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Zu den Unternehmungen, um Boden unter den Füßen zu behalten, gehörte meine vielbesprochene Freundschaft mit Leuenberger. Ich hätte ebensogut vornehmere Freunde haben können, zumal ich im Bund etwas zu gelten anfing. Gerade diese tiefliegende Wahl offenbart den Widerstrebungscharakter des Umganges. Leuenberger war ein sehr mittelmäßiger Schüler, groß und breit, gutmütig, still, niemand wußte etwas Nachteiliges über ihn, und er galt als zuverlässig, wenn auch schwerfällig. Zum Bund gehörte er nicht. Er fiel mir zum erstenmal auf im Verlauf seiner berühmten Geschichte mit den Gänsen und dem Schweizerwald.
Dieser Schweizerwald war für uns ein Geheimnis. Er bedeutete uns schlechthin »das andere«, das Gegenüber, das Jenseits, das Symbol der Freiheit, den äußersten Vorposten der südlichen Welt, »Welt« als Gegenbegriff zu unserem Klosterleben, als Menschheit überhaupt verstanden, von welchen großen Erscheinungen wir eine ärmliche und streng bewachte Aussparung waren. Nach dem Schweizerwald zu kommen, das hätte geheißen, »hinaus« zu kommen, wie unsere Gänse eines Tages hinaus und nie mehr zurück kamen.
Die Frau Mutter war darauf verfallen, für ihren engeren Bedarf Gänse zu halten. Ich habe weder vorher noch nachher Gänse auf dem Hof gesehen. Enten watschelten zu jeder Zeit genug hinterm Stall herum und schwammen auf dem Misttümpel, und in angemessenen Abständen erschien eine als Braten auf dem Herrentisch. Man kennt diese Hausgenossen als bequeme, vollständig domestizierbare und verfettungsfreudige Kreaturen, deren Freiheitsinn restlos eingeht, wenn sie nur genug zu fressen finden. Anders die Gänse, die eine Spur von Unbotmäßigkeit und Phantastik in sich bewahren, die feinfühlige, mißtrauische und wachsame Vögel sind. Wer sie für dumm hält, kennt sie nicht; diesen Ruf haben sie genau so zu Unrecht wie die Schweine. Dumm sind die Hühner, und vor ihnen haben die Gänse außerdem ihren Anstand voraus; etwas Edles ist an ihnen im Vergleich mit dem grausamen und schäbigen Hühnervolk, und vor den Enten zeichnet sie die Unverführbarkeit aus, da sie nicht so verfressen sind. In jeder Gans lebt etwas von dem Wissen darum, daß Schwestern von ihr orgelnd in mystischen Zügen die nördlichen Meere und Heiden überfliegen, verfolgt von der Sehnsucht aller eingefangenen und erlebnisfähigen Seelen hier unten.
Solche wenig bekannten großen Vögel sollte also Leuenberger hüten. Als offenes Gemüt lebte er sich bald sehr mit seiner Aufgabe zusammen, zumal er selber vom Land stammte und seine ersten Kindheitsjahre dort verbracht hatte. Seine Gänse gingen ihm schließlich über alles, und er erzählte lange und tiefsinnige Geschichten von ihnen, über die man sich meistens lustig machte. Davon nahmen sich auch die Lehrer nicht aus. Zu mir – ich verkehrte damals in einem ganz anderen Kreis, war auch um zwei Jahrgänge jünger – kamen sie aus dritter Hand.
Nun war es ein schöner, feierlicher Sommertag. Es wehte Südostwind, der aus dem Schweizerwald die letzten Rufe des Kuckucks herübertrug. Unter den Gänsen hatte sich schon am Abend vorher eine merkwürdige Unruhe bemerkbar gemacht, und es war schwierig gewesen, sie in ihren Stall zurückzubringen. Heute fingen sie nun gleich an zu wispern und durcheinander zu sprechen. Sie streckten die Hälse in die Luft, liefen mit ausgespannten Schwingen auseinander, kamen von neuem zusammen und unterhielten sich wieder. Ab und zu stieß eine einen erregten Schrei aus. Plötzlich fingen sie alle zusammen an zu schreien, breiteten die Flügel aus, und bevor Leuenberger begriff, was vor sich ging, hoben sie sich von der Erde, flogen mit hellem Geschrei dem Rhein zu und strichen in einem Zug über die leuchtende Wasserbreite davon nach dem Schweizerwald hinüber.
Leuenberger sah ihnen zuerst ganz stumm und erstaunt nach. Dann kehrte ihm das Leben zurück. Laut heulend kam er in die Anstalt gelaufen und berichtete in der Küche, wo er die Frau Mutter fand, was sich ereignet hatte. Die Vögel saßen nun schimmernd drüben im Ufersand; wahrscheinlich ruhten sie sich – mit stark klopfenden Herzen, dachte ich – von ihrer Freiheitsfahrt aus. Sofort wurde der Anstaltskahn bemannt, um die Ausreißer wieder einzuholen. Mit wachsam gestreckten Hälsen ließen sie ihn bis auf die Rheinmitte herankommen. Dann hoben sie sich von neuem auf, und man hat in der Folge nichts mehr von ihnen gesehen oder gehört.
Von da an war mir der Schweizerwald doppelt geheimnisvoll, und von diesem Geheimnis blieb auch an Leuenberger für meine Augen etwas hängen. Man mußte nun einen anderen Wirkungskreis für ihn suchen, und er wurde den Feldjungen zugeteilt.
Unsere Freundschaft begann, ich weiß nicht, wie. Er fing an, mir Birnen aus dem Feld mitzubringen, zeigte mir bei vielen Anlässen seine Zuneigung, die mir bei seiner Aufrichtigkeit und betrübten Hilflosigkeit im Verein mit seiner Körpergröße eine gewisse Überlegenheit zuwies, aber es steckten noch tiefere, zartere Werte darin. Seine geduldige Langsamkeit, seine brave Muskelstärke, die er niemals mißbrauchte, seine ständige Traurigkeit als Ausdruck einer gewissen Beschränktheit innerhalb der sonstigen überwitzigen kleinen Welt, die ihn in seinem Lebensgenuß kürzte und ihn viel zu wohlfeil kaufte – er ist nachher ein ordentlicher Bauer geworden –: dies alles enthielt mir eine stumme Lebensoffenbarung, die bewirkte, daß er mir nie langweilig wurde, wenn er auch einmal beschwerlich war.
Im Verlauf des letzten, besonders rauhen Winters hatte ich mir allerlei Leiden zugezogen. Ich kränkelte und kam nicht recht wieder hoch. Eine Zeitlang ging ich mit bewegungslosem Arm herum als Folge eines Anfalls von Rheumatismus, ohne daß sich jemand darum kümmerte. Dann wurde ich dem Herrn Vater auffällig durch einen üblen Geruch aus dem Mund. Wahrscheinlich hatte ich einen Magenkatarrh. Von Zeit zu Zeit litt ich an ganz furchtbaren Verstimmungen meiner Verdauungsorgane, begleitet von einem so fauligen Aufstoßen, daß ich mich selber davor fürchtete. Man hieß mich die Zähne putzen und jeden Morgen den Mund ausspülen, aber eine Bürste bekam ich nie.
Dann befielen mich plötzlich heftige Ohrenschmerzen. Ich werde eine Mittelohrerkältung gehabt haben, vielleicht war es auch eine Entzündung, jedenfalls floß das Ohr, und da ich vor Schmerzen und wahrscheinlich auch vor Fieber zu nichts zu brauchen war, so steckte man mich in die Krankenstube, wo ich die Sache im Bett ausdauern sollte. Ein Bruder tat dort Krankendienst. Zu bestimmten Zeiten brachte er das Essen, räumte das Zimmer auf, aber nachts schlief ich allein, und ein Arzt hat mich nicht zu sehen bekommen. Auch sonst kümmerte sich niemand um mich. Bloß Leuenberger war jeden Nachmittag bei mir und leistete mir Gesellschaft, brachte mir die Bücher, die ich wünschte, erzählte mir, was in der Schule geschehen war, und ließ sich seine Aufgaben von mir machen. Wir kamen einander in dieser Zeit ziemlich nahe. Sein Thema war das Geld und das andere Geschlecht.
»Zum Beispiel hier – nichts ist das hier!« raunte er wichtig. »Weißt du, bei uns zu Hause, da ist ein kleiner See. Der hat Forellen und manchmal Hechte. Da hab' ich doch die Ziegen gehütet. Einmal ist mir eine Geiß ausgebrochen, und ich wurde aus dem Haus geprügelt in der Nacht, um sie zu holen. Wo sollte ich sie holen? Ich ging an den See, heulte zuerst und rief dann eine Zeitlang nach der Geiß, und dann sah ich so ins Wasser. Da schien der Mond hinein, verstehst du. Und die Fische, die schwammen da wie in Glas, ganz still und heimlich. Und als ich aufsah, stand die Geiß neben mir, guckte mich an wie so ein Geist mit ihren Augen, und ich fing wieder an zu heulen. Mit Heulen lief ich zu meinem Dienstherrn zurück, und die Geiß immer meckernd hinterher. So ist es mir gegangen. Aber jetzt wäre ich ein kleines Knechtlein, bekäme schon ein wenig Geld, und die großen Knechte gäben mir manchmal ein bißchen Kautabak. Und da wären Mägde. – Weißt du eigentlich, wie Mädchen beschaffen sind?«
Ich verneinte, und eine Zeitlang dachte er wieder nach.
»Der Knecht sagt, solange man die Mädchen und Frauen nicht kennt, weiß man noch nichts vom Leben«, flüsterte er träumerisch weiter. »Die machen es erst vollständig. Hier erfährt man ja überhaupt nichts. Und Geld bekommt man nicht einmal zu sehen. Der Knecht sagt, mit Geld kann man die Schönste bekommen. – Warum hast du mich neulich in die Heidenkasse zahlen lassen?«
Bekümmert blickte er mir ins Gesicht.
»Warum?« fragte ich unsicher zurück. »Ich wollte nicht soviel auf einmal geben. – Und dir hat es ja nicht geschadet.«
Er schwieg.
»Sieh mal«, grübelte er schwermütig, »ich bin hier der Ärmste. Keinen Besuch habe ich. Niemand schickt mir Geld. Seitdem ich die fünfzig Pfennige in der Hand hatte, muß ich jetzt immer an Geld denken. – Ich muß überhaupt soviel denken die letzte Zeit. Ich glaube, ich gehe schlechten Zeiten entgegen, habe viel unrechte Vorstellungen und Wünsche. Was soll ich machen?«
»Sie sagen, man soll beten!« bemerkte ich kleinlaut. »Weil ich dir das Geld gegeben habe, mußt du aber doch nicht solche Gedanken haben.«
»Vielleicht. Wer weiß. Der Dümmste in der Schule bin ich auch, und dann noch Gedankensünden, wie soll das ausgehen? Du bist gescheit. Wirst erstmal etwas Ordentliches werden. Und dann denkst du nicht mehr an mich. – Wenn ich nächstes Jahr heraus komme, schicke ich dir von zu Hause einen Berner Lebkuchen. Aber ganz sicher. Glaubst du nicht?«
»Du kannst dir in meinem Platz meinen Federkasten nehmen«, sagte ich dagegen mit gewisser Erregung. »Oder willst du lieber etwas anderes? Du kannst dir nehmen, was du willst. Suche nur.«
Als ich wieder gesund war, wurden wir eines Morgens anstatt in die Arbeitstube ins Feld hinaus geführt. Ein Trupp von uns ging mit den Körben voraus. Andere folgten mit den Handwagen, auf denen die Kärste und Hauen lagen. Zum Vortrupp gehörte ich. Es war eine kühle Morgenfrühe, der Himmel, wie oft im Herbst, noch grau verhängt, so daß man nicht weiß, wird es regnen, oder wird es sich aufklären. Aber schon auf dem Weg hinaus begann ein silberner Schein im Nebel aufzugehen, und als wir auf dem Acker die anderen erwarteten, zerriß der Nebel, und blaue Stücke Himmel leuchteten zwischen den im Morgenwind schnell vorüberhuschenden graufeuchten Nebelfetzen warm und freudig herunter. Leuenberger hatte sich wie immer zu mir gesellt. Wir gingen spinnensuchend eine Hecke ab. In den Blättern und den Spinnennetzen hing in schweren Tropfen die Nebelfeuchte. Auch unsere Kleider und Haare waren betaut; wenn man mit der Hand darüber fuhr, so glänzten sie nachher vor Wasser. Wir fanden viel Spinnen, rote und grüne, darunter große Kerle, die einen in die Schädelhaut bissen, wenn man sie auf dem Kopf unter dem Hut unterbrachte. Eine köstliche Stille und Kraft herrschte. Die Bäume hingen voller Äpfel. Das Kartoffelkraut strömte einen strengen Duft von Überreife aus.
»Du, Schattenhold«, hob Leuenberger an zu sprechen, »ich weiß jetzt, wie man im Leben vorwärtskommt. Der Knecht hat es uns gesagt. Aber man muß Mut haben.« Er blickte mich schwermütig und mit der Sorgfalt des starken Menschen an. »Wenn es dir schlecht geht, so mußt du beiseitegehen und den Daumen so von dir strecken.« Er machte es mir vor. »Und dann mußt du dreimal fest und ruhig sagen: ›Teufel beiß ab!‹ Von der Stunde an wird sich dein Pech geben. – Hier werde ich es nie machen; es hat ja doch keinen Zweck, hier etwas zu wollen. – Nächstes Frühjahr habe ich aber ausgelitten. Ich weiß genau, daß sie mich nicht mehr zu sehen kriegen. Auch nicht eine Zeile werde ich her schreiben.«
»Ich habe dann noch zwei Jahre!« bedachte ich. »Ich glaube aber, die letzten Jahre sind kürzer.«
Das bestätigte er.
»Du mußt nur nicht dran denken«, riet er noch. »Dann geht alles am schnellsten vorbei. – Du, ich weiß jetzt hier eine«, teilte er mir dann mit. Seine Augen leuchteten treuherzig auf, aber zugleich sah er schuldbewußt und unsicher drein, und er hatte ja auch mit einem solchen Geständnis alle Mächte dieses Platzes gegen sich. »Weißt du, die Marianne. – Guck sie manchmal auch an, willst du?« bat er liebreich und schüchtern. »Und wenn du kannst, so gib ihr ein gutes Wort. Sie hat nicht viel zu lachen hier. Auch an ihr hauen sie immer herum.«
»Sie hauen an uns allen herum!« versetzte ich lustlos. Er ermüdete mich heute; ich hatte einen schlechten Tag.
»Sei nicht ungeduldig!« bat er. »Wir können ja nichts dafür. Welche haben noch wenigstens ihren Charakter. Ich habe nicht einmal den.«
Ich dachte, daß er sogar viel Charakter hätte, aber mir fehlte es gewaltig daran. Doch ich sprach den Gedanken nicht aus, und er erwartete es auch nicht. Plötzlich stieß ich gereizt hervor: »Man muß hier etwas ganz anderes tun. Mädchen können uns nicht helfen. Ein Krach muß nach dem anderen kommen, bis sie nicht mehr wissen, wo aus und ein. – Aber nicht einmal meine Mutter brachte mich hier heraus, und sie ist in Amerika gewesen. Rechne selber.«
Zornig nahm ich meinen Hut vom Kopf und schüttelte die gefangenen Spinnen über die Hecke aus. Sie liefen sofort davon und verkrochen sich.
»Mit dir ist manchmal schwer zu reden!« beklagte sich Leuenberger seufzend. »Das kommt davon, daß du gescheit bist. Alle Gescheiten sind streng.«
Die andere Abteilung war da. Auch die Aufseher waren eingetroffen, und die Arbeit begann.
Die Marianne, von der Leuenberger sprach, war ein großes, dunkles Mädchen, das ihm in manchen Stücken glich, ebenso breit und schwerfällig, auch so traurig und von allen verlassen, und viel gestraft gleich ihm. Wir sprachen in der Folge mancherlei über sie. Sie war ihm noch dadurch besonders lieb, weil sie gleich ihm aus dem Kanton Bern stammte, und zwar ebenfalls vom Land; das machte sie ihm heimatlich. Seine ganze scheue und hilflose Sehnsucht ging nach ihrer für meine Begriffe etwas massigen Gestalt. Sie saß in der gleichen Bankreihe mit mir auf der Mädchenseite, nur durch den Gang von mir getrennt. Weil sie in der Schule viel zu leiden hatte, bat mich Leuenberger vor allem, ihr da Vorschub zu leisten. Ich saß dafür bequem und tat es, wenn ich gut konnte. Sie bezeigte sich dankbar dafür, und da sie schon sehr entwickelt war – ihr Leibchen umspannte nicht mehr bloß kindliche Rippen –, so empfand auch ich etwas mehr dabei, als nur Befriedigung über meine geistige Überlegenheit. Es war da eine gute, gesunde, aber dumpfe weibliche Kraft beinahe auf meiner Lebensebene, und den ganzen Winter hindurch fühlte ich mich während der Schulstunden ein wenig von ihrer Atmosphäre umfangen.
Einmal riet ich Leuenberger, mir doch einen Zettel für sie zu geben, aber dazu hatte er keinen Mut. Später kam er auf den Gedanken, daß ich für ihn schreiben und werben solle, aber inzwischen hatte ich erfahren, daß Kleiber sie umwarb und in irgendeiner nicht näher bekannten Verbindung mit ihr stand. Mit seiner trotzigen Stoßkraft wollte ich nicht zusammenrennen, und unter dem Vorwand, daß das jeder selber machen müsse, lehnte ich es ab. Kleiber gehörte außerdem zum Bund, was bei Leuenberger nicht der Fall war, und in der letzten Zeit bekam ich zu meiner leisen Verwunderung in einer Weise, die ich nicht einmal bestimmen konnte, eine nähere Beziehung zu dem schwarzen, festen Burschen. Erst später ging mir die Ursache davon auf; sie hing mit Marianne zusammen. Diese neue Fühlung war mir aber zu wertvoll, als daß ich sie aufs Spiel gesetzt hätte.
Während also Kleiber dem Gerücht nach bei der bloßen Anhimmelung nicht stehengeblieben war, verstrickte Leuenberger sich hoffnungslos in einem uneinträglichen System von Seufzern, Blicken, Mitteilungen und Tränen – nachgerade brach er in Tränen aus, wenn er von ihr sprach –, und je hingebender er liebte, desto unglücklicher fühlte er sich in dem Zwang, wovon er sich überall umgeben sah, ohne sich hinausretten zu können. Die Prügel dafür hätte er von Herzen gern hingenommen, aber er wußte nicht einmal, wie er sie verdienen sollte, und ich wußte es schließlich auch nicht. Er war so feinfühlig, daß er mir den Vorschlag, Marianne an seiner Stelle zu schreiben, nicht zum zweitenmal zu machen wagte, obwohl die Bitte lange in seinen Augen stand. Aber als ich, von einer Regung der Ungeduld getrieben, es ihm einmal plötzlich selber anbot, unbekümmert um Kleibers zähe Wachsamkeit, schüttelte er traurig den großen Kopf.
»Das ist zu gefährlich für dich«, sagte er voll zarter Fürsorge. »Und dann hätte auch sie daran zu tragen.« Doch leuchtete nun ein neuer Gedanke in seinen Augen auf. »Aber wenn man ihr – etwas schenken könnte!« meinte er leise. »Würdest du ihr das von mir geben?«
»Gib es ihr doch selber«, sprang ich ab. Meine Helferslaune war schon wieder verflogen. Immer öfter war er mir in der letzten Zeit lastend, da ich ihm nicht mehr mit ungeteilten Gefühlen gegenüberstand. Ich fand mich manchmal auch ihm gegenüber untreu, und dann wurde mir seine vertrauende, breite Figur zum Vorwurf.
»Was hat's auch für einen Zweck, darüber zu reden!« seufzte er. »Man ist ja ein armer Teufel. Nichts habe ich. Nun also. – Ich werde ihr etwas schenken, wenn ich einmal Geld verdiene.«
»Du kannst meine Federschachtel haben«, bot ich noch einmal an, aber er schlug standhaft aus. »Oder was du willst!« drang ich in ihn. »Gib ihr eins meiner Bücher. Die ›Echten und falschen Edelsteine‹ werden ihr sogar sehr gefallen.«
»Laß nur!« sprach er mir freundlich zu, wenn auch etwas bedrückt und beunruhigt von meiner Ungleichheit. »Ich werde schon auch etwas finden.«
Nun hatten wir da so ein schulkluges, schäbiges Subjekt – eben unseren Klassenersten, von dem ich zu meiner Mutter gesprochen hatte –, einen Augendiener und Musterknaben, der aber entgegen der Anstaltsordnung immer ein Geldbeutelchen mit etwelchem Inhalt bei sich führte. Den Inhalt vermehrte er zielbewußt durch stille, zähe Schachergeschäfte. Wo sich ein Groschen in einer Hand befand, da fühlte er sich angezogen, und nach kürzeren oder längeren Bemühungen war der Groschen als Ergebnis eines für ihn stets günstig verlaufenden Geschäftes in seinem Beutelchen. Von diesem allen bekannten Beutelchen hieß es eines Tages plötzlich, daß es gestohlen sei. Zuerst lachte man und dachte, das Bürschchen wolle sich damit wichtig machen oder verfolge sonst eine Absicht. Aber ihm war es harter Ernst. Er setzte eine Frist von drei Tagen, innerhalb derer das Beutelchen wieder da sein müsse, im anderen Fall werde er den Diebstahl zur Anzeige bringen. Als die drei Tage herum waren, ging er unter Hintansetzung der Gefahr, die er selber dabei lief, wirklich erbitterungsvoll zum Herrn Vater und erstattete Anzeige.
Die Nachricht: »Es ist gestohlen worden!« bedeutete für uns eine unbedingte Unglücksbotschaft. Selbst wenn die Sache gleich herauskam, blieb doch so viel an uns hängen, daß es hinreichte, um uns ein paar Tage zu verderben. Aber wehe, wenn sich die Angelegenheit in die Länge zog! Am Abend des gleichen Tages wurde das Verfahren über uns feierlich eröffnet. Es war hier Taktik, uns immer zusammen zu nehmen; wenigstens kam wieder ein moralisches Exerzitium dabei heraus. Nach dem Nachtessen teilte der Herr Vater mit, das und das sei abhanden gekommen, und er fordere den Dieb auf, sich nachher bei ihm auf seinem Zimmer einzufinden. Er machte noch darauf aufmerksam, daß die Sühne um so milder ablaufen werde, je früher der Dieb sich melde. Das Mildeste waren acht Stockhiebe; soviel wußte man schon. Dann nahm die Abendandacht ihren gewohnten Verlauf.
Mir war, als ob sich eine jener sagenhaften Zimmerdecken aus den Räuberherbergen des Thüringer Waldes auf uns hernieder senkte. Der Gesang ertönte von unserer Seite sofort wesentlich dünner. Kleinlaut oder verstockt vernahm man die Ermahnung des Herrn Vaters. Die meisten plagte das widerwärtige Gefühl von Unbehagen, das beinahe alle Menschen befällt, wenn sie mit einem Diebstahl oder auch bloß einer Verlustgeschichte befaßt werden.
Wie sich herausstellte, befanden wir uns nachher alle vollzählig in den Schlafsälen. Der Herr Vater hatte also umsonst gewartet, und wir machten uns für morgen auf den nächstschwereren Grad des Verfahrens gefaßt. Verärgert nahmen sich einige von uns bereits den Angeber vor, aber er wehrte sich mit Nägeln und Zähnen für sein Recht und seinen Beutel, und man konnte ihm zunächst nichts anhaben.
Am anderen Vormittag wurden wir alle zum Herrn Vater beschieden. Er saß in seinem Sessel neben dem Schreibtisch mit dem Blick gegen die Tür. Wir standen im Hufeisen ihm gegenüber. Er nahm zuerst noch einmal Bezug auf die Mitteilung von gestern.
»Der Dieb hat sich nicht gemeldet«, sagte er dann. »Das hat er sich selber angetan. Je länger er warten läßt, desto härter wird seine Strafe sein. Der Diebstahl ist eines der verabscheuungswürdigsten Vergehen. Er ist ein Vertrauensbruch und eine Lästerung auf Christi Tod, und bei Verstocktheit wird er zur Sünde wider den Heiligen Geist. Davor will ich den Täter bewahren, weil ich ihn liebe, wie jeden einzelnen von euch. Er soll hervortreten. Wir sind alle fehlbar.«
Nichts regte sich. Der Herr Vater wartete schweigend eine Weile. Er verdüsterte sich wieder zusehends.
»Fünf Minuten Zeit zur Besinnung sollen ihm und seinen Mitwissern noch gegeben sein«, erklärte er dann unter den ersten Stößen von Unruhe und Ungeduld. »Solange bleiben wir hier still beisammen, denken unserer Seelen und beten für den Fehlbaren. Um sein Herz kämpfen die Engel und die Teufel. Wer sich reinigt, kann den Kampf fühlen!«
Das Schweigen begann. Verdunkelt, unmutig, erzürnt blickte der Herr Vater vor sich hin, und ich glaubte nicht, daß er betete. Er grübelte und wühlte, wie er des Diebes habhaft werden könnte. Nie sah man ihn so bitter aufgebracht, so unzugänglich entsetzt, als wenn eine Diebstahlsgeschichte in der Luft hing. Er war dann krank und traurig, und dazu voll quälenden Rachebedürfnisses. In irgendeiner neuen Weise gespannt, betrachtete ich diese unmutsvoll vornübergeneigte Gestalt in dem dicken, dunklen Hausrock mit den stets in Wolltücher verpackten Beinen, den warmen Tuchschuhen an den Füßen und dem Samtkäppchen auf dem Kopf, diesen zudringenden, unbefriedigten, einsamen Mann, dem ich so untreu war, und den ich erst neulich wieder an Leuenberger verraten hatte. Geplagt dachte ich an meine zornmütigen Worte: »Ein Krach müßte hier nach dem anderen kommen!«, und das Gewissen schlug mir. Berühmte Beispiele fielen mir ein, in denen ein vertrauender Großer einen falschen Schützling wie eine Schlange am Busen gehegt hatte, bis sie ihm den Todesbiß versetzte. Und wie er es wollte, begann auch ich erschreckt zu beten und den Kampf der Geister in diesem Zimmer zu fühlen.
Aus dem Raum nebenan schmetterte ein Kanarienvogel in unsere Stille hinein. Es roch leicht nach erkaltetem Zigarrenrauch. Die Bücher in den Regalen blickten würdig in Leder gebunden und mit Gold bedruckt auf uns herunter. Niemals erregten doch diese Werke und Folianten in mir ein Gefühl der Neugierde. Stets fühlte ich mich von ihm zurechtgewiesen oder wenigstens daraufhin angesehen. Die Uhr tickte langsam und mit schwerer Gründlichkeit; jede ihrer Sekunden hatte jetzt das Gewicht eines Schicksals und war beladen mit Schweigen und Strafandrohung. Plötzlich fiel mir der Kummer der Sünde aufs Herz. Eine dumpfe, körperwarme, ungereinigte Witterung verband mich unerwartet innig mit meinem Nachbarn links und rechts, und ich fühlte mit halb freudiger Furcht, wie mein Herz schon wieder vom Herrn Vater abfiel. Voll triebhafter Untreue war ich davon überzeugt, daß diese Empfindung nun uns alle durchdrang wie ein magnetischer Strom. Noch nie hatte ich mich mit den anderen Seelen und Körpern so eins gefunden, sozusagen von ihnen durchwachsen. Während sich mein Gewissen weiter ängstigte unter diesem fordernden, in die Seele bohrenden Schweigen, erwärmte mich in der Tiefe eine wunderbare Siegesgewißheit des Blutes und eine bittersüße Gewalt der Wünsche, in welcher ich flüchtig die ganze Zukunft meines Menschseins voraus schmeckte. Aber nur ein hellseherischer Moment, und die strengen Formen von Christi Hierarchie, in deren verborgenen Winkeln einem wir hier lebten, schlug wieder über mir zusammen. Welche von unseren Kleineren begannen nun zu heulen vor Gewissensangst und Seelenbangigkeit, aber kein Sünder meldete sich.
»Ihr seid also verstockt und einmütig«, nahm nun der Herr Vater wieder das Wort. »Macht ihr nicht mehr das Kreuz an meine Tür, so legt ihr es mir auf die Schultern. – Geht zu eurer Arbeit zurück. Auf ein Mittagessen rechnet heute nicht. Was weiter mit euch wird, hängt von euch ab.«
Wir kehrten in die Arbeitstube zurück, die anderen ins Feld und in den Garten. Der neue Aufseher zeigte Verständnis für die Sachlage, indem er uns noch eine besondere Aufgabe zudiktierte, während er essen ging. Die Zähne mit dem Fingernagel ausstochernd, kam er zurück. »Na, wie hat das Essen geschmeckt?« fragte er lachend. Einen guten Tausch hatten wir mit ihm nicht gemacht; dafür war, wie es schien, umsichtig gesorgt worden. Hungrig und als Verbrecher kamen wir in die Schule. Ging es den anderen wie mir, so schämten wir uns schrecklich vor dem Lehrer, vor den Mädchen und besonders vor Herrn Johannes. Die Schulstunden verliefen kleinlaut, in kummervoller Aufmerksamkeit, die von den Lehrern geschont wurde. Herr Johannes schien sogar etwas abwesend mit seinen Gedanken. Es war der erste kalte Herbsttag. Der Regen schlug an die Scheiben. Man hatte den Ofen angeheizt. Der alte Mann blickte manchmal hinaus, ging dann ein Weilchen sinnend den Mittelgang zwischen den Bänken entlang, und streckenweise schien er uns ganz vergessen zu haben. Mehr oder weniger war das aber immer sein Verhalten an kritischen Tagen, wenn mit uns umgesprungen wurde.
Heute geschah noch etwas Besonderes. Man hatte das Schulzimmer stark überheizt, aber da uns allen der Magen knurrte, so wandelte keinen die Schläfrigkeit an. Nachher setzte sich Herr Johannes auf das Katheder. Der Ofen stand nicht weit davon; man hatte dort die Wärme aus erster Hand. Auf dem Stundenplan stand biblische Geschichte, und zwar kam heute die Legende von dem Blindgeborenen daran, den Christus heilte. Herr Johannes begann zu erzählen, während draußen weiter der Regen niederging und der kalte Herbstwind um die Ecken pfiff, das Sinnbild eines bösen Alters, nicht des seinen. Wenn er erzählte, so ging immer einmal seine Hand nach der Krawatte, um zu prüfen, ob sie noch am Ort sei; es kam vor, daß sie ihm herunter rutschte. Er trug von den niederen Umlegekragen, wie sie auch mein Vater gehabt hatte, unter deren Ecken man die kleine Krawatte schob. Nun berichtete er also, wie der arme Blinde zum Herrn geführt wurde, und wie dieser auf die Erde spuckte und einen kleinen Brei machte.
»Von diesem Brei«, legte er dar wie schon öfter, »nahm Jesus etwas auf den Finger und richtete sich wieder auf, faßte den blinden Menschen an der Schulter und drehte ihn dem Licht zu. Mit zwei Fingern spannte er ihm die Augenlider auseinander, und während er ihm mit seinen großen, hellen Augen tief in die blinden, toten Augäpfel hineinsah« – hier nickte Herr Johannes ein bißchen und hob die Hand nach der Kragengegend –, »legte er ihm eine Krawatte an«, vervollständigte er den Satz.
Unter vollkommener Stille auf unserer Seite tat Herr Johannes durch etwa eine halbe oder auch eine ganze Minute einen kurzen, traumhellen Altersschlaf. Darauf erwachte er und setzte ruhig seine Geschichte fort.
Der Tag beschloß für uns auf den Arbeitstätten unter vermehrtem Druck aller Aufseher. Das Abendessen wurde uns auch verkürzt; es gab nur einen Teller dünne Hafersuppe. Die Andacht war dem Fall angepaßt und ging über uns hinweg wie ein Hagelschauer. Der nächste Tag begann genau so, wie der vorige geendigt hatte. Die ganze Anstalt war nun schon in das Verhängnis verstrickt. Es herrschte eine kranke, verdorbene Stimmung, die sich unter uns noch als gereizte Zanksucht fortpflanzte. Das Mitleid, das viele mit uns hatten, verbesserte unsere Verfassung auch nicht. Es verletzte unseren Stolz, zeigte uns, wie ungerecht mit uns verfahren wurde, und erzeugte bei vielen eine weinerliche Wut. Darüber verging auch der zweite Tag. Ein Mittagessen hatten wir heute wieder nicht gesehen.
Leuenberger hielt sich diese Tage noch enger als sonst zu mir. Er war besonders bedrückt und seufzte oft. Am zweiten Abend beim Anstehen vor dem Abtritt richtete er es so ein, daß wir als die letzten daran kamen und er mich mit hereinnahm.
»Du«, sagte er dann plötzlich, aufgelöst vor Angst, »ich – habe das Portemonnaie genommen, weißt du. Es ist mir so in die Hand geraten, Herrgott! Du sagtest ja, es müssen Kräche kommen! Was soll ich tun? Weißt du mir einen Rat?«
Mir war, als ob ein Meteor vor mir in den Boden geschlagen hätte. Eine ganze Weile konnte ich nichts sagen.
»Ja, Leuenberger«, erwiderte ich endlich niedergeschmettert, »da kann man nichts raten. Du mußt dich eben anzeigen. Und wenn du nicht willst, dann wird das ja auch vorbeigehen. Ewig wird er uns nicht drangsalieren.«
Er sah so mit sich selber zerfallen aus, daß ich die Augen nicht von ihm brachte; so etwas hatte ich noch nie gesehen.
»Willst nicht – du mich anzeigen?« bat er mit halbgebrochenem Blick. »Ach, tu es doch. Ich will büßen. Mögen sie mich totschlagen. Aber ich bringe es nicht heraus, verstehst du. In der Zeit müßt ihr alle mit leiden.«
Übernommen von seinen Gefühlen und vielleicht auch von der Mattigkeit lehnte er sich mit der Schulter an die Wand und begann zu zittern; vielleicht fror ihn auch, da er im Hemd war.
»Das kann ich nicht, Leuenberger«, sagte ich. »Es wäre eine Gemeinheit, und alle würden mich verachten. – Du brauchst es ja gar nicht zu sagen. Behältst es eben für dich, und es kommt nie heraus. Das ist ja einfach.«
Aber dazu traute er sich nicht die Kraft zu. Er seufzte wie ein krankes Pferd und schüttelte den schweren Kopf. Allein was sonst werden sollte, konnte er sich nicht denken. Außerdem kam nun der Bruder, um sich zu erkundigen, wo wir blieben.
»Geh nur schnell«, sagte Leuenberger und schob mich hinaus. »Sonst machst du dich verdächtig.«
Ich ging wie in einem bösen Traum. Dem Bruder sagte ich, ich hätte noch sitzen gemußt, und Leuenberger müsse auch sitzen. Selber zitternd kroch ich ins Bett, und lange konnte ich nicht einschlafen. Nachdem schon der Bruder gegangen war, kam auch Leuenberger wie ein Geist lautlos an, und den Seufzer, mit dem er sich legte, hörte man durch den ganzen Saal.
Der nächste Tag war ein Sonntag, der verdorbenste Sonntag von allen sieben Jahren, die ich in der Anstalt verbrachte. Die andern fingen nun an, sich mit einem gewissen Galgenhumor in den öffentlichen Verschiß zu finden. Vom Dieb war wenig mehr die Rede; die einen gaben ihm beinahe schon recht und sympathisierten mit ihm, die anderen setzten dem Anzeiger zu, und auf den sammelte sich je länger je mehr der Verdruß der ganzen Bubenschaft; es ging ihm nicht sehr gut diesen Tag. Sonst gab es am Sonntag Kaffee und ein Brötchen. Heute fanden wir die dünne Mehlsuppe von den Wochentagen vor. Sie paßte zu unserem Aufzug; die Sonntagskleider waren uns gesperrt. Wir saßen da, blau und abgeschlissen wie die Sträflinge, während alle anderen festtäglich gekleidet waren und Kaffee und Brötchen hatten. Nach dem Kaffee – bis zur Predigt konnten wir sonntags im Hof herumgehen, durften aber keine Spiele treiben – nahm mich Leuenberger mit sich und zeigte mir in dem kleinen Schuppen, in dem die Droschke stand, über der oberen Türschwelle ein Loch mit dem Geldbeutelchen darin. Er bat mich noch einmal flehentlich, ihn anzuzeigen, versprach mir sein Vesperbrot einen ganzen Monat lang, und als ich mich wieder weigerte, begann er vor Verzweiflung zu heulen und sich zu verfluchen, sprach davon, sich aufzuhängen, und andere hätten vielleicht auch den Herrn Vater gelästert, aber das tat er nicht, dazu war er zu anständig und zu tief von seiner Verdorbenheit überzeugt. »Und ich wollte bloß etwas für Marianne kaufen!« klagte er wie vernichtet. »Was soll sie nur von mir denken? Jetzt bin ich ein Dieb.« Ich fühlte, wie er mit der Bitte rang, ich möchte bei ihr für ihn sprechen, aber er vermochte sie nicht über sich, und was sollte es helfen?
Die Predigt hatte einen heftigen, schreckenden Text aus dem Propheten Jesaja und ließ uns wenig Aussicht, ohne eine grundstürzende und lebensgefährliche Verwandlung im irdischen Dasein glücklich und nach demselben selig zu werden. Indessen erfüllte sich das Haus wieder mit dem Gestank von verdorbenem Sauerkraut, der um so stärker wurde, je länger die Predigt sich hinzog. Der Herr Vater konnte sich heute nicht von ihr losreißen, und während sonst zwischen ihrem Ende und dem Essen für eine kleine Stunde der Ergehung im Hof Platz war, fielen wir beinahe unvermittelt heute aus dem Zorn Gottes in den Zorn der Köchin. Sauerkraut gab es zwar für uns, aber kein Fleisch, und die Suppe hatten die anderen ebenfalls – in ungewohnt konzentrierter Form und mit wahrnehmbarem Genuß – allein gegessen. Selbst die Sauerkrautschüssel ging für uns bloß einmal herum. Kurz, über das ewige Einerlei durften wir uns heute nicht beklagen; wir erlebten lauter Überraschungen. In der Freistunde hatte keiner Lust, ein Spiel anzufangen. Wir standen trübsinnig oder zornig vor und in unseren kleinen Gärten herum, besahen unsere letzten Astern, und einige Konventikel redeten nicht zu achtungsvoll vom Herrn Vater. Nun gaben schon alle dem Dieb recht. »Wenn er jetzt bloß noch ganz durchhält!« sagten sie. Der Anzeiger hielt es für geraten, sich auf einsamen Wegen zu ergehen.
Was uns in der Kinderlehre erwartete, konnten wir zum voraus wissen. Es wehte ein scharfer, angreifender Wind darin, der nicht nur durch die Hosen pfiff, sondern unsere ganze mißfällige Existenz zerzauste und zerflederte. Herr Johannes hatte sich wieder beurlaubt. Auch der zweite Lehrer fehlte. Herr Ruprecht mußte als der Sohn des Hauses da sein. Er blickte still verwundert und fragend auf uns, und sein von Natur gutes Gesicht drückte ein aufrichtiges Bedauern aus. Die Fragen prasselten wie Schloßen während eines Gewitters auf uns nieder, immer nur auf uns. Nicht eines der Mädchen kam heute ans Antworten. Es war ein Exerzitium, das sogar mir manchmal schwindlig machte, geschweige den kleinen Wichten und den armen Teufeln, die nirgends sattelfest waren. Und wie durch ein Wunder biß sich der Herr Vater endlich an Leuenberger fest. Mir begann das Herz zu schlagen, als ich das merkte. Ich fühlte, daß hier eine geheimnisvolle Beziehung zu wirken begann. Wir waren ja alle so gespannt, durchzogen von Unruhe und aufgewühlt vom Geist, und manche waren am Ende ihrer Tragkraft, daß die Sache nun zur Reife kommen mußte. Und wie wir ihn kannten, hatte sich der Herr Vater selber durch Gespräche mit Gott und durch Gebete, die um unsere Seelen kämpften, so in den Zorn dieser Tage hineingewühlt, sich so innerlich geschärft, daß er nun imstande war, auf die kleinste Schwingung im Ton einer Antwort, auf ein Stocken, eine Hastigkeit, die Regung einer Angst einzugehen, und dort Bresche zu schlagen. Allen stand der Atem still, als er in dieser Weise bei Leuenberger haltmachte. Ihn selber überkam ein abergläubischer Schreck, geradezu eine Todesangst, aus der er sich durch eine gewaltige geistige Anstrengung, um den Fragen gerecht zu werden, herauszuwinden suchte.
»Nehmen wir an, du hast gestohlen. Das können wir. Ja, du seiest der Dieb des Geldbeutels. Wer hat dann die Hand auf dich gelegt?«
»Der Teufel«, antwortete Leuenberger. »Aber ich habe nicht gestohlen!« setzte er kopflos hinzu.
»Wir nehmen es ja auch nur an. Weiter: Gott zieht sich mit allen guten Engeln von dir zurück. Du bist ein Ausgestoßener, ein Verlorener. Wir nehmen so an. Was kann dich allein vor der ewigen Verdammnis retten?«
»Das – Geständnis!« würgte Leuenberger hervor.
»Was folgt auf das Geständnis?«
»Die Strafe.«
»Auf die Strafe?«
»Die Erleichterung.«
»Möchtest du auch erleichtert sein?«
»Ich – möchte – erleichtert sein!« keuchte Leuenberger.
»Warum hast du denn nicht schon lange gestanden?«
»Der Teufel hatte – die Hand auf mir – –!«
»Du bist also der Junge, der den Beutel gestohlen hat?«
»Ja –!«
Er war erschöpft und ergab sich. Der Geist hatte ihn ausgespürt, aufgerieben und erlegt wie ein Wild. Es war ein ungeheurer Augenblick. Eine furchtbare Stille folgte dem Geständnis. Leuenberger stand da, keuchend, schwankend, schweißbedeckt. Die Augen traten ihm aus dem Kopf, und dann begann ihn ein Zittern nach dem anderen zu überlaufen. Der Herr Vater war kreideweiß geworden. Er sah selber erschöpft aus. Der Bart zitterte ihm.
»Gotthold, rege dich um Jesu willen nicht so auf!« mahnte von hinten hervor die Frau Mutter.
»Wo – hast du den Geldbeutel?« fragte der Herr Vater dann mit Anstrengung. Das gestand Leuenberger sofort. Eine Abordnung aus zwei Brüdern wurde abgeschickt, um das Ding zu holen. Inzwischen sollte Leuenberger gestehen, wie er dazu gekommen sei, es zu nehmen. Das konnte er nicht sagen; er blieb dabei, daß der Teufel die Hand auf ihn gelegt habe.
Die Brüder kamen mit dem Geldbeutelchen. Es fehlte nicht ein Pfennig darin. Nun wurden Mitschuldige oder Mitwisser von ihm gefordert. Mir flimmerte es vor den Augen, aber Leuenberger blieb stumm. Vor die Hausgemeinde genommen, sagte er endlich, er habe keine Helfer, und es habe auch kein anderer darum gewußt. Damit fand er jedoch keinen Glauben, ja, da er mit der Antwort gezögert hatte, legte man ihm diese Ableugnung trotz aller Reuebeweise als neuen Trotz aus.
»Wie dem nun sei«, schloß der Herr Vater, »so wirst du jetzt deine Strafe bekommen, und zwar wirst du für die, die du nicht nennst, mit büßen. Um so schwerer wird deine Strafe sein, je länger du uns alle hingehalten und deine Kameraden hast mit leiden lassen.«
Der Aufseher war bereits beauftragt, den Stock zu holen. Im Angesicht der Hausgemeinde mußte sich Leuenberger über einen Stuhl legen.
»Für das erstemal zwölf!« befahl der Herr Vater blaß und erbittert.
Der neue Aufseher, ein baumlanger Kerl, sonst ein kalter Schuft, den nicht einmal Ladurchs Phantastik auszeichnete, wußte bereits, was von ihm erwartet wurde. Er zog also hoch auf und schlug mit vollem Schwung zu. Leuenberger fing gleich an zu winseln. Ich hätte schreien mögen. Ich wußte nicht, wo ich mit mir bleiben sollte. Meine geistige Mitschuld war mir ja ganz klar, aber sie lag höher, war in diesem rohen Verfahren nicht unterzubringen. Die Streiche fielen in furchtbarer Langsamkeit, alle zehn Sekunden einer. Die Sekunden zogen sich zu Minuten voller Marter und Lebensnot. Die Minuten schienen Stunden zu sein. Leuenberger stöhnte und fing an zu heulen wie ein Tier. Einmal sprang er auf. Preller, der Aufseher, wartete ruhig, beobachtete ihn nur. Er blickte sich verstört im Kreis um. Seine angsterfüllten Augen suchten mich und hingen sich einen Moment an die meinen, dann wurde er still, und erschüttert legte er sich wieder auf den Stuhl, um den Rest der Streiche in Empfang zu nehmen.
Dem Verfahren schloß sich eine allgemeine ernste Ermahnung an, worauf ein Gebet und das gemeinsam gesprochene Glaubensbekenntnis die Andachtstunde abschlossen. Alsdann zogen wir unter Absingung des Liedes: »Preis und Dank dem, der die Welt befreit, der alles einst erneut!« nach dem Speisesaal hinunter, wo jeder ein Stückchen Brot und einen Apfel an seinem Platz vorfand. Ich hatte nicht gesungen, und auch andere sah ich zornig schweigen. Bloß von den Mädchen ertönte wie immer der fromme Wohlklang ohne jede Trübung. Nachher konnten wir uns noch sonntäglich anziehen. Auf dem Spaziergang ging Leuenberger lange allein, bis ich es nicht mehr aushielt und ihn aufsuchte. Zu sagen wußte ich nichts; zu schmerzlich war das ja alles. Er teilte einmal beiläufig mit, die Hose klebe ihm an vor Blut. Heute wurde ich mit dieser Freundschaft nicht gehänselt. Jeder fand mein Verhalten in Ordnung, keiner focht ihn an wegen der Unannehmlichkeiten, die man seinetwegen ausgestanden hatte, oder zeigte ihm seine Verachtung, weil er doch endlich weich geworden war; man hatte ja die Aufwendung zu diesem Ziel mit erlebt, und zudem sah er in den nächsten Tagen einer zweiten Verprügelung entgegen.
Es kam jedoch anders. Der Herr Vater wurde infolge der erlebten Aufregung krank. Eine ganze Reihe von Tagen bekamen wir ihn nicht zu sehen. Was ihn eigentlich betroffen hatte, blieb geheim. Vielleicht war es ein leichter Schlaganfall, in welchem er eine persönliche Heimsuchung und Mahnung sah. Er ließ sich zwar nachher den Leuenberger noch einmal kommen, sprach aber nun väterlich und menschlich mit ihm, und Leuenberger äußerte sich aufrichtig anerkennend über den Herrn Vater, hatte ihn jedoch sehr schwach gefunden. Ein Nachspiel hatte diese Geschichte noch insofern, als der Anzeiger, dem das Portemonnaie gehörte, in den folgenden Nächten von einer geheimnisvollen Reihe von Maulschellen heimgesucht wurde, deren Verabreicher nach den verschiedensten Richtungen in dem Dunkel verschwanden, aus dem sie aufgetaucht waren. Der Anzeiger hatte nicht den Mut, das ebenfalls zu melden.
Leuenberger trug still und geduldig an seiner Schande, bis der Balsam der Zeit seine Wunde heilte, wurde ein braver Konfirmand voll trübsinnigen Ernstes, und verließ die Anstalt nicht triumphierend, wie er immer gedacht hatte, sondern wehmütig und etwas bedrückt angesichts des Neuen, das seine unvorbereitete Seele und seinen schwerfälligen Geist draußen erwartete. Damit hielt er aber Wort, daß er von da an für die Anstaltsleitung verschollen blieb. Nur an Marianne schickte er einen Berner Lebkuchen, den sie nicht bekam. Ich sah den Kuchen einige Tage auf dem Schreibtisch des Herrn Vaters liegen. Wer ihn schließlich gegessen hat, weiß ich nicht.