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Der Geburtstag des Herrn Vaters wurde jedes Jahr besonders gefeiert. Nicht, daß wir eine Stunde länger schlafen durften, aber die Brüder begannen ihn mit einem besonders langen und schwierigen Gesang, der wenigstens den Moment des Aufgestandenseins um fünf Minuten hinausschob; solange sie sangen, konnte man tun, als ob man nicht vorhanden wäre. Alsdann hatten wir uns um Viertel vor elf vor der Tür des Herrn Vaters zu sammeln, um unter Leitung des Herrn Johannes einige Chorlieder zu singen. Während das dauerte, mußte man nicht zupfen; mit dem Wiegen jedenfalls war es heute nichts.
Um elf hatte eine Auslese von uns Katechisationsübung mit den Brüdern; ich gehörte auch dazu. Es stand die Geschichte vom Tobias mit dem Fisch zur Behandlung, und der Bruder konnte und konnte dieses Fisches bei uns nicht habhaft werden, soviel wir uns bemühten, um ihm behilflich zu sein. Es herrschte daher trotz des Geburtstages ein etwas scharfer Ton, denn der Herr Vater konnte nichts so schlecht ausstehen, als wenn sich die Brüder, die doch eine so hohe Berufung hatten, vor uns Blößen gaben. Dazwischen half er sich aber wieder mit etwas Spott, um der Sache die Spitze abzubrechen, und plötzlich rief er halb lachend, halb ärgerlich: »Wer steht denn dort von den Buben mit untergeschlagenen Armen wie Napoleon?« Das war meine bescheidene Person, und ich meldete mich etwas ungewiß. »Nun, das konnte ich mir eigentlich denken!« bemerkte er gutgelaunt. »Früh krümmt sich, was ein Haken werden will!« Man lachte, und die Spannung war für diesmal gebrochen. Mit dem nächsten Bruder ging dann die Geschichte vom Knaben Tobias ohnehin besser, und der Fisch kam glücklich an die Angel; ich hatte dabei, wenn man den Ausdruck gestatten will, den Zutreiber gespielt, und es fiel noch die Bemerkung des Herrn Vaters: »Nun ja, mit einem gescheiten Katechumenen ist's schließlich keine so große Kunst mehr.« Mit einem abermaligen leisen Gelächter schloß diese Stunde.
Aber für mich war ja eine Sache nie fertig, wenn sie für die anderen zu Ende schien; das war immer geradezu mein Verhängnis. Als wir in der Nähe des Herrn Vaters den Lehrsaal verließen, wandte ich ihm in meinen vertrauensseligen zwölf Jahren das Gesicht zu und lächelte ihn an. Dies Lächeln bemerkte er trotz seiner schwachen Augen. Ob er nun kindliche Eitelkeit dahinter vermutete, oder was ihn dazu veranlaßte: kurz, er rief mich zurück und wollte wissen, warum ich gelächelt habe. Ich hätte ihm ebensogut sagen können, warum ich auf der Welt sei. Es war ein Feiertag. Der Herr Vater hatte sein Wiegenfest. Es wartete ein etwas besseres Essen auf uns. Nachmittags sollten wir ihn auf den Ratmatter Hügel fahren. Ein wunderbarer Sommerhimmel stand über der Anstalt. Und die Stunde war wirklich kurzweilig gewesen und hatte mit einem Vorsprung für mich abgeschlossen. Es ging mir oft genug dumm und schwer, so daß ich mich mit einigem Recht darüber freuen konnte. Wenn ich bei alldem sagte, ich wisse es nicht, so sprach ich noch obendrein die lautere Wahrheit. Aber dabei konnte er es nicht beruhen lassen. Vielleicht wollte er den Brüdern noch schnell ein Exempel geben, wie man mit solchen Seelchen umsprang, um die Antworten aus ihnen herauszuholen. Allein wie er auch verhörte und ungeduldig wurde, ich blieb dabei, daß ich es nicht wüßte. Ich hätte noch am besten sagen können: »Weil ich Ihnen gerade gut war!«
»Nun, du kannst dich ja während des Essens vor der Tür draußen besinnen«, bemerkte der Herr Vater unzufrieden zum Schluß. »Vielleicht fällt es dir noch ein, bevor die Würste kommen.«
Ich war eigentlich geneigt, diese Strafe als eine Auszeichnung zu betrachten. Auch einige Brüder faßten die Sache mehr spaßhaft auf und bewitzelten mich im Vorbeigehen. Aber als sich die Auszeichnung in die Länge zu ziehen begann und die Mädchen mit den duftenden Festtagswürstchen an mir vorübergezogen waren wie Sagengestalten aus der Geschichte, deren Einholung durch mich nun mindestens sehr zweifelhaft wurde, war ich dem Heulen doch näher als der Selbstvergnügtheit, und ich warf keine listigen Blicke mehr in den Eßsaal. Der Herr Vater hielt auch durch bis nach dem ersten Gemüsegang. Dann schickte er mich nach einer neuerlichen vergeblichen Befragung kopfschüttelnd an meinen Platz, wo ich meine Fleischsuppe kalt mit einer Schicht abgesetzten Fettes vorfand. Die anderen hatten indessen Backobst mit Wurst gehabt. Eben kam der Aufseher, um zum zweitenmal zu geben. War ich nicht fertig, so wurde ich, das kannte ich nachgerade als eine besondere Finesse, ohne Wimperzucken übergangen, und wenn ich gerade den letzten Löffel zum Mund führte. Während mir vor Wut und Kummer die Tränen über die Backen liefen, schaufelte ich also an meiner Suppe, so rasch ich konnte, um wenigstens noch einen Mundvoll Backobst zu erhaschen. Dies gelang mir auch, aber meine Wurst war weg. Da ich vorhin vor der Tür draußen so vergnügt ausgesehen hatte, war es Ladurch, dem Aufseher, aus pädagogischen Gründen angemessen erschienen, sie anderen zu geben.
Indessen war mir aber, daß ich wie in einem unseligen Traum die Stimme der Jungfer Angela sagen hörte: »Aber Vater, nun kommt der arme Kerl um sein ganzes Festessen. Das ist doch auch nicht recht.«
Schon hörte ich verwundert die Mutter fragen: »Wieso? Hat er denn nichts mehr bekommen?«
Ich fühlte, wie sie alle nach mir her sahen, und wagte nicht aufzublicken; wenn ich mich vor dieser hohen Familie bemerkbar machte, so ging es mir doch nie gut.
»Wo ist denn seine Wurst hingekommen?« erkundigte sich nun auch aufhorchend der Herr Vater. »Er sollte ja gar nicht bestraft werden; er sollte bloß mit der Sprache heraus. Für Unfug haben sie immer Worte.«
Die Jungfer Angela maulte irgend etwas, das ich nicht verstand, zudem gab es eine Bewegung um mich. »Du, Schattenhold, du bekommst noch etwas!« teilte mir ein Nachbar leise und ehrfürchtig mit. »Warte mit dem Backobst; es kommt sogar Speck.«
»Ich habe auch nicht immer alles sagen können«, hörte ich zudem noch lachend und ein bißchen widersprechend die Stimme der Frau Mutter. »Kinder lachen oft aus lauter Dummheit. Immer suchst du nach tieferen Gründen.«
Auch er lachte nun, und die Frau Mutter ließ ihn einen Schluck Wein trinken. Indessen erschien wie ein vorzeitiger Weihnachtsengel die Jungfer Angela bei mir, in der linken Hand die Schüssel mit dem Backobst vom Herrentisch, und in der rechten ihre Gabel mit einem gerührt lächelnden Stück Speck daran, da schon alle Würste weg waren. Auch die Apfel- und Birnschnitze hatten so einen seelenvollen, gebildeten Glanz, daß man sich ordentlich vor ihnen seiner Niedrigkeit schämte. Ich flüsterte bestürzt meinen Dank, und unter der Aufmerksamkeit der ganzen Hausgemeinde fraß ich halb verängstigt mit stark beeinträchtigter Wonne sehr eilig, denn das Schlußgebet stand schon bevor, den Niederschlag weiblichen Mitleids hinunter. Was Ladurch dazu für ein Gesicht machte, weiß ich nicht. Ich muß hier bekennen, daß ich als junger Mensch noch öfter in die Lage kam, mich von weiblichem Mitgefühl erreichen zu lassen, wenn ich in der Männerwelt Fiasko machte, und daß mir dabei niemals ganz wohl war. Aber wenigstens wurde ich mit dem Speck fertig, ehe der Schlußgesang anfing, und den habe ich nicht mitgesungen, da ich mir vorher noch schnell Backobst in den Mund stopfte, so viel hineinging.
Der Nachmittag brachte die große Ausnahme vom Alltag. Es wurden zwei Körbe mit Brot und Käse bepackt, und zwei Kannen mit Most gefüllt. Im ansehnlichen Troß zogen wir nach dem Ratmatter Hügel aus, voran der Krankenwagen mit dem Herrn Vater, von sechs Jungen gestoßen und gezogen. Zuerst hatten wir ein Stück staubige Landstraße zurückzulegen, auf die von Osten her die Erhebungen des Schwarzwaldes hernieder blickten. Der Rhein machte dort eine Biegung nach Süden und verschwand in einem tiefen Einschnitt, dem sogenannten Höllenhacken. Wir aber schlugen uns nach links in den Wald hinein. An den Krankenwagen wurde ein langes, starkes Seil geknotet. Eine zuverlässige erwachsene Person übernahm die Führung des Gefährtes, und die ganze Jungenschar spannte sich an das Seil davor. Der Waldweg war nicht lang, aber ziemlich steil und steinig, und man brauchte alle unsere Kräfte. Droben zogen wir den Jubilar noch vollends in den Schatten einer einzeln stehenden Linde. Darauf war das nächste, was wir taten, daß wir uns um ihn stellten und alle Lieder, die uns im Lauf einer Stunde einfielen, so schön sangen, als wir konnten. Er war ein großer Gesangliebhaber, und manchmal sang er mit etwas zitternder Stimme und halb versunken selber mit. Um seine Augen spielten mancherlei gute Lichter. Wenn er heute lächelte oder gar lachte, so vergaß man ganz, daß seine Zähne falsch waren. Wir sangen: »Am Brunnen vor dem Tore«, »Kein schönrer Tod ist auf der Welt«, »Morgen marschieren wir«, »Wer hat dich, du schöner Wald«, »Niene geit's so schön und luschtig«, »Trittst im Morgenrot daher«, und dann wollte er auch »Es ist ein Schnitter, der heißt Tod« hören; darauf setzte er aber schnell: »Freut euch des Lebens!« Die Sonne spielte auf seinen Decken und auf seinem graubraunen, hohen Sommerhut. Der Rhein blitzte drunten mutig und frisch aus dem finstern Höllenhacken hervor. Zwischen den hellen Buchenstämmen des Waldrandes stand das Dunkel großäugig. Und drinnen sang das Echo mit. Er schien heute keine Schmerzen oder nur wenige und erträgliche zu haben. Als es für jetzt genug war, befahl er das Vesperbrot. Wir saßen um ihn herum, verzehrten das Brot und den Käse und tranken Most dazu, während er sich da und dort in unsere Reden mischte. Ich hatte meinen Mittagschreck verwunden und wacker mitgesungen, aber meinen Platz diesmal etwas entfernt von ihm genommen, wollte mich auch für die Zukunft wieder gut vor ihm in acht nehmen.
Nach der Vesper befahl er Seilziehen, da man doch das Mittel dazu hier hatte. Der Kampf blieb lange unentschieden. Da befahl der Herr Vater: »So soll einmal der Schattenhold die Partei wechseln. Es wird dann schon gehen.« Ich tat, wie mir geheißen war, aber nun nahm meine bisherige Partei die letzte Kraft zusammen, so daß der Herr Vater endlich unzufrieden lachend rief: »O Schattenhold, mit deiner Macht ist auch nichts getan!« und das Zeichen zum Abbruch gab. Ich wurde von meinen vorigen Parteigängern ausgelacht, und die neuen waren auch nicht gerade stolz auf mich, so daß also beim Seilziehen ich allein der Verlierende war. Nachher trieben wir Sackspringen, Überlaufen, und da hier viel Tannenzapfen lagen, entwickelte sich plötzlich ein allgemeiner Tannenzapfenkrieg. Die Mädchen hatten inzwischen züchtig Reigen getanzt; einige von ihnen wollten etwas Besonderes tun und flochten einen Kranz für den Herrn Vater. Mit dem kamen sie an und legten ihn ihm um den Hut auf den Rand; er war etwas zu groß und hing nach hinten über.
Eben kam Herr Johannes von einem kleinen Spaziergang aus dem Wald zurück. Die Frau Mutter, seine Schwägerin, war bei ihm; sie sah vergnügt und jung aus, und auch dem Herrn Johannes schienen im Wald an den Büschen einige Jahre und Sorgen hängengeblieben zu sein. »Seht mal die Mädchen!« rief da jemand bei uns. »Wie die sich anschmeicheln.« Schon flog der erste Tannenzapfen zu ihnen hinüber, während sie kreischend machten, daß sie wegkamen. Es war der alte Krieg. Auch ich beteiligte mich an der Bestrafung. Es hagelte jetzt Tannenzapfen hinter ihnen her. Eben hob Herr Johannes abmahnend die Hand, da eigentlich sein Bruder für diesen Spaß doch zu nahe beim Wurf saß, als auch das Unglück geschehen war. Plötzlich schrie der Herr Vater auf; ein Tannenzapfen hatte ihn unterhalb der Stirn oder am Auge getroffen. Auch der Hut mit dem Kranz saß ihm schief auf dem Kopf. Bei uns erstarrte sofort die Bewegung. Verschiedene Leute liefen auf den Herrn Vater zu, um ihm zu helfen. Die Mädchen riefen: »Biiih!« und blickten anklagend nach uns. Herr Johannes forderte Most und fing an, mit dem angefeuchteten Taschentuch das verletzte Auge zu betupfen. Klagend und etwas zeternd ertönte die Stimme des Herrn Vaters dazwischen: »Können denn die Buben nicht besser aufpassen? Blutet es? Ich bin aber am Augapfel getroffen; ich fühle es ganz genau.« Und dann: »Wer ist das gewesen? Der soll wenigstens herkommen und sich entschuldigen!«
Niemand regte sich bei uns. Da keiner den anderen bewacht hatte und die allgemeine Aufmerksamkeit den Mädchen zugewandt gewesen war, wußte man nicht, wen der Befehl anging. Die Untat war anonym. Mir selber saß der Schreck so tief in den Knochen, daß ich noch nicht einmal zu atmen vermochte, geschweige, daß ich zur Selbstanzeige imstande gewesen wäre. Beim Ausholen hatte mich ein Junge angestoßen, und so war mein Wurf fehlgegangen. Wie gebannt starrte ich nach dem Herrn Vater hin. Das Blut wich mir aus den Wangen, und mich fröstelte mitten in der Sonne; mir war irgendwie zumute, wie man es dem Vögelchen angesichts des bannenden Schlangenblickes nachsagt. Das Furchtbare bestand ja für mich nicht allein darin, daß mir das überhaupt zugestoßen war, sondern daß es mir mit diesem Mann passiert war.
Der Lehrer trat zu uns und redete uns gut zu. »Weiß denn keiner, ob er das gewesen ist? So was kann ja vorkommen, aber man muß dazu stehen.« Einige murmelten, ihnen sei es nicht passiert; sie hätten genau gesehen, wohin ihre Tannenzapfen flogen. Das waren die Größeren. Von den anderen war keiner so sicher, das von sich zu behaupten. Kurzum, die Feier war plötzlich zu Ende. Der Herr Vater verlangte nach Hause, und das war ihm auch nicht zu verdenken. Man band das Seil wieder an den Wagen, diesmal hinten, um damit zu bremsen. Still und niedergedrückt traten wir den Heimweg an. Aus zwei Taschentüchern hatte Herr Johannes seinem Bruder einen Verband angelegt. Von Zeit zu Zeit wechselte er die Kompresse.
»Ihr seid mir ja nette Brüder!« sagte einmal die Frau Mutter zu uns, aber sie schien nicht so entrüstet, wie wir fürchteten; vielleicht hatte sie selber Verständnis für das Missgeschick, das uns widerfahren war, denn uns war der Tag ja ebenso verdorben. Einer äußerte die Empfindung auch in den Worten: »Das hat der ja nicht absichtlich getan, Frau Mutter! Es ist uns allen leid genug!«
»Aber warum meldet er sich denn nicht?« fragte Jungfer Angela vorwurfsvoll und etwas empört.
»Er wird es wohl auch nicht wissen«, wurde ihr weniger respektvoll erwidert. »Haben Sie schon einen Tannenzapfenkrieg mitgemacht? Nun also!«
Zum Abendessen erschien der Herr Vater nicht. Herr Johannes hielt die Andacht. Es gingen gleich die wildesten Gerüchte um. Das Auge sollte ausgelaufen sein. Dann hieß es, der Arzt sei dagewesen und habe es herausgenommen, weil die Entzündung sonst ins Gehirn geschlagen hätte. Welche wollten ihn dabei schreien gehört haben, andere sagten aber, er sei chloroformiert worden. Mit einem bitteren Geschmack im Mund ging ich zu Bett. Die Nacht schlief ich wenig, und das wenige war von bösen Träumen geschreckt. Nach Feiertagen litt ich immer sehr am Gefühl der Ernüchterung, aber der nächste Morgen brachte mir keine Ernüchterung, sondern ein inneres leeres Entsetzen, das ich über anderen Dingen einmal ein bißchen vergaß, das mir aber immer wieder aufstieß, und jedesmal ging mir ein Messer übers Herz. Es war ein furchtbeschwerter, hilfloser Zustand, in den ich mit abergläubischen und düsteren Augen hineinsah wie in einen Sumpf, worein ich von Stunde zu Stunde tiefer versank.
Es war uns jetzt gesagt, daß das Auge nicht ausgelaufen und auch nicht herausgenommen sei, und die ganze Sache war wohl nicht so schlimm, wie es zuerst ausgesehen hatte, aber der Herr Vater ließ sich doch nicht sehen. Er lag zu Bett, konnte nicht warm werden und brauchte fortwährend Pflege und Wartung, da der Schreck sein Leiden sozusagen aufgestört und ihn im allgemeinen in eine sehr schlechte Verfassung gebracht hatte. Vielleicht ging auch eine solche Veranstaltung überhaupt über das Maß dessen hinaus, was er sich noch zumuten durfte. Ich konnte das alles sehr wohl ermessen. Mir selber taten alle Glieder weh. Ich ging herum mit einem geheimen Fieber in den Knochen. Das Essen schmeckte mir wie Stroh. Immer hing ich am Wasserkrug. In der Schule hatte ich meinen Kopf nicht beisammen. In den Freistunden mochte ich nicht spielen.
Ein neues Leid widerfuhr mir, als in einer Grammatikstunde Herr Johannes feststellte: »Schattenhold verläßt mich jetzt auch beim Konjugieren!« Vorher war ich in dem schwierigen Fach sein verläßlichster Schüler und der einzige überhaupt gewesen, der dem Gegenstand mit einem angeborenen Gefühl dafür gefolgt war. Mehrmals nahm ich den Weg zum Herrn Vater unter die Füße, aber ich kam nie über den ersten Treppenabsatz hinaus; dann packte mich eine wahre Bestürzung, und zitternd lief ich wieder hinunter und aus dem Haus, um in stiller Verstörtheit bis zum Schluß der Freistunde herumzugehen.
In jenen Tagen bekamen wir den ersten Radfahrer zu sehen. Er fuhr jenes früheste Modell mit dem anderthalb Mann hohen Vorderrad und dem kleinen Nachrädchen, das so atemlos hinterherrannte. Ich umstand den kühnen Mann, einen ehemaligen Demutter Jungen, mit trüber Bewunderung, und nie konnte ich später diese Maschine sehen, ohne daß mir die Empfindungen jener Tage wieder aufstiegen.
In einer Nacht versetzte ich die Familie des Herrn Vaters noch mehr in Aufregung. Man hatte seine Tür gehen gehört. Auch Geräusche wurden wahrgenommen, und beinahe noch beunruhigender schien die folgende Stille. Endlich faßte jemand ein Herz, um nachzusehen. Die Frau Mutter, begleitet von den Fräulein Angela und Felicitas, kam mit Licht ins Zimmer und fand keinen Dieb, sondern mich. Das Gewissen ließ mir auch im Traum keine Ruhe. Nachtwandelnd war ich aufgestanden und hatte den schweren Gang zum Herrn Vater angetreten, um zu bekennen. Man brachte mich zu mir, und die Jungfer Angela leuchtete mir nach meinem Schlafsaal zurück. Ich erlangte durch den Vorfall eine gewisse Berühmtheit, aber meine Betroffenheit darüber war viel größer.
Eines Sonnabends nach getanem Tagewerk – draußen ging ein Gewitter nieder – saßen wir in der aufgeräumten Arbeitstube. Jeder trieb die halbe Stunde vor dem Essen, was er wollte. Manche hatten sich ihre Bücher aus dem Schulsaal geholt. Welche malten. Auf einem Gestell in der Arbeitstube lagen einige uralte Bibeln in einem Deutsch, das schwer zu lesen war, die Hauptworte mit kleinen Anfangsbuchstaben, und mit Hunderten von Holzschnitten geziert, abgesehen von den ausgedehnten schwarzen und roten Initialen, die die Kapitel eröffneten. Einen dieser schon halb schwarzen Schweinslederbände holte ich mir herunter, um wieder einmal die Bilder zu betrachten. Unter anderem kam ich an die Geschichte vom verlorenen Sohn, und zufällig fand ich die Worte: »Ich will mich aufmachen und zu meinem Vater gehen!« jenes träumerische, dunkel treibende F-Moll-Motiv in der unvergleichlichen musikalischen Geschichte. Zwei-, dreimal las ich die Ankündigung. Dann war es mir, als ob mich jemand bei der Hand nähme und mir ganz einfach und mit natürlicher Klarheit sagte, was ich zu tun hätte. Ich stand auf, legte die Bibel weg und bat den Aufseher um die Erlaubnis, zu Herrn Johannes zu gehen. Ich durchschritt den Zementboden und den Andachtsaal, ohne ein einziges Mal anzuhalten, stieg die eine Treppe höher – auch jetzt alles wie nachtwandelnd – und klopfte bei Herrn Johannes. »Herein!« Dann stand ich vor ihm und sagte nach einem letzten Anlauf so elend und heruntergekommen, wie ich gegenwärtig aussah: »Ich komme wegen dem Tannenzapfen, der den Herrn Vater getroffen hat. Den Tannenzapfen habe ich geworfen!«
Herr Johannes hatte eben an seinem Stehpult geschrieben. Nun legte er langsam die Feder hin und schloss das Buch. Dieses legte er in das Pult hinein.
»Hast lang ausgehalten«, sagte er endlich. Mich betrachtend wandte er sich mir zu. »Bist also ein tragfähiges Gemüt. Es war nämlich keine Kunst, zu sehen, dass du etwas mit dir herumschleppst, abgesehen von deinem Nachtwandel. Vollends schriebst du in dem Aufsatz über den Geburtstag des Herrn Vaters am Schluß: ›Der Kummer trifft immer unvermutet!‹ Nun, das Wort ist nicht einmal wahr. Dahinter wirst du noch kommen. Es ist bloß für das Kind und den Toren wahr, der niemals erwachsen wird. – Wir wollen sehen. Warum hast du dich auf dem Ratmatter Hügel nicht gleich gemeldet? Der Herr Vater hätte dich vielleicht angeschrien, aber dann wärst du damit fertig gewesen. Kannst du mir das sagen?«
»Ich war so erschrocken«, erwiderte ich leise.
»Ich habe meinen Vater beinahe ums Leben gebracht und mich schwer schuldig gemacht, als ich einem Erwachsenen, den ich haßte, eine Schnur spannte, über die dann der Vater stürzte. Es wäre niemals herausgekommen, trotzdem meldete ich mich sofort, und zwar gerade vor Schreck.«
»Meinem Vater hätte ich mich auch sofort gemeldet«, grübelte ich.
»Dein Vater ist jetzt der Leiter dieser Anstalt«, versetzte Herr Johannes ernst. »Wenn du dir diese Tatsache ganz angeeignet hättest, so wärest du nicht in die Verwicklung geraten. Siehst du das ein?«
Ich sah es ein, lehnte mich aber dagegen auf.
»Nun, wir wollen uns nichts weismachen, Schattenhold«, sagte er darauf in einem anderen Ton. »Mit deiner Seelennot kommst du jetzt zu mir, und damit machst du für einen Tag mich zu deinem Vater. – Ich werde also hingehen und für dich sprechen. Und du wirst hingehen und alles über anderen Dingen vergessen. Das ist der Lauf des Blutes. – Soll ich dann auch vergessen, daß du vielleicht vierundzwanzig Stunden lang mein Sohn gewesen bist?«
Stumm schüttelte ich den Kopf. Ich fühlte, wie recht er hatte.
»Laß gut sein, ich habe noch mehr solche Söhne; du kommst eben ins Album zu den anderen«, meinte er mit einem leisen Lächeln, das seine Einsamkeit verriet. Mir fing das Herz wieder an zu pochen. »Dir aber kann ich nur raten: sieh zu, daß du den Herrn Vater zu deinem Vater bekommst. Im anderen Fall kann dich noch mancher Kummer treffen, aber ›unvermutet‹ darfst du ihn dann nicht mehr nennen, nachdem ich dich jetzt darauf hingewiesen habe.«
Erleichtert, aber nicht erlöst kam ich von Herrn Johannes zurück. Noch stand mir ja die Auseinandersetzung mit dem Herrn Vater bevor. Doch wagte ich heute wieder zum erstenmal, mit einigem Appetit zu essen, und außerdem meldete man uns eine Besserung im Befinden des Verletzten. Am nächsten Sonntag hielt er sogar wieder selber die Predigt; die vorige hatte Herr Johannes aus einer Predigtsammlung des berühmten englischen Kanzelredners Spurgeon gelesen, desselben Spurgeon, dessen Lieblingswort lautete: »Ich habe Mut wie ein Pferd!« Ich bewunderte diese Lebensstimmung immer sehr, konnte sie aber selten an mir wahrnehmen, noch weniger hervorbringen, am wenigsten in diesen Tagen. Als man daher plötzlich den Herrn Vater an unseren Reihen vorbei zum Katheder vortrug, wurde mir der Atem wieder sehr eng. Er sah noch blaß aus, und um das eine Auge hatte er einen blauen Hof, aber seine Stimme klang ruhig und gedeckt. Er las aus seiner großen, grobgedruckten Bibel – anderen als ganz groben Druck konnte er nicht mehr lesen – das Wort des Apostels Paulus: »Welchen der Herr liebhat, den züchtigt er. Er stäupet aber einen jeglichen Sohn, den er aufnimmt.« Mir war die ganze Stunde sehr bang, und ich bezog alles auf mich, zumal ich ja wirklich schon ganz fühlbar gestäupt wurde. Der Herr Vater sagte es auch, daß es viele Methoden der Stäupung gebe. Am meisten werde der Widerstrebende durch sein Widerstreben und durch seine Sünden geschlagen, für die er niemand verantwortlich machen könne als sich selber; dies sei der herbste Schmerz, den Gott und der aufnehmende Vater zufüge. Doch schloß die Predigt ziemlich tröstlich mit dem Hinweis auf die Freuden der Kindschaft, die nach der Aufnahme und der Unterwerfung des Sohnes ihm erblühten. Nach dem Schlußgebet verließen wir den Saal unter Absingung des Liedes:
»Mit tausend Freuden will Gott uns weiden,
Aber eins weiß ich, das bet' ich fleißig:
Abba, der auch mein Vater heißt,
Abba, gib mir den Heiligen Geist!«
Nachher wurde ich richtig zum Herrn Vater gerufen. Ich fand ihn nicht droben in seinem Zimmer, sondern zum erstenmal wieder hatte er sich ins Freie unter die Trauerweide fahren lassen. Ich mußte seine Hand nehmen.
»Herr Johannes hat mir gesagt, was du ihm gestanden hast«, begann er dann. »Ich habe ihm versprochen, dich nicht noch weiter zu bestrafen, als du es schon bist. Gott hat dir diese Woche hart zu schaffen gemacht. – Ich erwarte nun von dir, daß du mir keinen Widerstand mehr entgegensetzt. Du bist einer der hoffnungsvollsten Knaben, die jetzt hier sind, aber zugleich der verstockteste und hochfahrendste. Ich habe mir fest vorgenommen, diese Verstocktheit und Hoffart zu brechen. Vergiß nicht, daß du ein armes Kind bist. Wenn du fortfahren willst, Leute, die dir wohlwollen, vor den Kopf zu stoßen durch Mangel an Vertrauen und Gegenliebe, so wirst du es nicht leicht haben, in der Welt vorwärtszukommen. – So. Und jetzt nimm hier die Zeitung und lies mir vor. Kannst mir einmal deine Augen leihen. Beginne oben. Was steht da?«
Sehr kleinlaut begann ich zu lesen: »Basler Nachrichten« und so weiter, bis ich an das Wort »Abonnenten« kam. Auch dies las ich glatt, obwohl ich es noch nie gesehen hatte. Aber als ich weiterfahren wollte, befahl der Herr Vater: »Halt. Was ist das, ein Abonnent?« Das wußte ich nicht. »Und trotzdem willst du weiterlesen, als ob du es verstanden hättest? Warum fragst du nicht, was das ist?« Das konnte ich wieder nicht sagen. Ich hatte angenommen, daß ich für ihn lesen solle und nicht für mich, und mich danach verhalten. »Wenn man bloß von dir Antworten erhalten könnte!« rief er ungeduldig aus. »Immer dieses Schweigen! Bist du denn eigentlich ein Kind?« Das Wort »Abonnent« wurde mir nun erklärt. Nachher kam die »Expedition« daran, dann die »Redaktion«, und als ich eine halbe Stunde gelesen hatte, wußte ich sehr viel mehr als vorher, aber der Kopf ging mit mir im Kreis, und ich hatte wieder eine Menge Freiheit und Selbstherrlichkeit eingebüßt. Die Dinge hatten sich zu einer vollkommenen Niederlage für mich herausgebildet.
Jeden schönen Mittag, wenn der Herr Vater unter der Trauerweide saß, sollte ich nun kommen und ihm die Zeitung vorlesen. Eine Zeitlang während der Schönwetterperiode tat ich es widerstandslos. Solange es regnete und kalt war, blieb er oben. Als es wieder schön war, ließ ich mich erst rufen, ehe ich mich an meine Pflicht erinnerte. Für diese Untreue tadelte er mich in enttäuschtem und auch etwas bedenklichem Ton; auch ich fand mich sehr fehlbar und gelobte zerknirscht gute Besserung. Aber zu meinem Unglück war es diesmal bloß vier Tage schön und nachher etwa vierzehn Tage schlecht. Beim nächsten schönen Mittag war ich darauf bedacht, mich so gut unterzubringen, daß ich nicht oder erst spät gefunden werden konnte. Schließlich ließ man mich, aber dafür bekam ich anderweitig schwere Zeit.
Im Sommer und Herbst bei schönem Wetter hielten wir die Abendandacht vor dem Haus im Freien ab. Der Herr Vater saß dann neben dem Hauptportal mit den beiden Gipsriesen, den Rücken an der warm nachstrahlenden Hausmauer, und wir standen im Halbkreis um ihn herum. Statt eines Bibeltextes machte er in dieser Zeit die ausgezeichneten Merk- und Hauptworte seines Vaters zur Grundlage seiner Übungen mit uns, und zwar handhabte er die Sache so, daß er an einem Abend etwa zehn oder zwölf Worte vorlas, sie besprach, und am nächsten Abend von uns die Wiederholung verlangte. Manche Worte waren kurz und sehr einprägsam, wie der Spruch: »Ohne Liebe lebt man nicht. Das ist richtig. Sie macht's Leben wichtig.« Andere aber waren voll unfaßbaren theologischen oder pädagogischen Inhalts, den man sich unmöglich merken konnte. Glaubte man ihn gefaßt zu haben und sah einer vorbeisegelnden Schwalbe auch nur drei Sekunden nach, so war er weg und kam nicht wieder, und war es keine Schwalbe, so streifte einen irgendein anderes Naturereignis, das den mühsam behaltenen Spruch auf seinen schillernden Flügeln mitnahm. Auf die schweren Sprüche war ich aber schon verwiesen, wenn ich überhaupt mit etwas Behaltenem dienen wollte, denn er fing bei den Kleinen oder Blöden an, und wenn er spät zu mir kam, so verlangte er nicht schon Gesagtes von mir zu hören, sondern ich hatte eine besonders entlegene und verwickelte Sentenz vorzutragen, die sich keinem anderen eingeprägt hatte. Dasselbe war es auch, wenn er bei den Großen anfing; dann umging er mich solange, bis ich Gelegenheit hatte, mit dem Außerordentlichen aufzuwarten, oder es ihm, was so gut wie regelmäßig war, zu seinem Verdruß schuldig zu bleiben. Es war gerade, als ob er diesen Verdruß wollte und mit Eifer suchte. Denn von zwölf Sprüchen merkte ich mir sicher wenigstens sechs, keineswegs nur die leichtesten, was mir doch nichts geholfen hätte, und so wäre es wohl möglich gewesen, mit vollem Ansehen vor der Hausgemeinde sich mit mir zu vergleichen. Das schlimmste war, daß ich jedesmal aus der Andacht weg ins Bett geschickt wurde, während die anderen nachher noch eine halbe Stunde im Freien spielen durften.
Diese Schönwetterperiode schien mir ein halbes Jahr zu währen. Mit wenig Hoffnung sah ich den Abendandachten entgegen. Je weiter der Tag vorschritt, desto tiefer sank meine Stimmung, und desto angestrengter suchte ich nach einem der gestern gleich entschwebten Aussprüche. Und jeden Abend blieb ich stumm, wenn die Reihe an mich kam, ließ ich das Schelten des Herrn Vaters über mich ergehen und schlich ich mich von der Hausgemeinde weg ins Bett. Der Herr Vater betrachtete alles wieder als Verstocktheit, berief sich erregt auf andere Gedächtnisleistungen von mir, und so trieb er hartnäckig und auf mich versessen die Sache mindestens durch drei Wochen. Das Zerwürfnis begann wieder sich auf mein Befinden zu schlagen und meine übrigen Leistungen zu beeinflussen. Ich bekam eine ungenügende Augustzensur, nachdem schon die vom Juli, ich weiß nicht, warum, mangelhaft gewesen war.
Endlich erbarmte sich wieder Herr Johannes meiner. Eines Tages beim Orgeltreten zwischen zwei Präludien fragte er mich, ob ich denn nun endlich für heute einen Spruch wisse. Ich sagte, ich wisse wenigstens sechs, aber der Herr Vater fragte ja immer zuerst die anderen. »Dann sag einmal die sechs«, verlangte er. Ich memorierte; es waren sieben. Herr Johannes besann sich einen Moment.
»Ja, die werden auch die anderen behalten haben«, gab er zu. »Aber nun warte mal. Von dem Spruch mit dem Zeichen des Geistes mußt du doch auch etwas behalten haben. Laß einmal hören.«
Ein Stück daraus wußte ich, eben das mit dem Zeichen des Geistes, aber das andere war mir wieder ganz nebelhaft.
»Dann paß jetzt auf!« sagte Herr Johannes. »Ich werde dir den ganzen Spruch noch einmal vorsagen.«
Gerne würde ich ihn hierher setzen, aber ich weiß ihn längst nicht mehr, während ich andere Sachen bis ins Grab behalten werde. Er sagte mir den verzwickten Satz ruhig und mit geheimer Betonung vor, die ihm einen verfolgbaren Sinn und eine Struktur gab, welche ich vorher nicht daran bemerkt hatte. Immer noch etwas mühsam, aber doch seiner habhaft werdend, sprach ich ihn nach, und während Herr Johannes weiterspielte, wiederholte ich ihn unaufhörlich. Als der alte Mann aufgestanden war, bat ich, ob er mich noch einmal abhören wolle, aber dazu lachte er.
»Du mußt dir deine Helfershelfer suchen, wo sie sind«, meinte er launig. »Oder soll ich heute abend auch noch für dich aufsagen?«
Der Abend kam, und mit ihm ein schweres Gewitter. Die Andacht fand im Saal statt. Ob die Sprüche zu Ende waren oder ob der Herr Vater endlich die Lust verloren hatte: jedenfalls fand heute kein Aufsagen statt, und nie mehr künftig kam man auf diese unseligen Sprüche zurück.
Hier noch ein paar Worte vom Memorieren. Außer den schon genannten Übungen mit den weltlichen Gedichten und der Kinderlehre am Sonntagnachmittag fand jeden Montagvormittag eine Memorierstunde beim Herrn Vater statt, in welcher geistliche Lieder und Bibelsprüche aufgesagt wurden. Die Stunden waren sehr gefürchtet, da sie an uns starke Ansprüche stellten. Wir hatten nicht nur die längsten Gellertschen Lieder in der richtigen Strophenfolge vorzutragen, sondern auch die Bibelverse mußten aufgesagt werden, wie sie im Katechismus hintereinander standen. Schon das Erlernen der oft langen und schwierig aufgebauten Sprüche machte große Beschwerden, vollends die Reihenfolge wurde uns beinahe jedesmal zur Katastrophe und dem Herrn Vater zum ungeduldigen Verdruß. Was ich so an Bibelfestigkeit besitze, habe ich mit Zittern und Zagen erworben, und an manchem Spruch hängen noch die Fetzen, die er bei seiner Wiedergeburt aus meinem Kopf mit sich gerissen hat. Mit der gefürchtetste war dieser: »Nachdem Gott vor Zeiten manchmal und auf mancherlei Weise zu uns geredet hat durch die Propheten, hat er am letzten in diesen Tagen zu uns geredet durch den Sohn.« In diesen verschiedenen näheren Umständen verwickelten sich die meisten von uns hoffnungslos. Dagegen half ich mir bei dem langen Passionsgedicht, dem Gellertschen: »O Haupt voll Blut und Wunden!« indem ich die Anfangsworte auswendig lernte: »O du die mein erkenn ich es ich wann erschein.« Als es gut gegangen war, dichtete ich dankbar weiter: »Verbrenn ich es zu meines Herzens Wonne«, um so mit der Melodie von »Wie schön leuchtet uns der Morgenstern« zum Schluß zu kommen: »Sonne, Wonne, Liebe, Schmerzen, Triebe, Herzen, Hiebe, Kerzen. Komm herein und übe Terzen.«
Von solchen Zwischenspielen abgesehen, fand der Montagmorgen aber selten einen von uns so kühn und frei, daß er, anstatt sich auf das Memorieren vorzubereiten, mit Marken handeln durfte. Eine beflissene Stille herrschte da bei uns, und die härtesten Großmäuler waren für zwei Stunden und vollends beim Herrn Vater droben zahm. Auch hiermit verknüpft sich eine Nachtwandlergeschichte von mir. Der Andachtsaal lag, wie gesagt, im ersten Stock, während unsere Schlafsäle den vierten einnahmen. In den Bänken des Riesenraumes hatte jeder seinen bestimmten Platz, in dessen Fach die Bibel, das Württembergische Gesangbuch, das Spruchbuch und der Katechismus steckten, abgesehen von der weltlichen Literatur, die einer da unterbrachte, um darin heimlich zu lesen, während der Herr Vater sich mit Predigen anstrengte. Das Gesangbuch und das Spruchbuch konnten wir am Montag früh nach unserem Lehrsaal holen, um dort zu lernen. Diese beiden Bücher fand ich eines Morgens beim Erwachen aber bereits auf meiner Bettdecke vor. Also war ich nachts im Schlaf aufgestanden, hatte meinen Platz im Andachtsaal und die beiden Bücher herausgefunden, aber gelernt hatte ich offenbar nicht, denn wie ich bald feststellen konnte, stand mir noch alles bevor.
Einmal stellte uns der Herr Vater frei, neben unseren Spruchaufgaben das alte Tedeum laudamus in deutscher Übertragung zu lernen, das auf der ersten Seite des Württembergischen Gesangbuches stand. Er wollte sehen, wer dessen nach Kraft und gutem Willen fähig wäre. Ich machte mich daran und brachte es auch ohne große Schwierigkeiten zustande. Das Lied hat seinen großen, sicheren Rhythmus; es war daran nichts zu verfehlen. Als aber die Stunde da war, merkte ich, daß außer mir auch nicht einer das Lied angesehen hatte, geschweige, daß er es konnte, und da kam ich mir so außerhalb der Ordnung vor und empfand so starke Bedenken gegen eine in dieser Art zu erringende Zufriedenheit des Herrn Vaters, dass ich vorzog, das Lied auch nicht zu können.
Eine andere Gedächtnisprobe stellte er durch einen Hexameter mit uns an. »Gleich wie sich dem, der die See durchschifft auf offener Meerhöh', rings Horizont ausdehnt und der Ausblick nirgends umschränkt ist –«, diesen Vers sprach er uns einmal vor und forderte uns auf, ihn zu wiederholen. Ich hatte ihn auf den Schlag gefasst, weil er Hergänge und Gegenstände enthielt. »Aha«, meinte der Herr Vater, nicht ganz ohne Angriff lachend: »Beim Schattenhold hat sich das Gedächtnis wieder eingestellt. Aber man muß ihm dazu großartig kommen, wie er selber ist.« Diese Bemerkung erregte die Heiterkeit der Hausgemeinde und steigerte einerseits mein Ansehen, anderseits aber auch die allgemeine Vorstellung von meinem problematischen Charakter. Dies war das einzige Mal, daß der Herr Vater auf die Sache mit den Sprüchen zurückkam.