Art und Weise wurde weder ich noch sonst jemand befragt, und aus den Äußerungen meiner Großeltern spürte ich eine erkältende und gegnerische Wirkung, die sie von Basel erfahren hatten.

Mein Großvater hatte in jener Zeit viel zu tun. Es war Frühling, und die Bauern wollten ebene Wiesen haben, damit es im Juni ein gutes Mähen gab. Frühmorgens zog er schon aus mit seinem selbstgemachten Knotenstock, einem umgehängten Leinensäckchen, worin sein Essen für den Tag war, denn er mußte weit herum, und seinem Gerät, das in einem guten Taschenmesser, einem kurzen, breiten Spachtel, einem Bündel biegsamer Ruten, einem Knäuel Schnur und einer Anzahl Drahtschlingen bestand.

Weil es mit mir zu Ende ging, wollte er mich noch nach Möglichkeit um sich haben. Nun machten wir weite Wege im Bann herum, waren ganze Tage im Freien, streiften heute im Rheintal und morgen auf dem Berghang über dem Dorf. Überall hatte es Maulwurfshügel und mußte mein Großvater zum Rechten sehen, und überall gab es Abwechslungen und Nebenunternehmungen, die gar nicht zum Geschäft gehörten, denn er war in seinen alten Tagen so neugierig und unternehmend wie ich mit meinen jungen. Es fand sich in dieser schönen Jahreszeit so viel zu betrachten, zu befühlen und zu beriechen, daß man eigentlich Gehilfen haben mußte, um allem nachzukommen. Es gab Büsche mit neuen Vogelnestern, Steinbrüche mit Schlangenlöchern, Hasenstuben und Fuchsbaue mit jungen Tieren darin. Die eine Winterfrucht war weiter voran als die andere. Die Reben trieben die ersten Augen. Man hatte jetzt eine neue Methode zu okulieren, die sich bewährte. Eine Maulwurfsfalle machte man folgendermaßen: Man räumte den Hügel weg, bis man auf den Gang stieß, stach den mit dem Spachtel senkrecht und sauber durch und legte das Loch frei. Darauf steckte man eine Rute dahinter in den Boden, band eine Schnur mit einer Drahtschlinge daran und knetete aus Erde eine handliche Kugel. Jetzt zog man die Schlinge mit der federnden Rute herunter, brachte sie genau vor den Eingang zum Labyrinth, das man mit der Erdkugel verstopfte, so daß der Pfropfen die Schlinge hielt. Fuhr nun der Maulwurf von innen, um sein Hausrecht auszuüben und wieder Ordnung zu schaffen, gegen die Lehmkugel und stieß sie weg, so schnellte die dicht davorliegende Drahtschlinge in die Höhe und brach ihm das tapfere, gottvertrauende Genick, bevor er etwas merkte.

In Anbetracht der nächsten protestantischen Zukunft, die mir drohte, und unter dem Nachgefühl der achtungslosen Behandlung, die mein Großvater von Basel erfahren hatte, erfüllte und durchdrang nun die Großmutter leise erbittert und still begeistert die ganze Welt mit Katholizismus. Bei ihm war das mehr Poesie und Phantastik gewesen; bei ihr wurde es geheime Leidenschaft, ja ein Spürchen Fanatismus schwebte darin. Auch der Wald wurde nun katholisch, und zwar war es aller Wald auf der ganzen Erde; es gab gar keinen protestantischen Wald, und den die Protestanten hatten, der war auch katholisch. Alle ihre Stämme trugen das heimliche katholische Zeichen, mit dem Gott die Bäume schon im Samen bemerkt. Die Buchen hatten weise Mariensprickel in der Rinde. Die Tannen rochen nach heiligen Kerzen. Der Buchs war zum Weihwassersprengen geschaffen. Das Wasser musste erst geweiht werden, seitdem es den Protestantismus gab; vorher war alles Wasser rein und geweiht gewesen. Der Protestantismus war der zweite Sündenfall, und die Protestantenbibel der zweite Baum der Erkenntnis. Wenn ein Protestant einen Baum schlug, so schrie der Baum zum Himmel und klagte ihn an. Ging er durch einen Wald, so sprachen die Vögel über ihn. Wo er stand und ging, da war er allein, weil ihn alle Tiere verließen, oder ihn verrieten, wenn er sie zwang, bei ihm zu sein. Und war nicht auch Franz Xaver, der Verderber, ein Protestant? Mein Vater dagegen war befreundet, da er eine katholische Jungfrau heimgeführt hatte. Von allem zahmen und frommen Getier war Petrus der oberste Hirte; wenn sich noch irgendwo ein Tröpflein Blut des Heilandes fand, dann erlöste man auch die Kreatur damit. Die Protestanten, besonders die in Preußen, hatten die Fabriken und die harte Arbeit in die Welt gebracht, weil sie geldgierig waren. Kein Protestant konnte ganz glücklich werden, das sah man schon an ihren Augen, die hochmütig und kalt drein blickten, wie Augen blicken, die nicht in Altarlichter sehen. Ich hatte Altarlichter gesehen und ihnen sogar gedient, und konnte darum nie ganz verlorengehen und nie ganz der Geldsucht verfallen.

Stand ich mit meinem Großvater vor einem Waldrand und sah über das lichte Rheintal hinüber, so hörte ich, was hier sonst noch für Beziehungen herrschten. Die Lokomotiven, die rheinaufwärts eilten, waren tiefbefreundete, katholische Wesen, Inbegriffe von frommer Schnelligkeit und geweihter Kraft. Über die schweizerischen drüben wollte er sich kein Urteil erlauben. Die Wolken, das Himmelsgebäude, das Licht, das Land: alles war katholische Gottesoffenbarung und Urherrlichkeit, alles durfte in Altarkerzen schauen, wenn auch nur selten an den Fronleichnamstagen, wo draußen Altäre gebaut werden für die Natur und die Tiere im Freien, ja, der Himmel konnte durch die Kirchenfenster hereinsehen, wenn Hochamt war. Und die lieben Vögel konnten sogar den Segen hören. Etwas war auch sicherlich daran, wenn meine Großmutter die Preußen für die Fabriken und das Militär und die neue harte Arbeit samt dem Staat mit seinen vielen Steuern und seinen harten Gerichten verantwortlich machte. Trotzdem wollten wir, der Großvater und ich, über die Protestanten milder denken, und wir einigten uns in der Stille, daß sie nicht schlecht, sondern bloß von ihren Pfarrern verführt und verblendet seien. Dann grüßten sich in unseren Personen die Geschlechter hinüber und herüber, und an der Hand des Alters stieg ich abends müde und satt gesehen, sonnenwarm, gläubig, blutjung und doch wieder ein bißchen protestantisch ins Tal hinunter, während die Glocke vom Kirchturm Feierabend läutete, die sinkende Sonne durch die Luft und durch den Rauch aus den Kaminen ein überirdisches, flimmerndes Seidengespinst wob, und die Schwalben in der Höhe ihre seligen Abendflüge ausführten.

Wieder ein Abschied

Zuletzt nahm ich vom Müllermädchen Abschied. Wir klommen miteinander Hand in Hand hinter der Mühle den grünen Hang hinauf, sahen sehr viele Veilchen und Schlüsselblumen, ohne etwas anzurühren, und ruhten nicht, bis wir ganz oben am Waldrand ankamen und nun weit übers Tal, über den Rhein und sogar über die Schweizer Vorberge hinwegsehen konnten. In das ganz trockene und warme dürre Laub, das vor den vordersten Stämmen lag, ließen wir uns nieder. Lange Zeit wandten wir schweigend die welken Blätter hin und her, um immer wieder eine verborgene Anemone darunter zu entdecken oder ein Veilchen. Die ersten Spinnen waren schon da; sie sahen trocken und erwärmt aus. Sogar ein Zitronenfalter taumelte zwischen Schatten und Sonne hin und her. Meiner Freundin war neuerlich verboten, mit mir umzugehen, und sie wußte, daß sie nachher Schläge bekommen würde. An den Händen, mit denen wir nicht spielten, hielten wir uns. Endlich wollte sie hören, was das für eine Anstalt sei, in die ich da komme, und ich hatte keinen Begriff davon. Unausgesprochen zwischen uns schwebte die Tatsache, daß wir sie uns beide sehr traurig vorstellten, noch kein Mensch hatte Gutes von einer Anstalt gehört.

»Gib mir deine Schuhe und nimm meine!« sagte sie darauf. Ich begriff, daß sie ein Andenken wollte, doch waren meine Schuhe schöner als die ihren. Ich hatte vornehme Stadtstiefel, an denen noch fast alle Schnürhaken schwarz waren; sie hatte Bauernschuhe mit groben und sogar abgebrochenen Haken und alten verknüppelten Schnürbändern. Außerdem konnte ich bestimmt darauf rechnen, daß mir die schwarze Tante noch einmal vor dem Abschied die Hölle heiß machte, aber das war jetzt alles ganz gleich. In feierlicher Wehmut wechselten wir nicht die Ringe, aber die Schuhe. Meinerseits dehnte ich die Handlung auf die Strümpfe aus, und auch die Strumpfbänder forderte ich an. Heute war die Welt wieder ganz protestantisch, weil es eine Frage zu begrübeln gab; dafür ist diese Religion wie geschaffen. In der Freude sind wir alle mehr katholisch.


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