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Alles, was in der Anstalt heute stieß und verwundete durch seine feindliche Härte, der Armenstandpunkt, die Demut mit zwei »t«, selbst die geistlichen Exerzitien, das war früher pulsendes, phantasievolles Leben gewesen, das mitreißend und gläubig aus der Brust eines überzeugten, selber armen und selber kindlich-frommen Mannes strömte, eines Mannes, der die Welt mit Freude und Schwung aufgegeben hatte, um hier den Ärmsten der Armen ein Heim zu schaffen, mit ihnen niemand und zugleich des Gottes voll zu sein, und der den Armutskult als Aufrichtung und Schonung betrieb, als einen Stolz vor Gott und eine unangreifbare Würde und Heiligkeit innerhalb der Welt. Eines Tages war Christian Heinrich Cranach, der Vater des heutigen Gotthold, vor den Großherzog von Baden getreten, um von ihm die Überlassung der leerstehenden Komturei zu erbitten, die er nach langem Suchen um ein Lokal für seine Träume und Sehnsüchte da am Rhein entdeckt hatte. Die Bauern hatten in der Weile alles darin gestohlen, was nicht niet- und nagelfest war, die Schlösser samt den Türen, die Fenster, die Öfen, ja sogar nagelfeste Sachen verschwanden, wie die Bretter der Fußböden, und wer sein Haus frisch decken wollte, erschien nachts mit einem Fuhrwerk hinter dem Schloß, um sich eine Last Ziegel von dessen Dach zu holen. Christian Heinrich Cranach trat das Schloß also als Ruine an. Geld hatte er so wenig wie der berühmte Pastor Francke in Halle, der die dortigen Anstalten durch nichts als durch seinen Glauben und seine Gebete errichtete. Durch ähnliche Mittel, die besonders die baslerische und die württembergische Frömmigkeit weckten – Cranach stammte aus Württemberg –, deckte er das Dach wieder ein, holte Türen, Fenster und neue Böden ins alte Schloß, und was er nicht gleich zustande brachte, das kam im nächsten Jahr.
Inzwischen hauste er bereits mit dem ersten Stamm armer Kinder und mit seiner Gattin, die ihm an Warmherzigkeit und an Hartnäckigkeit der Liebe, wie es scheint, nichts nachgab, in der großen, hallenden Komturei, führte einen helläugigen und zähen Kampf mit den Bauern, um ihnen die zur ritterlichen Ökonomie gehörigen Äcker aus den Krallen zu reihen, und bildete die Lebensform der neuen Gemeinde, ihre Rhythmen und gottesdienstlichen Bräuche, treu seinem Glauben, seiner pädagogischen Sendung und dem dichterisch beschwingten Geist eines Gottesmannes und Kenners der Welt, welche Eigenschaften er in einer Persönlichkeit weitsichtig vereinigte. Der von ihm übermittelte Lieblingsspruch lautete: »Ohne Liebe lebt man nicht. Das ist richtig. Sie macht's Leben wichtig.« Das Motto: »In Demutt muß man sich demütigen mit zwei ›t‹!« wird er mit trostreichem Lächeln und stets wieder erfreut über die gute dialektische Formulierung angewendet haben, denn er war ja auch ein starker Mann mit der Feder. Außerdem war er ganz besonders musikalisch; das geht aus allen von ihm hinterlassenen Gebräuchen hervor, die durchweg klingen und singen von Liedern und Festkantaten, zum Teil von ihm selber verfaßt. Die ehemaligen Brüder aus seiner Zeit, die ich kennenlernte, hatten auch einen ganz anderen Geist und kernhaften Stand als die steifen Pietisten, die den Platz in meinen Jahren bevölkerten, und die kümmerlichen Schulmeister, die dann aus ihnen mit wenigen Ausnahmen wurden.
In diese volkstümlich gottselige Gründung hinein setzte das Geschick dann einen Mann, der eines beinahe gegenteiligen Geistes voll war. Man sagte uns, früher sei vieles anders gewesen, als Gotthold Cranach noch gehen und unter den Kindern sein konnte. Aber die Nachrichten, die darüber zu uns drangen, zeigten doch durchweg eine innerlich hochfahrende, ungeduldige und eifernde Seele, deren Umgang Herablassung war, ob sie wollte oder nicht, und im Grund immer mit gewisser Scheu als Störung oder doch als nicht erfüllbarer Anspruch empfunden wurde. Keiner von uns wünschte sich in jene Zeit. Man sah nicht, wie man sich etwas davon versprechen sollte. Wünschte man sich so etwas, so übersprang man sie und wünschte den vorigen Zustand mit Christian Heinrich als Mittelpunkt, aber meistens wünschte man sich überhaupt heraus. »Übers Jahr im andere Summer bin i frei vom Demutter Chummer, bin i frei vom Demutter Charre. I wott, er wär scho lang der Rhi ab g'fahre!«
Wie ein Spiegel erschien mir die Erklärung, die man uns für die Entstehung des Leidens gab, das sein und unser Leben übertrauerte. Als Mann in den kräftigen, raschen Jahren hatte Gotthold Cranach einmal in Basel zu tun. Gerade recht kam ihm ein Floß den Rhein herabgeschwommen. Er rief die Flößer an, näher zum Ufer zu lenken und ihn mitzunehmen. Die Flößer war er von Tübingen, seiner Universität, gewöhnt, wo die Studenten einen unaufhörlichen Krieg mit ihnen führten, ihre Rufe nachäfften und hundert Gelegenheiten und Anlässe fanden, um mit ihrer gelehrsamen Müßiggängerei als Herrensöhne, die sie waren, schwer arbeitendes Volk zu belästigen. Diese Flößer gehorchten der Zitation, da sie von Tübingen nichts wußten, aber der Herr Vater, zu ungeduldig, um zu warten, bis das Floß am Land war, sprang ins Wasser und fuhr dann mit nassen Kleidern den zugigen Rhein bis nach Basel hinunter. In der Folge zog er sich die Krankheit zu, die als Ausgang seines Leidens betrachtet wurde.
Von stillerer Art, eine mehr demokratische, einfache und lebenstreue Natur war sein Bruder Johannes. In jungen Jahren sollte er, was man so hörte, weit herumgekommen sein. Bis ins Heilige Land hatte ihn sein Trieb geführt. Die Pyramiden hatten seine Augen gesehen. Er hatte auf Kamelen geritten und wußte, wie Kamelsläuse beißen. Und was wir ihm besonders hoch anschrieben: er kannte sogar die Wüste Sahara und die Beduinen und Araber. Von alldem glomm in seinen grauen Augen ein innerlich starkes und ungebrochenes Licht weiter, das ihm einen unverkennbaren Zug von Eigenleben verlieh. Wahrscheinlich gehorchte auch er jenem dynastischen Zwang, indem er hier dem Werk seines Vaters diente und sich unter seinem Bruder mit einem abhängigen Platz begnügte, während er draußen vielleicht einen unabhängigen aufgegeben hatte. Aber diese Entsagung ließ er niemand büßen. Er war Junggeselle geblieben, weil für eine zweite Frau in der Anstalt kein Raum war. Nun bewohnte er mäßig betreut sein einfaches, geräumiges Zimmer mit dem Blick nach dem hinteren Hof und dem Garten, wo am meisten geheimer Unfug getrieben wurde, und wo die Bewachung am nötigsten tat. In dieses Zimmer kam man nur selten, und beinahe nie unter hochgemuten Umständen.
In das Schicksal, das mich hier, um diese beiden Männer gelagert, erwartete, trat ich frischweg ein durch eine Mißstimmung meines Großvaters über einen Brief, den ich nach Wyhlen geschrieben hatte. Eines Tages war in der Morgenandacht darauf hingewiesen worden, daß die Katholiken einen Aberglauben hätten und nicht selig werden könnten, da sie zu diesem Behuf den falschen Weg einschlügen. Die Nachricht konnte nicht anders, als mich stark bewegen und beschäftigen, war doch mein Großvater und alles in dem lieben Wyhlen katholisch. Schließlich setzte ich mich eines Morgens früh hin und schrieb meinen Großeltern einen Brief, worin ich sie unter anderem herzlich bat, doch nachzudenken, was sie da tun könnten, um dem sicheren Unheil zu entgehen, dem sie mit ihrer katholischen Konfession entgegeneilten. Wenn es irgend ginge, möchten sie noch protestantisch werden. »Und dann will ich Euch«, schrieb ich außerdem, »noch etwas sagen, worüber Ihr Euch sicher freuen werdet: Gott donnert mit seinen Donnern gewaltig und tut große Dinge und wird doch nicht erkannt!« Mit diesem Bibelspruch, der mir einen machtvollen Eindruck gemacht hatte, schloß ich die Epistel Johanni. Unsere Briefe hatten wir beim Herrn Vater abzugeben, von wo sie befördert wurden; das Porto dafür mußten wir selber erlegen. Es wurde nichts daran beanstandet als die Adresse, weil darauf vor dem Namen »Felix Kanderer« das Herr fehlte. Nun war mir doch nie beigekommen, daß mein Großvater ein Herr sei. Er war mein Großvater, und damit gut. Ich begriff also den Einwand nicht und grinste. »Nun«, sagte der Herr Vater ein wenig unzufrieden, »was würdest denn du sagen, wenn dir da jemand einfach schriebe: ›An Johann Schattenhold in Demutt!‹« Aber das schien mir nur in Ordnung, denn auch ich war ja kein Herr, und unbelehrt verließ ich für diesmal den Plan.
Nun kam aber nach einigen Tagen an die Anstaltsleitung ein Brief von meinem Großvater, der sich wohl nicht in besonders erfreuten und schmeichelhaften Wendungen über meine Fortschritte in der Religion ausließ. Ich wurde vor den Herrn Vater gerufen, wo ich zum erstenmal erfuhr, daß auch das Zeugnis vor den Menschen, auf welches sonst so großer Nachdruck gelegt wurde, seine Grenzen haben konnte. »Wer bist du denn, daß du erwachsene Personen ermahnen könntest?« wurde mir ein wenig ärgerlich vorgehalten. »Ermahne nur dich selber; mehr wird von dir noch nicht erwartet.« Etwas ungnädig behandelt, da ich wieder nicht begreifen wollte – hatte man denn nicht meinen Brief kontrolliert und durchgehen lassen? –, verließ ich dies gefährliche Zimmer zum zweitenmal im Verlauf der Briefaffäre.
Es gibt je und je solche Unternehmungen, die einmal das Mißgeschick in sich haben, und die dessen eine endlose kette erzeugen können, ohne daß bei ihrer Inswerksetzung auch nur ein unebener Gedanke obgewaltet hätte. Es war ein windiger Tag, und da ich mich nicht vorsah, nahm mir der Durchzug die Tür aus der Hand und schlug sie zu. Ich erschrak sofort, denn so viel hatte ich schon begriffen, daß das notwendig Weiterungen nach sich ziehen mußte. Richtig hörte ich auch drinnen die Stimme des Herrn Vaters, die mit erhöhtem Nachdruck meinen Namen rief. Verzagt kehrte ich um und trat wieder ein.
»Warum hast du die Tür zugeschlagen?« begehrte er zu erfahren.
Schüchtern brachte ich vor: »Ich habe sie nicht zugeschlagen. Der Wind hat das getan.«
»Du wirst heute mittag an der Wand darüber nachdenken, wer es getan hat,« war jedoch seine kurze Antwort.
Meine Mißfälligkeit schien mir nun schon so groß, daß ich sie nicht mehr zu überblicken vermochte. Mit bangem Herzen – denn was konnte da alles noch nachkommen! – zierte ich mittags die Wand. Nach der Suppe wurde ich gerufen.
»Warum stehst du an der Wand?«
»Weil mir der Wind die Tür zugeschlagen hat!«
Ich kehrte an meinen Standort zurück. Nach dem ersten Gang Gemüse hieß man mich wieder antreten.
»Warum stehst du an der Wand?«
»Der Wind hat mir die Tür aus der Hand genommen und zugeschlagen.«
»Aus Trotz zugeschlagen hast du sie. – Gehe jetzt und iß deine kalte Suppe. Das soll dir eine Warnung sein für das nächste Mal.«
Ich wollte noch einmal widersprechen, aber die Art, wie er mich stehenließ und sich dem Bissen zuwandte, den ihm seine Frau reichte, ließ es mir für geratener erscheinen, mich davonzumachen.
Nachher im Hof begegnete mir Herr Johannes. Während man sonst von dem vielbeschäftigten Mann wenig beachtet wurde, obwohl er alles sah, blieb er heute bei mir stehen.
»Was hat's denn mit dir gegeben«, erkundigte er sich, »daß du den Herrn Vater so erzürntest?«
Irgend etwas im Klang der Frage ließ mich vermuten, daß man ihm trauen konnte. Ich erzählte wahrheitsgetreu, und er hörte ruhig zu.
»Und mit dem Brief, was war da?«
Ich sagte, ich hätte dem Großvater geschrieben, er sollte vielleicht protestantisch werden. Hinter seiner Brille mit dem eisernen, ein bißchen angerosteten Rand spielte ein Lächeln.
»Ja, sieh mal«, meinte er ernsthaft, »man muß keine Leute bekehren wollen. Das führt selten zu was Gutem. Möchtest du denn katholisch werden?«
»Nein«, gab ich zu. »Aber das ist auch etwas anderes. Protestantisch ist doch richtiger.«
»Da höre doch einer!« wunderte er sich. »Woher weißt du denn das?« Auf diese Frage blieb ich verdutzt die Antwort schuldig. Während jenes Lächeln dann wieder hinter seiner Brille aufging, meinte er noch zum Guten ratend: »Für dich wird es vorläufig richtiger sein, daß du den Herrn Vater nicht wieder gegen dich aufbringst. Solch ein kleiner Knirps zieht doch immer den kürzeren.«
Da jemand mit einem Anliegen auf ihn zukam, ließ er mich stehen und wandte sich dem Geschäft zu.
Hinter dem Schloß, an die »Schütte«, den Kornspeicher, angebaut, zog sich ein niederes Gebäude hin, das die Waschküche und die Bäckerei enthielt. Nun sollten wir im hinteren Hof überhaupt nicht sein, aber oft führten uns die Spiele dahin. Eines Nachmittags lief ich einem Ball nach, der bis zum Backhaus geflogen war. Als ich ihn hatte, holte ich gleich kräftig aus, um ihn den anderen zuzuschleudern, da für meine Partei viel daran lag, ihn schnell wieder zu haben. Dabei übersah ich aber einen offenstehenden Fensterflügel in meinem Rücken. Eine Scheibe klirrte zersplittert herunter. Indem ging auch schon droben das gefürchtete Fenster auf, das alles sah. Zerbrochene Scheiben zogen unnachsichtlich Strafen nach. Nie kam es vor, daß Herr Johannes eine Ausnahme machte. Er schwebte über unserer Unordnung mit der strengen Gesetzmäßigkeit eines Sternensystems. Mir war daher nicht hoch zumute, als ich mit dem Taschentuch um die Hand zu ihm hinaufstieg. Die Sache mit dem Fenster war im Augenblick abgemacht; ich hatte den Schaden aus meiner Kasse zu ersetzen. »Aber was ist das mit deiner Hand?« fragte er dann. Ich mußte das Taschentuch abwickeln; sie blutete so stark, daß es sogleich auf den Boden zu tropfen begann. Erschreckt zog ich den Verband wieder darum, um abzugehen. Jedoch er hieß mich warten, goß Wasser in seine Waschschüssel, äußerte sich anerkennend über den schmutzigen Lumpen, den ich um die Wunde gewickelt hatte, da das der beste Weg zu einer Blutvergiftung sei, und während sich das Wasser mit großer Schnelligkeit rötete, holte er Verbandstoff und Karbol herbei.
Ich inzwischen fühlte seitlich meine Augen immer stärker von etwas Glänzendem angezogen, einer goldenen Erscheinung von hoher Liebenswürdigkeit und Weisheit, die mir schon bei meinem wenig mutigen Eintritt entgegengelächelt hatte. Es war Kwannon, die Göttin der Liebe und Barmherzigkeit, wie ich viel später erfuhr. Während mich Herr Johannes verband, konnte ich meine Augen nicht mehr halten, und als ich sie dort hatte, brachte ich sie nicht mehr weg, denn wer wußte, ob nicht sie es war, deren Winken er gehorchte. Jedenfalls hatte ich es hier mit einer starken und vielbedeutenden Repräsentantin zu tun; so viel sah ich gleich.
»Weißt du, was das ist?« fragte mich Herr Johannes endlich, da er meine Blicke bemerkte.
Ich erinnerte mich schnell an den allein richtigen Glauben, an Moses und die Propheten, und was ich von den Heiden, den Philistern und den Ammonitern schon gehört hatte. Mit fragendem Ton erwiderte ich: »Ein Götzenbild?«
Einen Augenblick war er still.
»Woran erkennst du ein Götzenbild?« stellte er mich dann auf die Probe.
Ich dachte nach.
»Daran, daß man es anbetet!« sagte ich.
Er schien die Antwort gutzuheißen.
»Ist der Christus dort auch ein Götzenbild?« versuchte er mich weiter.
Ich sah hin.
»Nein«, erwiderte ich bestimmt. »Das ist Christus.«
Das Lächeln erschien wieder hinter seiner Brille.
»Dann bist du also ein Götzendiener!« meinte er in undurchsichtigem Ton. »Wenn du doch das geschnitzte Holz für Christus ausgibst. Wie stehen wir jetzt miteinander?«
Das wußte ich selber nicht. Ich sah ihn erwartend an.
»Bist du eigentlich gern hier?« fragte er mich statt der Antwort. »Kannst mir's ruhig sagen.«
Ich fühlte unter den stillen, alten Händen, die mich verbanden, daß ich das konnte, und leise entgegnete ich: »Beim Großvater war es schöner!«
Er nickte ganz wenig.
»Obwohl du ihn bekehren wolltest. Da bist du ihm doch schon einmal untreu geworden.« Ich schwieg betreten. »Sieh mal«, fuhr er fort, »auch andere wären lieber woanders, denn was hat man viel von euch? Früh verdorbene Jungen seid ihr. Mit sechzig gehe ich hier ab, setze mich in Basel zur Ruhe, miete mir eine kleine Wohnung und spreche mit meinen Bildern und Figuren; auf die kann ich mich ruhig verlassen. Wirst du mich dann besuchen, wenn du in Basel bist?«
Das versprach ich aufrichtig, aber er schien wenig daran zu glauben.
»Ihr ungetreue Naseweise lügt einem die Hucke voll. Es ist besser, man traut euch nicht.« Ich war verbunden. »So, nun gehe. Heute abend kommst du noch einmal her und zeigst vor, ob es nicht mehr blutet.«
Mit großem Kopf ging ich ab, verwundert über das Gehörte und Gesehene, traurig darüber, daß ich verdorben sei, und daß er mir nicht trauen wollte, dazu gewaltig befriedigt und stolz über meinen Verband, den er mir eigenhändig angelegt hatte. Trotzdem hatte er recht mit meiner Untreue. Ich sollte mich abends noch einmal vorstellen, aber ich scheute mich, ihm wieder unter die Augen zu treten, und fühlte mich eigentlich auch wohler im Dunstkreis von meinesgleichen, wo keine rätselvollen Hoheiten vorkamen, und wo jeder tat und ließ, was der andere auch tat und ließ. Mit schlechtem Gewissen ging ich zu Bett, und am anderen Tag vermied ich vor lauter Verehrung und Liebe ängstlich, seinen Weg zu kreuzen.
Nun war da der kleine, stille Anstaltsschuster Kunzelmann. Wir liebten und schätzten ihn allgemein, wußten aber wenig mehr von ihm, als daß er schwermütig war, an innerlichen Anfechtungen litt und sich als verloren betrachtete. Dabei hatte er sicher noch keinem Vögelchen eine Feder gekrümmt und aß mit Gewissensbissen mittags sein Fleisch.
Wir hatten eine warme, aber dunkle Sommernacht. Kein Lüftchen wehte, obwohl der Himmel bedeckt war und jedermann auf die Nacht ein Gewitter erwartet hatte. Manche von uns waren wegen der Schwüle noch nicht eingeschlafen. Vollkommene Stille herrschte draußen. Ganz leise, wie verhüllt rauschte der Rhein. Da tönte etwas durch die Stille, wovon ich zuerst lange nicht wußte, war es gelacht oder geschluchzt. Bloß daß es ein Mann war, schien mir klar zu sein. Schritte begannen drunten umherzuirren. Das Weinen steigerte sich zum Ächzen und dann zu einem qualvollen, schluchzenden Schreien. Eine Weile war es wieder still; nur das dunkle, tapsende Umherirren dauerte noch eine Zeitlang fort. Schließlich hörte auch dies auf.
Mir war es bereits kalt den Rücken hinuntergelaufen; ich hatte nicht gewußt, daß Männer weinen können, und das Herz zitterte mir leise. Auf einmal schrie der Mensch in der Nacht ganz deutlich und überlaut: »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?« mit einer solchen furchtgepeinigten, seelengemarterten Stimme, daß ich steil aus dem Bett aufschoß. Dem Aufschrei schloß sich wieder ein ächzendes, einsames Schluchzen an, und das Herumtapsen begann von neuem. Noch mehrere von uns saßen in ihren Betten aufrecht. Andere wurden wach und fragten, was es gebe, ohne Antwort zu bekommen. Ich lag jetzt im zweiten Saal, dessen Fenster auf die Kastanien zu gingen; von dorther kamen die Töne. Nach einigen letzten, wilden Schreien der Gottverlassenheit und Weltangst verlor sich der einsame Mann drunten in ein halblautes Klagen, aus dem immer wieder die Worte aufklangen: »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?«
Aus verschiedenen Betten bei uns hörte man weinen. Die Luft war nun geladen mit Furcht und mit dem Grauen der Lebenseinsamkeit. »Wenn nur jemand käme und da hülfe!« dachte ich immerzu. Mir tat der Kopf weh, und die Kehle war mir wie zugeschnürt. Aber die Persönlichkeit des Unglücklichen bestand mir ja kein Zweifel mehr. Da, endlich hörten wir noch andere Schritte, die von der Haustür her kamen, und eine ruhige, teilnehmende Stimme, die Stimme des Herrn Johannes, mischte sich in das gebrochene Wimmern. Was er sagte, konnten wir nicht verstehen, aber daß er es unternahm, so einfach und geradehin menschlich dem Weben der Dämonen entgegenzugehen, in das Kunzelmann verstrickt war, das erfüllte uns, einen wie den anderen ohne Ausnahme, mit einer ganz tiefen, herzlichen Ehrfurcht, die beinahe mehr als Liebe war. Dies Auftreten des verehrten Mannes an so mystischer Stelle gab ihm in unseren Augen und Herzen eine geradezu priesterliche Bedeutung und Schönheit, die ihn – mit Spannung hatte ich darauf gewartet – auch bei Tage von nun umgab.
Über Kunzelmann hörte man noch, daß Herr Johannes ihn gefunden habe vor einem Baum stehend, an den er immerzu verzweifelt seinen Kopf aufschlug. Von dem ruhigen alten Mann umfaßt stieg er darauf mit ihm nach dessen Zimmer hinauf, wo er von ihm getröstet und bewacht auf seinem Sofa die Nacht verbrachte und übrigens bis in den Morgen hinein wohlgeborgen schlief. Beim Frühstück nahm er seinen Platz ein wie immer, und Herr Johannes erschien mit der gewohnten Stille und Jenseitigkeit am Herrentisch.
Das war der Tag, an welchem ich die Morgenandacht störte. Mir war das Herz noch schwer von den Erlebnissen der Nacht. Auf uns allen lag mehr oder weniger eine feierliche Stimmung. Wir sangen das Lied: »Wer nur den lieben Gott läßt walten!« Herr Johannes hatte für Kunzelmann oder auch für sich selbst ein kleines, strenges, aber inniglich tröstendes Präludium gespielt. Als nun das Gebet gesprochen und der Text gelesen war und der Herr Vater zu predigen angefangen hatte in seinen großen und schwer begreiflichen frommen Ausdrücken, in denen er immer mit Gott rang und gegen sein Verhängnis und seine Angst ankämpfte, fing ich plötzlich aus übervoller und bewegter Seele flüsternd an zu beten: »Lieber Gott, laß doch den Herrn Vater selig sterben. Nimm ihn zu dir, und gib uns dafür den Herrn Johannes zum Vater!« Dies Gebet wiederholte ich mit steigender Selbstvergessenheit und Inbrunst, stellte es um, schmückte es aus, knüpfte Gelöbnisse daran, bis der eine Gegenstand meiner Fürbitte plötzlich seine Predigt unterbrach und eine Stille eintreten ließ, in die ich auch noch, da ich einmal im Schwung war, deutlich vernehmbar weit hinein betete. »Wer schwatzt denn da?« hörte ich endlich seine erstaunte Stimme fragen. Wie auf den Mund geschlagen verstummte ich. Meine Nachbarn sahen mich an, ich aber starrte ratlos und erschreckt nach dem Mann droben auf dem Katheder. »Wer hat da geschwatzt?« fragte dieser noch einmal. Ich wagte mich immer noch nicht zu regen. Schließlich sagte mein Nachbar links: »Der Schattenhold hat gebetet.« Der Herr Vater suchte mich mit den Augen, doch ohne daß sein Blick bis zu mir drang. »Dafür ist doch das allgemeine Gebet da«, bemerkte er dann etwas verstimmt. »Jetzt ist Predigt. – Jedenfalls soll man so beten, daß man die anderen dadurch nicht stört.« Darauf setzte er seine Textbetrachtung fort.
Ich will hier gleich noch einen dritten Fall anführen, in dem ich mit meinem Gehorsam gegenüber dem Trieb des Heiligen Geistes Anstoß gab. Die Grundlage unserer moralischen Existenz war, wie gesagt, die Armut, und aus ihr wurde die Ethik und der Weg zur Gottseligkeit entwickelt. Nun traf ich eines Tages im Hof einen armen alten Menschen, einen Bettler in Lumpen, zerrissenen Schuhen und wohl mit irgendeiner Krankheit behaftet, denn er sah sehr hinfällig aus. Der sprach mich an, ob ich ihm nicht etwas zu essen verschaffen könne. Ich war gleich ganz Mitleid und frommer Eifer, zumal er mich mit »Sie« anredete, ging spornstreichs ins Haus und nach der Küche, wo ich die Frau Mutter fand, der ich die traurige Sache brühwarm vortrug. Sie sah mich zuerst groß an. Dann sagte sie mit der immer etwas falschen Jovialität, die sie an sich hatte, und mit ihrem Elsässer Dialekt: »Wenn du etwas für arme Leute tun willst, dann hebe ihnen ein Stück von deinem Brot auf. In die Küche zu kommen und einfach zu verlangen, das ist noch keine Kunst.« Ich bekam nichts und zog begossen ab, hatte auch nicht den Mut, mich wieder vor dem Mann sehen zu lassen. Nachher versuchte ich den Rat zu befolgen, hob mir ein Stück Brot auf, das ich mir absparte, und trug es mit mir herum, bis es hart war, ohne daß sich ein Bettler einstellte. Und als wieder einer kam, hatte ich gerade kein Brot.
Eines Morgens nach der Andacht, ehe er weggetragen wurde, rief mich der Herr Vater auf und ließ mich zu sich auf den Katheder kommen.
»Du hast ja da neulich gebetet, und ich habe auch erfahren, was«, sprach er mich an mit einem Ausdruck, der gemischt war aus Schwermut, Unruhe und Freundlichkeit. »Betest du denn auch sonst?«
Ich war sehr betroffen von dieser Anrede. Die letzte Frage verneinte ich ängstlich.
»Tu es nur«, ermahnte er mich, aber ohne mich anzusehen; bloß meine Hand hielt er in seiner fest. »Gebete von Kindern haben besondere Kraft. Du bist noch rein, und wenige Sünden trennen dich von deinem Ursprung Gott. Bete abends vor dem Einschlafen – für dich und – für wen du sonst willst. Gott wird alles hören.«
Wahrhaft bestürzt stolperte ich von ihm fort. Was bedeutete das alles? Was für ein bittender und zugleich drohender Ton in der Brust dieses hochgestellten Mannes, der über uns gebot, war das? Was sagte mir der Blick, der mich zugleich bewachte und suchte, und doch mich zweifelnd mir selber überließ, an mir brütend und wühlend vorbeistürzte, ohne von seiner Härte etwas aufzugeben? Ich begriff traumhaft: darum war er vielleicht an mir vorbeigerichtet, um mir diese Härte jetzt zu verbergen, mich damit zu verschonen.
Eines Mittags wurde ich vom Spiel abgerufen, um zum Herrn Vater zu kommen. Er saß wie immer bei gutem Wetter in seinem Krankenwagen unter der Trauerweide. Eben hatte ihm ein Bruder die Zeitung vorgelesen. Der war nun entlassen weggegangen; der Herr Vater saß allein.
»Sag mal«, fing er lächelnd an zu sprechen, »da ist doch heute vormittag ein Junge laut singend durchs Haus die Treppe herunter gekommen. Weißt du vielleicht zufällig, was der gesungen hat?«
Ich blickte ihn an. Es schien heute eine mildere Stimmung, ein ferner, zarterer Schein um ihn zu weben. Er sah jünger und freundlich erinnert aus. Aus irgendeinem Grund schien er mir auch körperlich leichter zu sein als sonst.
»Ja«, sagte ich, wie auf einer Ungehörigkeit betroffen. »Er sang: ›Sah ein Knab' ein Röslein stehn.‹«
Der Junge war ich selber gewesen.
»Hat dir denn da dein Leben so gut gefallen?« fragte er weiter. »Hm?« Und als ich schüchtern schwieg: »Ich meine, warst du besonders fröhlich?«
Ich besann mich. »Ja«, gab ich leise zu. Die Sonne hatte so voll und groß ins Treppenhaus geschienen und alles mir einen so weiten, befreiten Eindruck gemacht, daß ich plötzlich zu singen anfing.
»Und was hat dich so gefreut?« Das konnte ich nicht sagen. »Denke einmal darüber nach – nicht jetzt – und schreib es mir auf, oder sage es mir mündlich. Fröhlichkeit ist keine Sünde. Aber man muß nicht das ganze Haus daran teilnehmen lassen. Vormittags liegen Unterrichtstunden. Wenn alle laut im Haus singen wollten, wenn es sie ankommt, was käme wohl dabei heraus? Hm?«
»Ein Lärm«, sagte ich, bedrückt von den unabsehbaren Folgen meiner Fehlbarkeit.
Eine kleine Weile war er still. Ich wagte mich nicht zu regen. Vom Kellerhals her hörte ich das Geschrei der Ballschläger; eben gewann meine Partei und lief unter großem Hallo in die Stellung hinein.
»Als ich so alt war wie du«, nahm er darauf die Unterhaltung wieder auf, »sang ich schon nicht mehr, außer in den Gesangstunden und den Andachten. Aber sonst beschäftigte mich unausgesetzt die Frage – weißt du, welche? Du hast die Strophe neulich gelernt.«
Ich dachte nach. »Alle Todesfreudigkeit?« begann ich fragend. Er nickte und sah dabei wieder so unruhig und sehnsüchtig verdunkelt aus, daß ich rasch fortfuhr:
»Alle Todesfreudigkeit
Ruhet in der einen Frage:
Ob du mich im Strahlenkleid
Finden wirst an jenem Tage!
Hör' ich hier des Geistes Nein,
Kann mich keine Welt erfreu'n.«
»Es ist eine Frage der Berufung«, erklärte er. »Niemand weiß vom anderen, ob er berufen ist, aber der Berufene fühlt es in sich. – Hast du nicht manchmal solch ein schweres, dunkles Herz, und dann eine plötzliche Wallung der Sehnsucht, um hinzugehen und irgend etwas zu vollbringen, das dich zu einem Großen macht?«
Beinahe bestürzt gab ich das zu wie einen verbrecherischen Plan.
»Da siehst du. Und glaubst du, daß sich die Berufenen in ihrer Jugend bewegen können wie andere Kinder?«
Von einem jenseitigen Blitz überzuckt erkannte ich alles, was er wollte, und bereits schien auch mir das nicht mehr erlaubt. Ich hatte auch jetzt ein schweres Herz.
»Sieh mal, du hast hier unten kein Eigentum. Darum aber bist du vielleicht berufen, weil dein Eigentum im Jenseits liegt. – Wo ist deine Mutter?«
»Ich weiß es nicht.«
»Hast du darüber nachgedacht, daß dies ein Zeichen ist? Alle anderen wissen, wo ihre Mütter sind, und wenn sie im Grab liegen. In Afrika hängen sie den Palmen Gewichte an, damit sie stark werden. Als ich jung war, legte Gott den Willen meines Vaters auf mich. Als er gestorben war, bekam ich das Leiden auferlegt. – Weißt du schon, was du werden möchtest?«
»Lehrer«, sagte ich rasch.
»Hm!« nickte er. »Warum Lehrer?«
Ich blieb wieder die Antwort schuldig.
»Auch Lehrer sein ist Berufung. Wir wollen sehen. – Geh nun, der Bruder hat das Zeichen gegeben. Vergiß in der Schule nicht, daß du Lehrer werden willst. Und sieh einmal zu, daß du heute abend und die ganze Woche nicht mehr an der Wand stehst wegen zuwenig Gewicht. Warum kommt das jetzt so oft vor? Hm?«
»Ich – denke zuviel an anderes, und dabei vergesse ich das Zupfen.«
»Denke nur an deine Berufung, und daß Gott dich Haar zupfen heißt, um dich zu prüfen. Ich werde aufmerken, was du tust.«
In der Folge schien es mir, als würde mir von manchen Stellen eine neue Beachtung zugewendet. Wenn zu irgendeiner besonderen Verrichtung ein Junge gebraucht wurde, so fing man an, mich zu nehmen. Ich wurde als Heinfelder Bote ins Auge gefaßt. Einmal durfte ich allein nach Karsau gehen, um dem Steuerakziser einen Brief zu bringen. Mir war ein bißchen zumute wie einem Menschen im Traum, der nur halbbekleidet unter vornehme Leute kommt, aber ein wenig fühlte ich mich auch geehrt.
Nebenher begann Herr Johannes mich zum Bälgetreten anzufordern, wenn er Lust hatte, ein wenig für sich Orgel zu spielen. Eine Stunde lang, solange er spielte, bewachte ich das Klötzchen, das mit dem Luftstand auf oder nieder glitt, gab Luft zu, wenn es sank, machte eine Pause im Treten, wenn es hoch stand, sah, wie er Register zog oder schloß, und fühlte mit stiller Verehrung seine Nähe. Seine alten ruhigen Hände walteten erfahren zwischen den Tasten. Seine grauen Augen lasen durch die Brille klar und wachsam die Bilder der Noten und diejenigen, die für den geistigen Blick dahinter stehen. Manche von seinen Lieblingsstücken erkannte ich viele Jahre später, als ich nach langer Unterbrechung zur Musik zurück durfte, unter dem Namen Johann Sebastian Bach wieder. Am liebsten spielte er aus dem »Wohltemperierten Klavier« das großartige Es-Moll-Präludium mit Fuge im ersten Band, dessen Harmonien und Linien mich heute noch berühren wie Geisterstimmen aus dem Jenseits, und die in kleinem Umfang die Geheimnisse einer ganzen Persönlichkeit samt ihrem Schicksal enthalten.
Eine andere derartige Begegnung mit ihm hatte ich ebenfalls in einer viel späteren Epoche meines Lebens, als ihn schon längst die Erde deckte. Mehrmals hatte ich von ihm den Spruch gehört: »Die Menschen muß man lenken sachte, wie man kleine Fischlein brät.« Das Wort war stets von dem unabhängigen und wohlwollenden Lächeln hinter der Brille begleitet und gewissermaßen illustriert worden. Als ich den Spruch daher eines Tages bei dem alten Chinesen Laotse antraf, flossen mir die so viel beschriebenen Größen Zeit, Raum, Jahrtausend und Kulturen in einen stillen, tiefen Augenblick zusammen, und dieser noch nahe Herr Johannes wie jener weltenferne Laotse vereinigten sich im gleichen wissenden Lächeln der Menschlichkeit.
Wie ich bereits mitteilte, befand sich auf dem alten, hohen viereckigen Wachtturm am Rhein ein Storchennest. Die Ankunft der Störche wurde jedes Jahr gespannt erwartet, einesteils, weil sie zu den stets wieder wunderbaren Ereignissen des Frühlings gehörten, und dann, weil derjenige, der den ersten Storch sah und ihn dem Herrn Vater melden konnte, eine Mark bekam.
Der Winter war lang und bang gewesen. Schwer hatte der Föhn gegen Schnee und Eis gekämpft. Immer war auf ein Tauwetter ein neuer Rückfall gefolgt, und den ersten Schwalben hatte es auf die flinken, glänzenden Flügel geschneit. Nun ging ein leise weinender Regen nieder, aber es war endlich warm geworden, und der endgültig siegende Föhn wehte beruhigt und sicher über die Berge herein. An solchen Tagen war ich in Wyhlen mit meiner Freundin den Hang hinter der Mühle hinaufgeklettert und hatte Veilchen gesucht. In der gleichen Tonart und Melodie mit dem warmen Regen ging darum in mir ein stilles Weinen der Sehnsucht nieder, das nie ganz in mir verstummte, und worüber mich heute auch das Orgelspiel des Herrn Johannes nicht recht trösten wollte, denn vor den Fenstern strichen seufzend und nach mir fragend die Geister und Seelen meiner verstorbenen Frühwelt vorbei.
Wie ich nun so traurig versunken weder las noch dem Orgelspiel zuhörte, fiel mir von der Seite ein heller, bewegter Schein in die Augen. Aufblickend erkannte ich das weiße Zeichen eines Storches, der mit ausgebreiteten Flügeln in einer Art von feierlicher Begrüßung über den vormittäglich leeren Hof hinschwebte, und eben begann er erregt zu klappern. Beim Turm beschrieb sein Genosse einen ebenso festlichen Bogen nach der anderen Seite. Mir erschien alles sogleich vor Augen, was sie in der Seele mitbringen mochten, Ägypten, die Pyramiden, die Nilebene, das Mittelländische Meer, das sie überflogen hatten, die Alpen, und das Herz wurde mir verlangend weit. Wie eine Notrakete entstieg meiner Bedrängnis der streng leuchtende Wunsch: »Die Quellen des Nils möchtest du entdecken!« Von diesem geographischen Geheimnis wußte ich bereits, und in jener Zeit saß und brütete ich manchmal über der Karte von Afrika mit ihren prophetisch leeren Stellen, ihren Wüsten und ihren Tafelbergen, dem märchenhaften Kilimandscharo und dem fragmentarischen Nilstrom. Der strömte nun da in der heißen, stummen Ferne tief im Süden durch blühende Sagenländer, durchrauschte Urwälder und unbekannte Gebirge und umglänzte vielleicht den Fuß nie betretener Vulkane, in deren Tälern Palmen ragten, und aus deren ewig verschneiten Gipfeln der Feuerschein stieg und sich an den darüber hinziehenden Wolken spiegelte.
Plötzlich fiel mir aber ein: »Die Störche melden!« Orgel und den Herrn Johannes sein lassen, was sie waren, und aus dem Andachtsaal rennen und die Haustreppe nach dem Flügel des Herrn Vaters hinaufstürmen, war beinahe eines. Aber schon auf der Mitte des Weges wurde meine Bewegung langsamer, und als mir die hohe, ernste Tür in die Augen fiel, stockte sie. Niemand wagte sich ohne Bangen in diesen stets vom Geist erfüllten Bezirk des Leidens, und für mich hing dort besonders eine Tafel unsichtbar mit meinem Namen darauf, die ich noch nicht ohne Scheu erblickte. Vor der Tür hielt ich an. Die Störche schwebten jetzt vereint in der Höhe über dem Turm. Mich wunderte, dass sonst noch niemand da war, um sie zu melden. Eine Mark stand auf dem Spiel, und eine Gelegenheit, sich hervorzutun, aber ich drehte mich enttäuscht und unschlüssig vor der Tür herum; selbst als ich mir sagte, das sei doch eine ganz einfache Sache, und die Hand auf die Klinke legte, war das nur eine mechanische Bewegung, welcher das rechte schwunghafte Zutrauen gänzlich fehlte.
Plötzlich hörte ich auf der Treppe ein vielfüßiges, ehrfurchtsvolles Getrampel und Gescharr. Die Brüder stiegen herauf, um eine Stunde beim Herrn Vater zu haben; wenn ich also noch melden wollte, so mußte es schnell geschehen. Aber ich konnte mich nicht entschließen. Währenddem kam die Spitze des Zuges mit dem Senior bei mir an. Dieser fragte mich mit erstauntem Ernst, was ich da wolle. »Die Störche sind doch da!« sagte ich unsicher und vollkommen ernüchtert, denn ich wußte bereits zur Genüge, was diese Brüder für Wesen waren. Er tat einen gleichgültigen Blick hinaus. »Schon gut«, sagte er dann etwas belästigt. »Ich werde es drinnen melden. Geh nur wieder an deine Arbeit.« Damit klopfte er an die Tür, und die Brüder gingen an mir vorbei hinein. Mir aber fiel auf einmal ein, daß ich dem Herrn Johannes weggelaufen war, und irgendeine ferne, ungewisse Ähnlichkeit ging mir auf zwischen Petrus, der den Herrn Jesus unter Beihilfe eines Hahnes verraten hatte, und mir, der ich wegen dieser Störche den Herrn Johannes im Stich ließ, um zum Herrn Vater zu rennen. Ziemlich kleinlaut kehrte ich zu ihm zurück, um ihm dazu zu verhelfen, daß er das angefangene Stück fertig spielen konnte. Ich fand ihn beim Fenster vorn, wo er nach den Störchen blickte, und Gott wußte was dabei dachte, denn das, was sie gesehen hatten, das kannte er ja auch. Die Orgel hatte er geschlossen, das Notenbuch weggetan.
»Nun, hast du deine Mark?« fragte er mich launig. »Wozu doch die großen Einrichtungen der Natur so einem kleinen Kerl verhelfen können! Laß sehen!«
Ich hatte aber nichts zu zeigen. Zuerst wußte ich gar nicht, was ich sagen sollte. Ich schämte mich furchtbar vor ihm, würgte an der zweiten Enttäuschung, daß er die Orgel geschlossen hatte, ohne das Stück fertig zu spielen, und empfand sie als eine Bestrafung für meine Untreue gegen beide, ihn und die Orgel. Ich hätte heulen mögen.
»Ich – war nicht drinnen«, würgte ich endlich hervor. »Ich wußte nicht – – Und dann kamen gerade die Brüder –!«
Er betrachtete mich aufmerksam. »Was wußtest du nicht?« fragte er. Ihm eignete so eine behutsame Art, einen in einer Frage gewissermaßen unterzubringen.
»Weil ich mich nicht hineingetraute«, gestand ich. Ganz ratlos war ich nun.
»Ja, ja«, spottete er. »Der Herr Vater beißt euch die Nasen ab. Und mich hast du auch ohne Wind sitzen lassen. Was sollen wir jetzt eigentlich von dir denken?«
Ich ließ den Kopf hängen, denn er sprach meine eigenen Gedanken aus. Inzwischen griff er in die Hosentasche.
»Hier hast du eine Mark«, sagte er dann. Als ich ihn wieder ansah, war das Lächeln noch da, aber weit hinter seine Brillengläser zurückgewichen. »Ich werde sie mir vom Herrn Vater zurückgeben lassen. Ich kann ihm doch sagen, daß du dich zu ihm nicht hineingetrautest, obwohl du mir mitten aus dem Stück wegranntest?«
Deutlich sah ich ein, wie unvorteilhaft die Nachricht meinem Ruf sein mußte. Ohne sprechen zu können, schüttelte ich stumm den Kopf, und die Mark nahm ich auch nicht entgegen, so gerne ich sie gehabt hätte.
»Also gut, ich werde nichts sagen. Aber die Mark nimmst du vielleicht als Geschenk von mir, wenn du sie auch nicht verdient hast? – Oder willst du warten, bis ich sie dir gebe, weil ich finde, daß du sie verdienst?«
Ich war ihm geradezu dankbar für den neuen Ernst, der wieder in seinem Ton erschien.
»Ich will warten, bis ich sie verdiene«, sagte ich leise. »Es tut mir leid, daß ich weggerannt bin!« fügte ich noch aufrichtig hinzu.
»Schön, wir wollen sehen!« schloß Herr Johannes das Gespräch. »Es wird sich vielleicht doch einmal zeigen, daß man sich auf dich verlassen kann! Ganz umsonst wirst du auch nicht Johannes heißen.«
Herr Johannes hatte neben den übrigen Verantwortungen auch die Verwaltung der Heidenkasse, für die er eine besondere Zärtlichkeit und Zähigkeit entwickelte. Nicht nur brachte er sie bei jeder guten Gelegenheit und immer mit eigenartigen Methoden in Erinnerung, sondern darüber hinaus diktierte er gern kleine Geldstrafen für sie, die auch die Brüder nicht verschonten.
Nun hatte in der Zeitung die Nachricht von einer großen Pestepidemie in Indien gestanden, die der Herr Vater bekanntmachte mit der Ermahnung, Gott zu danken für die gesunden, christlichen Verhältnisse, unter denen wir leben durften. Schmunzelnd – es war mittags beim Essen – fügte Herr Johannes bei, Gott mit dem Mund zu danken koste nicht viel, aber man möge sich an seine Heidenkasse erinnern, deren Ertrag diesmal der indischen Mission zufließen solle. Nach dem Kaffee zwischen vier und fünf Uhr werde er in seinem Zimmer sein, um Gaben entgegenzunehmen.
Er hatte da ein besonderes Kunstwerk, das einen Mohrenknaben auf einem Felsen kniend darstellte. In den Felsen warf man sein Geld ein, worauf der Knabe dankend mit dem Kopf nickte. Auch von diesem Nicken hat sich mancher verlocken lassen, immer wieder einen Groschen einzuwerfen. Mir war es gleich eine beschlossene Sache, dem Ruf zu folgen, und es fand sich, daß etwa acht von uns dem gleichen Antrieb unterstanden. Alle verlangten sie nachmittags vom Lehrer aus ihren Kästchen Geld für die Heidenmission. Ich aber hatte den Liebestrieb, am meisten zu geben, und als ich sah, daß keiner über fünfzig Pfennig hinausgegangen war, verlangte ich eine Mark, und zwar in lauter einzelnen Zehnpfennigstücken, um den Heidenknaben recht oft nicken zu machen. Der Lehrer fand das etwas viel, aber er willfahrte mir. »Du hast jetzt aber nur noch dreiundzwanzig Pfennige darin!« machte er mich aufmerksam. Darauf war ich vorbereitet gewesen. Als ich jedoch mit meinem vielen Geld die Treppe hinunterstieg, um es einzuliefern, fand ich mich damit aufdringlich. Wollte ich mich denn mit einer Mark wieder in seine Gunst kaufen, nachdem ich ihn wegen ebensoviel im Stich gelassen hatte? Im richtigen Moment begegnete mir mein Freund Leuenberger, dem ich von meiner Mark fünfzig Pfennige abtrat, damit er auch einzahlte.
Alles wickelte sich nun anonym und unauffällig ab. Einer nach dem anderen warf sein Geld in den Heidenfelsen, und jedem nickte der Mohrenknabe seinen Dank. Keiner gab zu, daß der nächste einwarf, bevor der Knabe vollkommen ausgenickt hatte. Herr Johannes stand dabei, richtete an den und jenen ein paar Worte – ich sah welche erröten, obwohl sie es erwartet und gewünscht hatten –, und allen erlaubte er, bis halb sechs zu spielen, da sie zu ihrem Geld auch ihre Freiheit gegeben hätten; ihre Gesundheit verlangte aber die Heidenmission nicht. Das war eine unerhörte Gunst, die große Begeisterung erweckte, aber man wagte diese erst draußen zu äußern.
Mit der freien Zeit fingen wir nicht einmal viel an. Wir standen und gingen herum, fühlten uns geehrt, ließen uns von den anderen beneiden und bewundern, und als diese aus dem Hof verschwunden waren, fanden wir uns zu unserer Betretenheit nicht so wohl, wie wir erwartet hatten, da wir aus der Ordnung fielen. Die Gärtner unter uns drückten sich lange vor der Zeit dem Garten zu. Wir, schon mehr von der Pedanterie angekränkt und weniger mit unserer Arbeitstätte durch Natur verbunden, hielten unsere Zeit peinlich ein, erschienen dann aber sehr still in der Arbeitstube, wo die hohe Stimmung vollends zu Ende ging: es wurde uns kurz und ungerührt mitgeteilt, daß wir in nunmehr drei Vierteln der Arbeitszeit auch drei Viertel des Gewichtes zu liefern hätten, also drei Lot, wozu man bloß raten könne. Das war aber eigentlich schwieriger, als vier Lot in zwei vollen Stunden zu zupfen, da eine halbe Stunde immer auf den Anlauf ging. Um es gleich zu sagen: ich leistete es nicht und zierte abends wieder einmal die Wand.
Aber damit war diese Sache noch nicht zu Ende. Herr Johannes hatte die Gewohnheit – davon erfuhr ich erst viel später –, denjenigen Gebern, von denen er wußte, daß sie sehr arm waren, heimlich ihren Beitrag von sich aus in das Kästchen zurückzulegen. Zu diesen ganz Armen gehörte mein Freund Leuenberger. Als Herr Johannes daher deswegen mit dem Lehrer redete, erfuhr er, daß Leuenberger seit langer Zeit überhaupt kein Geld mehr gehabt habe. Gleichzeitig kam zur Sprache, daß von mir eine ganze Mark erhoben worden war; der Lehrer erkundigte sich, ob ich sie auch eingezahlt hätte, und dies war nicht der Fall. Wo hatte ich also den Rest gelassen?
Am anderen Tag wurde ich zu Herrn Johannes zitiert.
»Sage mal, Schattenhold«, sprach er mich an, »du hast da gestern eine Mark für die Missionskasse erhoben, aber bloß fünfzig Pfennige eingeworfen. Wie verhält sich das?«
Er lächelte jetzt nicht, sah mich auch nur so ganz allgemein an, und als ich errötend stumm blieb, wandte er sich mit nachdenklichem Gesichtsausdruck von mir ab, um einmal in seiner Stube auf und ab zu gehen.
»Hast du den Rest – dem Leuenberger gegeben?« fragte er darauf mit einem freundlichen Beiklang in seinem Ernst, der mich auf Mitgefühl und Verständnis raten ließ. Ich beantwortete betrübt die Frage mit ja, und auf die weitere Erkundigung nach meinen Gründen ließ ich es wieder ankommen.
Sie kam aber nicht. Nach einer letzten kurzen Stille räusperte sich Herr Johannes.
»Sieh mal«, sagte er, auch jetzt nicht unfreundlich, aber sehr ernst, »in keiner Sache soll man über seine Grenzen hinausgehen. Das verrät nie wirklich zuverlässige Menschen. Verstehst du das?« Ich sah es ein. »Tu, was Gott von dir verlangt, und wie er es verlangt. Die schweren Opfer werden später ganz von selber kommen. Dränge dich nicht vor. – Hier, die Heiden wollen dir auch nichts schuldig bleiben. Eingezahlt ist eingezahlt, aber nimm von ihnen das Buch dafür als Andenken.«
Er überreichte mir ein kleines Buch, blau gebunden, mit schwarzem Rücken und altem, blauem Schnitt, und ließ mich gehen. Mir ahnte jetzt im Gleichnis, daß das Über-mir wohl stets größer und höher sein werde, als meine Anstrengung, es zu erreichen. Daher enthielt die erlittene Demütigung doch auch einen Trost und eine Beruhigung, beinahe eine Aufrichtung, denn sie stellte meinen ursprünglichen Sachverhalt wieder her; ich war in einem zarten und großmütigen Sinn berichtigt. Voller Verehrung und Dankgefühl für den unbestechlichen Mann schlug ich später das Buch auf. Es enthielt eine Reisebeschreibung durch das Heilige Land mit Zeichnungen und Stahlstichen, Ruinen, Stadtbilder, den Tempel von Jerusalem, Ansichten vom Libanon, vom Karmel, vom Toten Meer, vom Jordan, Beduinen, die Klagemauer, Bethlehem, kurz, von dem ganzen mythischen und trotz seiner kleinen Grenzen so gewaltigen Lokal, in welchem sich die Geschichte und das Schicksal eines unvergleichlichen Volkes abgespielt hat. Die Geschichte war verdampft, das Schicksal bis zum Ende erlitten, und übrig war wie das Knochengerüst eines riesenhaften Sauriers die Landschaft mit ihren Ruinen und den eingesiedelten nachkommenden Kolonien der Fremden, die nicht wußten, welche Stätten ihr Fuß betrat, und was für alte heilige Flanken ihre Pflüge aufrissen. Die Stahlstiche hatten einen goldenen Schimmer, der darauf lag wie Patina, der Rost der Schönheit und der beseelten Vergangenheit. Viel Ergebung und Ehrfurcht leuchtete zwischen seinen Zeilen, und von diesen Geistesverfassungen sollten sie mir wohl auch einen Begriff geben.