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Sechzehntes Kapitel
Um den Abend wird es licht sein

Der Untergang der jungen Sonne

Auch ich gehörte damals und noch lange zu den Menschen, denen etwas fehlt, wenn es ihnen gar zu gut geht, die allmählich einen törichten Übermut entwickeln, wenn sie nicht unter Druck stehen, und die entweder das Komplottieren oder die Faxenmacherei ankommt. Solange ich beim Herrn Vater schrieb, hielt ich Ernst, und der Raum imponierte mir schon zuviel, um mir Vorlautheiten herauszunehmen. Aber draußen spielte ich jetzt gern ein Endchen die große Person, neckte meine Kameraden, machte den Kleineren Wippchen vor, gab mich auch einmal eine Strecke lang wertvoll, und den Schuster führte ich gelegentlich ein bißchen an der Nase oder an seinen roten Lockenrollen herum. Marie unterlag nicht solchen Anwandlungen, und manchmal sah sie mich ein wenig verwundert an. Sie war ja viel unmittelbarer und bestimmter, auch ernsthafter als ich. Solch ein Weibchen von vierzehn, fünfzehn Jahren hat es schon in sich, und wo beim gleichaltrigen Jungen rechts ein trüber Feuerstrudel und links ein wolkenhafter Bock mitläuft, hat sich beim Mädchen die Welt bereits säuberlich in Engel und Teufel geschieden. So hatte sie schon viel mehr Beziehungen zum Himmel als ich, aber es steckte auch mehr Satan in ihr, und insofern hatte ich sie in meiner Oper ganz richtig charakterisiert.

Unter dieser Stimmung stand mein letztes Erlebnis mit ihr. Wir befanden uns gleichzeitig beim Herrn Vater droben. Sie hatte eben gelesen, und ich sollte schreiben, und der Herr Vater unterhielt sich mit uns beiden. Marie gab gescheite, besonnene Antworten, mit mir war auf einmal nichts anzufangen. Halb gelüstete es mich, mit ihr Flausen zu machen und mit Augenblinken und ähnlichen Scherzen auf unser Geheimnis anzuspielen, halb war ich verlegen, als ob ich überall meterweit aus meinen Kleidern herauswüchse und nicht auf fünf zählen könnte. Man muß Junge gewesen sein, um diesen verzweifelten und höchst ärgerlichen Zustand zu kennen. Plötzlich zog eine dicke Fliege meine Aufmerksamkeit auf sich, und schon beschloß ich, sie zu erlegen. Während der Herr Vater ahnungslos und freundlich mit uns weitersprach, schielte ich nur noch nach dem Brummer und rückte ihm unauffällig näher, bereit, ihn im gegebenen Moment zu klappen. Da sagte Marie plötzlich ganz ruhig und ein wenig gouvernantenhaft: »Laß die Fliege leben. Du kannst nicht wissen, wer sie ist.«

Der Herr Vater, in seinen Ausführungen unterbrochen, horchte auf.

»Was gibt's?« fragte er.

»Ach, nichts«, entgegnete sie, immer noch mit dem Blick auf mir, nun leicht errötend. »Er wollte eine Fliege totschlagen. Das kann ich nicht sehen.«

Ich guckte sie groß an. Sie schien mir heimlich zornig zu sein.

»Wer soll die Fliege wohl sein?« meinte ich vorwitzig, aber es war mir nicht wohl dabei, und halb ärgerte ich mich auch über die Zurechtweisung in Gegenwart des Herrn Vaters.

Sie schlug die Augen nieder.

»Sie kann ein verwandelter Mensch sein«, sagte sie leise unter einem Anflug von Trotz. Dabei stand ein solcher hoheitsvoller Ernst auf ihrer Stirn, daß ich mich schämte wie ein Hund. Noch nie war ich mir so unreif und tölpelhaft vorgekommen.

Der Herr Vater mischte sich nun in die Sache und bewies aus der christlichen Lehre, warum das ein Aberglaube sei, aber sie sagte nichts dazu und ging auch nicht davon ab, so einleuchtend er darlegte, daß Christus für jede Seele gestorben sei und also keine in eine Fliege verwandelt werden könne, weil sie doch nach dem Tod den Weg der Rechenschaft antreten müsse. Marie ging, ohne mir noch einen Blick geschenkt zu haben. Das ist meine letzte Begegnung mit ihr. Fünf Stunden später war sie schon nicht mehr unter den Lebenden. Ich weiß noch heute nicht, was mich schwerer traf und länger quälte, dieser jähe Abgang oder der lächerliche, läppische Abschied von meiner Seite.

Ich weiß wohl, ich sollte nun Maries Abschied »motivieren« und aus irgendeiner vorhergegangenen Handlung »organisch ableiten«, aber ich muß bei der Wahrheit bleiben, und wenn ihr Untergang sich unmittelbar aus ihrem schnellen, zugreifenden Temperament und aus ihrem großzügigen Charakter herleitet, so ist er doch vielleicht genügend begründet.

Die Mädchen hatten heute Badetag. Die Partei, die badete, kam später zum Kaffeetisch; wir waren im Speisesaal allein gewesen. Unsere Theatergeschichte war nun so weit, daß bereits die Rollen ausgegeben waren und daß einige von uns mit Blättern in der Hand auswendig lernend herumgingen. Der Lärm war also geringer als sonst. Es hatte über Mittag ein bißchen gedonnert, doch ohne abzukühlen, und die paar Regentropfen waren von der nachfolgenden Sonne längst wieder aufgesogen. Zu fünf Uhr war ich wieder zum Herrn Vater befohlen, um weiterzuschreiben; wir waren jetzt schon bis zum Beginn seiner Krankheit vorgedrungen, der viel früher lag, als ich vermutet hatte. Gerade stand ich mit einigen anderen Jungen zusammen und prahlte ein bißchen mit den Aufzeichnungen und meinen Wissenschaften von der Vergangenheit dieses Platzes, da war uns, als erhebe sich in oder hinter dem Haus eine ungewohnte Unruhe. Es wurde geschrien und gelaufen. Jemand rief nach der Frau Mutter. Herr Ruprecht erschien auf einen Moment ganz verstört und schickte einen von uns nach dem Storchnest zu Herrn Bunziker, er solle sofort zum Badeplatz kommen; es sei etwas passiert. Bald darauf sahen wir ihn laufen, was er konnte.

Bei uns trat eine beklommene Stille ein. Einige von uns wurden bleich. Mir klopfte das Herz dumpf auf, und eine unerklärliche Angst befiel mich. Ich konnte an nichts denken als an Marie. Im engen Trupp gingen wir nach dem hinteren Hof, um dort vielleicht mehr zu erfahren. Da sahen wir die Frau Mutter mit ihrem unbehilflichen Gang, laut nach Gottes Barmherzigkeit schreiend, die Lindenallee hinunterwanken. Kein Mensch war bei ihr; das war mir das schrecklichste daran. Die Männer waren vorausgelaufen, um zu helfen, und wo sich die Tochter aufhielt, wußten wir nicht. Auch Herr Johannes befand sich schon am Platz. Schwer verzagt standen wir da auf einem Haufen beisammen und warteten. Weiter vor wagten wir uns nicht. Viele Minuten waren vergangen – sie dünkten mich Stunden –, da brachte man endlich eine weiße Gestalt in nasse Laken gewickelt. Aber es war nicht Marie, und es war auch nicht die Ertrunkene; es war die Gerettete. Ertrunken war, nach allen Ausrufen und Aufschreien zu schließen, eine andere, doch schien es unmöglich, aus einer Menschenseele etwas Verständliches herauszubringen. Die armen Dinger waren ganz verstört und hatten für uns bloß irre Blicke. Eine Gruppe nach der anderen kam aus dem Garten hergehetzt, bleich, mit dem Tod auf den Fersen. Welchen klapperten die Zähne. Das nasse Haar zottelte und klebte ihnen um die Köpfe. Die meisten waren überhaupt bloß halb angezogen, hier ein unerlebter Anblick. Endlich gelang es mir, eines dieser Geschöpfe zum Stehen zu bringen. Es war keine von Maries Freundinnen, und uns diente sie viel als Zielscheibe unseres Spottes, weil sie vom Feinheitsteufel besessen war, und nicht wie andere Leute Tante sagte, sondern Tamte. Jetzt starrte sie mich einen Moment wie verständnislos an. Plötzlich hielt sie den Arm vors Gesicht, als wollte sie einen Schlag abwehren, und indem sie schon wieder weglief, schrie sie zurück: »Marie Claudepierre ist ertrunken!«

Ich stand da wie vom Blitz getroffen, und anderseits war mir, als hätte ich es vorher gewußt. Halb erschlagen starrte ich dem Geschöpf nach, während sich die anderen Jungen schnell um mich zusammenrotteten und hören wollten. Aber ich wußte auch nichts, machte immer den Mund auf, um zu sprechen, brachte keinen Ton hervor, und vollkommen betäubt setzte ich mich plötzlich in Gang, um wie eine Maschine, die jemand in Antrieb gesetzt hat, zum Herrn Vater hinaufzusteigen. Es war, als ob ich den Ort aufsuchen wollte, wo ich zuletzt ihre Stimme gehört und etwas mit ihr erlebt hatte, und wo ich sie wieder zu finden hoffte. Ich fand den Herrn Vater ganz allein in seinem weiten Saal sitzen. Noch niemand hatte an ihn gedacht. »Wer ist da?« fragte er mit verhaltener Erregung. »Ich, Schattenhold«, sagte ich und ließ mich gleich auf einen Stuhl nieder, weil ich zu zittern begann. »Marie Claudepierre ist ertrunken«, setzte ich noch hinzu, obwohl ich annahm, daß er es schon wußte. Er erwiderte nichts darauf. Nur einmal fragte er aus einem langen Schweigen heraus: »Weißt du etwas Näheres?« Ich verneinte, und er hatte auch nichts erwartet.

Endlich kam die erste Abgesandte von Herrn Ruprecht, dann eine der Frau Mutter. Die Männer hatten den Anstaltskahn flottgemacht, ruderten auf dem Wasser herum und suchten mit langen Stangen die Gegend ab. Auch Herr Johannes war bei ihnen; die Frau Mutter stand am Ufer und schrie immer nach ihm, er solle an Land kommen, sonst passiere ihm auch noch etwas. Allmählich ergab sich aus den Aussagen der Mädchen – es kamen jetzt aus eigenem Antrieb immer noch mehr dazu – ein Bild. Sie hatten miteinander im Wasser einen Ringelreihen gemacht und gesungen. Marie war nicht dabeigewesen; sie hatte sich am Ufer mit einigen ganz Kleinen abgegeben, die sich nicht hinein getrauten. Da war wohl eines der Mädchen, Emma Oberer, über sein langes Badehemd gestrauchelt und rückwärts nach der Strömung zu gefallen, aber im letzten Moment, noch bevor es ins Treiben kam, war ein anderes Mädchen, Sophie Murner, herzugeeilt und hatte es zurückgerissen. Nun wußte man nicht genau, wie es eigentlich zugegangen war; wahrscheinlich waren die tugendhaften langen Badehemden die Ursache des ganzen Unglücks. Noch schalt Jungfer Rosalie erschreckt auf die unvorsichtige Emma Oberer, die, von den anderen umringt, mit ihrem Herzklopfen kämpfte. Plötzlich sah jemand Sophie Murner im offenen Wasser hinabtreiben. Von irgendwoher hatte man Hilferufe gehört, und als man sich umsah, schwamm das Mädchen schon kämpfend ein gutes Stück in der Strömung draußen. Nun entstand ein planloses Geschrei und ein Durcheinanderlaufen. »Schwimm, was du kannst!« schrie Jungfer Rosalie ihr verzweifelt zu. Bereits liefen ihr die Angsttränen über das Gesicht. »Mein Gott«, jammerte sie, »was ist denn das für ein Tag heute!« Dann bekam sie einen Einfall. »Zieh sich schnell eins an und laufe zum Gärtner hinauf!« befahl sie unbestimmt, worauf sie wieder ihre ganze Aufmerksamkeit inbrünstig der Kämpferin in der Strömung zuwandte. Auch die anderen waren so gebannt und betäubt, daß niemand daran dachte, den Befehl auszuführen. Sophie konnte wohl ein bißchen schwimmen, aber gegen die Strömung mit ihren Wirbeln und Wellen kam sie nicht auf; eben daß sie sich noch schreiend und schluckend über Wasser hielt. Die besten Schwimmer unter uns machten sich ab und zu den Ruhm, an der Feste vorbeigeschwommen zu sein, um dann mit dem Aufgebot der ganzen Kraft weit unterhalb in der Nähe der Anstalt zu landen. Die sogenannte Feste war ein Bollwerk aus Eichenstämmen und Steinen, das die Deutschritter ins Wasser hinaus gebaut hatten, um seinen Druck von den Kellermauern des Schlosses abzudrängen. Auf diese Feste trieb Sophie Murner zunächst widerstandslos zu.

Aber ebenso überraschend, wie Sophie Murner draußen in den Wellen, sah man nun Marie Claudepierre am Ufer hin entschlossen auf die Feste zueilen. Einige Mädchen wollten sie totenblaß gesehen haben vor Erregung. Geäußert hatte sie sich zu niemand. Schon unterwegs winkte sie dringend der Abgetriebenen zu, auf die Spitze des Vorbaues loszuschwimmen; ihrer Stimme war sie offenbar noch nicht mächtig. Auf dem äußersten Balkenvorsprung der Feste kauerte sie sich dann hin mit weitausgestrecktem Arm und mit eifrig winkender Hand. »Schwimm, Sophiechen, schwimm!« rief und lockte sie mit helltönender Stimme. Es gehörte etwas Herzhaftigkeit dazu, ihren Standort einzunehmen. Sie schwebte haltlos über dem quirlenden und kochenden Wasser. Ein bißchen wie in Schillers Taucher, den wir unlängst miteinander aufgeführt hatten, war die Gegend schon. Spiegel glitten tückisch vorbei. Wirbel strudelten auf und sackten glucksend zur Tiefe ab. Und ein leichtes Donnern ging immer wieder durch das massige Bauwerk; man spürte manchmal ein leises Zittern der Erde, wenn man mit nackten Füßen darauf stand.

Hinter Marie sammelte sich nun schnell der ganze übrige Mädchenhauf. Merkwürdigerweise fiel es niemand ein, sich ihr anzuhängen, um ihr Halt zu geben. Jungfer Rosalie stand mit gerungenen Händen zitternd dabei, um das Rettungswerk zu überwachen. Auch sie schrie der Abgetriebenen zu, und alle Mädchen schrien und winkten aus Leibeskräften, als könnten sie damit etwas schaffen. Sophie schwamm und kämpfte mit dem letzten Atem. Jetzt kam sie der Feste näher. Jetzt wurde sie wieder abgedrängt. Man sah, wie das Wasser mit ihrem Körper spielte. Plötzlich tat sie, von einer Welle getragen, einen großen Sprung auf Marie zu. Dann noch zwei Schwimmstöße, und Marie erhaschte ihre Hand, verlor sie und ergriff sie zum zweitenmal. Es war nun totenstill; bloß das Wasser zischte und brauste. Schon stand Jungfer Rosalie weit übergebeugt, bereit, ebenfalls zuzugreifen. Im Wasser um Halt kämpfend, drehte sich Sophie an Maries Hand langsam herum. Eben bekam sie den Balkenvorsprung weiter unten zu fassen. Was dann kam, wußte wieder niemand genau zu sagen. Vielleicht war Sophie noch einmal ausgeglitten. Vielleicht hatte auch noch eine Welle nach ihr gegriffen. Kurz, unter einem halberstickten Aufschrei verlor plötzlich Marie den Halt, griff mit der freien Hand blind tastend hinter sich, aber bevor jemand zugesprungen war, schoß sie kopfüber in die ziehende und wirbelnde Wassertiefe.

Ein furchtbares Schweigen folgte dem schrecklichen Augenblick. Im nächsten Moment erhob sich ein gellendes Geschrei. Beinahe vergaß man Sophie über dem neuen Unglück; hätte sie sich nicht just mit aller Kraft der Todesangst frisch am Gebälk angekrallt, so wäre auch sie in den Strudel zurückgefallen. Aber sie mußte dort hängenbleiben, von zehn Händen notdürftig und aufgeregt festgehalten, bis der Gärtner endlich wirklich kam, um sie heraufzuziehen. Ohnmächtig sank sie droben auf dem Rasen zusammen. Sie wurde nachher krank und rang noch wochenlang mit dem Tod, ehe sie wieder unter uns erscheinen konnte.

Von Marie hat niemand mehr etwas gesehen. Einige behaupteten, noch einen weißen Stirnreif oder treibendes Haar bemerkt zu haben. Ich will gleich sagen, daß auch die Nachforschungen der Wasserpolizei ergebnislos verliefen. Es war, als hätte der Gott der Unterwelt, den wir in unserem Festspiel beschworen hatten, sie liebend an sich gerissen und in sein Reich entführt.

Ich saß noch eine Stunde stumm und verwaist abseits auf einem Stuhl im Zimmer des Herrn Vaters. Als keine neuen Berichte mehr kamen und nur noch die Mädchen still weinend umherstanden, schlich ich mich weg. Neben der Schusterei war die Lederkammer mit einem Fenster auf den Rhein. Dorthin zog es mich. Den Rest des Tages versaß ich angesichts der feindseligen Wassertiefe, die nun im Abendschein leise zu erblühen begann, einsam denkend und grübelnd. Weinen konnte ich nicht. Ich bildete mir auch nicht ein, von allen am meisten verloren zu haben, aber daß mein Verlust sehr ernster Natur war, so viel begriff ich bereits. Immer wieder sah ich einen Stirnreifen, eine schwarze Haarsträhne im Wasser treiben, und dann überlief mich ein Frösteln und durchzog mich eine hilflose Sehnsucht. Manchmal war es mir, als riefe jemand um Hilfe. Dann klang durch allen Schrecken eine helle, unverzagte Stimme aus der Ewigkeit zu mir. Ich kannte mich nicht mehr aus. Verwirrt und erschüttert ging ich mit den anderen zum Abendessen.

Tage des Todes

Dem Unglück folgte eine Reihe von verstörten Tagen. Niemand war seines Lebens froh. Keiner fühlte sich sicher in seiner Haut. Die Hausordnung lief von selber weiter, ohne daß sich jemand um sie kümmerte. Still, sehr ernst und manchmal gedankenabwesend gab Herr Johannes seine Unterrichtstunden; immer wieder ging sein alter Blick nach dem leeren Platz in den Mädchenreihen. Gelegentlich kam es vor, daß er eine falsche Antwort bekam, stutzte und den Betreffenden verwundert ansah und dann weiterging, ohne daß ihm der in der Antwort enthaltene Unsinn richtig zum Bewußtsein kam. Er sah auffallend alt aus und schien von einem Tag auf den anderen zu ergrauen. Einmal stand er im Portal der Anstalt und putzte sich die Brille mit dem gewürfelten Taschentuch. »Ja, ja«, hörte ich ihn zu Herrn Ruprecht sagen, »uns allen ist jetzt die Brille ein bißchen angelaufen. Es kommt nur darauf an, ob sie vor jungen oder vor alten Augen sitzt. Ich putze all die Tage, aber es will nicht wieder hell werden.«

Sah er nur trübe, so schien nun dem Herrn Vater der Tag überhaupt, wenn nicht schwarz, so doch undurchdringlich grau zu werden. Noch nie hatte sein Blick diesen blinden, hilflosen Ausdruck gehabt. Er sagte ebenfalls wenig, aber manchmal während des Diktierens, wenn ihn irgend etwas an Marie erinnerte, verstummte er plötzlich und starrte vor sich hin, mit den Gedanken an ganz anderen Orten als in seinem Zimmer. Oder es überfiel ihn ein unwiderstehliches Schluchzen, dem ich ratlos und voll kindlicher Bangigkeit beiwohnte. Dann hieß er mich sein Taschentuch nehmen und ihm das Gesicht abtrocknen. Er hatte große, lichtbraune, weiche Taschentücher, die mir immer einen vornehmen Eindruck machten, aber jetzt schienen sie mir seinen hochstehenden Kummer auszudrücken. Einmal sprach er mit mir über den Tod und machte Bemerkungen über die Nichtigkeit alles menschlichen Strebens und über die einzige Gewißheit des Untergangs für alles, was noch so hoch geboren und viel gepriesen von Menschen gemacht sei. Ich begriff, daß dies große und ernste Worte waren, aber ich saß geborgen in meiner Unbedeutendheit, beschützt von meinem Nichtswissen, und an die Nichtigkeit von Wollen und Tun konnte ich auch nicht recht glauben, denn ich hatte ja viel im Sinn und alles vor mir. Wenn noch ein Rest des geistigen Hochmuts in mir gewesen war, so hatte ihn mir der furchtbare Untergang Maries vollends vernichtet. Gewiß zitterte nachhaltig mein Herz, wenn ich an sie dachte, und mit Schauer blickte ich nach dem Zeichen des Todes um mich her. Hinter dem Platz des Herrn Vaters im Andachtsaal an der Wand, unter dem auffliegenden Adler mit der Inschrift: »Ich will dich tragen bis ins Alter!« hing nun Maries Bild, groß in Kohlezeichnung, von Herrn Ruprecht nach einer Klassenaufnahme und aus dem Gedächtnis hergestellt, eine furchterregende Schmiererei, ganz unähnlich und entsetzlich leblos. Ich konnte es nicht ansehen, ohne daß mir dabei unwohl wurde und ich mich bis unter die Haare mit Angst und Widerwillen erfüllte. Die Todesandachten laugten mich schrecklich aus und machten mich ganz blutarm, aber immer bestimmter wurde die lebende Marie in mir mächtig. Etwas von ihrem Mut, ihrer Einfachheit und Ehrlichkeit dem Leben gegenüber, und ihrem natürlichen Vertrauen zu Gott und den Menschen erfüllte und führte mich nun. Einige sprachen von einem Strafgericht Gottes über uns. Dafür hatte ich kein Verständnis. Ich konnte mir für uns unmöglich eine Sünde vorstellen, die groß genug gewesen wäre, um eine solche Strafe herauszufordern. Sie war untergegangen infolge einer großmütigen Handlung als Beispiel für uns alle in Freiheit und Schönheit, und in diesem Sinn, so fühlte ich unbestimmt, mußte ich ihr treu bleiben und ihr nachfolgen.

Zu Herrn Vaters Geburtstag waren alle Feierlichkeiten abgestellt. Anstatt daß wir ihn auf den Hügel hinaufzogen wie sonst, um dort zu singen und unser Festspiel aufzuführen, verlangte er auf die Rheinfeste gebracht zu werden, wo er eine Gedenkfeier abhalten wollte. Das war eine beinahe unausführbare Forderung, aber mit großer Festigkeit bestand er darauf. Von der Lindenallee im Garten führte an der von Schwarzdorn überwucherten Böschung nur ein schmaler Fußweg schräg zum Badeplatz hinab, und im dortigen Sand und groben Kies gab es überhaupt keinen Weg. Man mußte also den Krankenwagen oben lassen und den schweren Mann unter vieler Mühe und unendlicher Umsicht hinunterschaffen. Strauchelte einer der Brüder oder glitt aus, so war nicht abzusehen, was für ein Unglück geschah. Aber davon ließ er sich nicht abschrecken. Standhaft hielt er alle Erschütterungen und Schmerzen aus, um die Stelle zu sehen, wo Marie den Tod gefunden hatte, und dort mit ihrem Geist zu reden. Eigentlich hatte er unter uns für wehleidig gegolten; diese Selbstüberwindung machte uns einen großen Eindruck. Drunten im Kies hatte man einen Stuhl bereitgestellt, auf dem er ausruhen konnte, während seine Träger verschnauften. Wir zogen langsam nach. Durch Sand und Kies mahlend brachten ihn die Brüder vollends zur Feste, wo man ihm einen Lehnstuhl aufgestellt hatte. Unter neuer Sehnsuchtpein irrten meine Blicke nach der Unglückstelle voraus, und als ich im Kreis mit den anderen auf der Feste stand, hatte ich einen so wilden, tyrannischen Seelendruck zu überstehen, daß ich dachte, ich sollte ihr nachsterben. Aber dann sah ich einen leuchtenden, milden Lichtstrahl draußen über das Wasser gleiten. Aus einem treibenden Spiegel sprang ein großer glitzernder Salm. Irgendwo hüpften schnell hintereinander drei, vier blitzende Wellen vorbei. Das beruhigte mich wieder und erinnerte mich daran, was ich dem Leben in Bescheidenheit schuldig war.

Der Herr Vater schwieg zuerst ergriffen. Gott wußte, wie lange er nicht mehr hiergewesen war und wie tief ihn auch dieser Gedanke bewegte. Bevor er aber das Zeichen zum Beginn gab – der Posaunenchor stand aufgebaut seitwärts von ihm –, verlangte er noch mehr nach vorn gebracht zu werden, ja er wurde noch einmal ungeduldig, weil man ihm nicht genug willfahrte. Endlich saß er ganz dicht über der Strömung und den Strudeln. Während der Posaunenchor das Sterbelied begann: »Die Menschen gehn von Ort zu Ort durch mannigfalt'gen Jammer« und wir es aufnahmen, schaute er stumm und unbeweglich in die Wirbel hinein, mit einem heißen, hilflosen Glimmen in den Augenwinkeln, und mit unruhigen spielenden Fingern auf den Armlehnen des Sessels. Die Frau Mutter und Herr Johannes standen ernst neben ihm. Als er aber nach dem Verklingen des Liedes die Ansprache beginnen wollte, war er nicht dazu imstande. Lange kämpfte er um Worte. Dann brach er mit einer Stimme, die wild vor Erlösungssehnsucht und müde vor Erdennot klang, in die Worte aus: »Auf Wiedersehn, Marie! Auf Wiedersehn!« Der Ruf flog weit über die Wellen hin und schien draußen auf der lichten Wasserhöhe zu verhallen. Wir sangen noch zum Posaunenchor: »Tod, mein Hüttlein kannst du brechen, das ein Werk von Leinen ist. Aber du hast nichts zu rächen. Meine Sünden sind gebüßt.«

Endlich war er wieder so ergeben in den Willen Gottes, daß er sich stumm und bleich hinauftragen ließ. Auf dem schmalen Weg hörten wir ihn noch einmal vor Schmerz aufschreien. Im Wagen saß er dann still und sprach freundlich mit Herrn Johannes, der ihn treu begleitete. Zwei Tage lang wurde ich nicht zu ihm gerufen, weil er zu Bett lag. Am dritten saß ich wieder wie immer am Schreibtisch und diktierte er mir seine Erinnerungen weiter.

Die Wahl

Eines Vormittags, als ich beim Herrn Vater saß und schrieb, hörte ich draußen vor dem Haus einen Wagen vorfahren. Das war ein unerhörtes Ereignis; außer der alten Droschke hielt hier niemals ein Gefährt, aber die Droschke konnte es nicht sein, wie ich genau wußte. Mir taten beinahe die Füße weh vor Neugier, doch der Herr Vater schien überhaupt nichts gehört zu haben, sondern diktierte ruhig weiter. Jetzt hörte ich jemand die Treppe heraufkommen. Dann näherten sich Schritte der Tür, die ich umsonst auf Mann oder Frau zu taxieren suchte. Es klopfte. »Herein!« rief der Herr Vater. Wie unschlüssig öffnete sich die Tür, und eine ziemlich große, dunkelblickende Frau erschien im Rahmen.

Eine Stille trat ein.

»Wer ist da?« fragte der Herr Vater.

»Meine Mutter –!« sagte ich leise.

Wieder war es einen Augenblick still.

»So begrüße auch deine Mutter!« ermahnte er mich dann freundlich und in ermutigendem Ton. »Laß sie nicht so lange stehen! Was ist das für ein Benehmen!« setzte er halb lachend hinzu. »Hat man schon so was erlebt, daß einer ruhig sitzenbleibt, wenn seine Mutter unverhofft kommt.«

Ich war nun nicht ruhig sitzengeblieben, aber ich hatte zuviel im Kopf, als daß ich sofort damit zu Schlag kam. Verlegen über die Ermahnung und im neu aufglühenden Gefühl der scheuen Liebe, die ich nun einmal für diese Frau empfand, näherte ich mich ihr. Sie lachte ebenfalls ein bißchen, aber zugleich war sie überrascht, mich hier vorzufinden, und es brachte sie sichtlich aus dem Konzept.

»Du hast wohl hier Stunde?« fragte sie zögernd, während sie einen unruhigen Blick durch das Zimmer schickte, als fürchtete sie zu stören und wollte später wiederkommen. Ich schüttelte eifrig den Kopf.

»Ich habe keine Stunde, ich schreibe nur Diktat«, erklärte ich ihr, verehrungsvoll an ihr hinaufsehend. Mit einer gewissen Eilfertigkeit bemächtigte ich mich ihrer Hand und begann sie sogleich besinnungslos zum Herrn Vater vorzuziehen. Sie hatte irgendeinen Duft von Weihrauch an sich, der mir ferne Zeiten wiedererweckte, denn in Wyhlen hatten alle so gerochen. Flüchtig erblickte ich mich als das, was ich einst gewesen war, und das machte mich geradezu schüchtern, wenn auch etwas Frohes dabei war.

Sie sah mich lächelnd an, weil ich gleich so an ihr zu ziehen anfing, und ein Schein von Zärtlichkeit ging ihr durch die Augen; vielleicht erinnerte auch sie sich.

»Du bist gewachsen«, lobte sie. »Das letztemal hast du nicht so gut ausgesehen.«

»Ich bin auch drei Jahre älter«, versetzte ich, ebenfalls lächelnd. Und vor lauter Verlegenheit setzte ich hinzu: »Du siehst auch gut aus.«

Über diese Bemerkung begann der Herr Vater zu lachen, und auch um ihre Lippen zuckte es wieder ein bißchen, aber im Hinblick auf ihn wurde sie jetzt ernst, und höflich, wenn auch mit geheimer Erregung, näherte sie sich ihm vollends, um ihn zu begrüßen. Neben alldem sah sie mir unternehmend, ja triebhaft und willenstark aus, wie jemand, der genau weiß, was er beabsichtigt, und ich bekam einen großen Respekt vor ihr. Je weniger ich selber zu bedeuten hatte, weltlich gesprochen, desto mehr traute ich ihr zu; ich besaß ja keine Maßstäbe mehr. Sie hatte rote Wangen, denn immerhin befand sie sich auf dem Schauplatz einer erlittenen Niederlage, glänzende Augen vor Kampfbegierde, und vor lauter Gespanntheit hielt sie mich dicht bei sich, als könnte mir etwas geschehen oder als wollte man uns trennen. Da ich das Fuhrwerk drunten nun mit ihr in Zusammenhang bringen mußte, so begriff ich, daß sie hier war, um einen ausschlaggebenden Trumpf gegen uns Evangelische auszuspielen. Plötzlich fühlte ich mich bis tief hinein von einer für sie auf neue Enttäuschungen gefaßten schlichten Sachlichkeit erfüllt, so daß ich ihr voll herzlicher Sorgfalt einen Stuhl neben dem Herrn Vater zurechtrückte. Sie hatte ja noch immer keine Vorstellung von der Macht des protestantischen Geistes; aber ich kannte sie und bildete bereits selber ein Partikelchen davon. Deswegen wußte ich auch schon ungefähr, was nun kommen würde.

»Es ist lange her, daß wir uns gesehen haben«, sagte der Herr Vater indessen zu ihr. »Hoffentlich ist es Ihnen seither gut gegangen.«

Sie setzte sich auf den Stuhl. Unruhig, mit fühlbarem Mißtrauen gingen ihre Blicke noch einmal durch den Raum.

»O ja«, sagte sie. »Danke. Man muss zufrieden sein.« Und scheinbar ohne Zusammenhang setzte sie hinzu: »Ich habe inzwischen meinen verwitweten Vetter geheiratet –!«

Ich sah sie an, um vielleicht aus ihrem Ausdruck zu schließen, was das bedeutete. Ich hatte nicht das Gefühl, daß es irgendein Glück für sie sei, und eine Verwunderung ging mir durch den Kopf. Warum hatte sie es dann getan? Sie streifte mein Gesicht mit einem raschen Blick und wandte ihre Aufmerksamkeit dann wieder ungewiß und voll treibender Absichten, die noch keine Worte fanden, dem kampfgeübten Gegner zu. Meine Hand hatte sie in der ihren behalten. Die ihre fühlte sich heiß an, und manchmal zuckte sie leise. Sie trug graue Netzhandschuhe, die mir sehr fein vorkamen. Überhaupt war sie, wie mir schien, nobel angezogen, hatte ein Kleid an, das vor Neuheit duftete und vor Blauheit leuchtete, und auf ihrem Hut schwankte und wippte eine schwarze Feder, die, nach Bildern aus meinen Büchern zu schließen, von einem Strauß sein mußte. Ich glaube nicht, daß sonst noch einer hier eine Mutter besaß, die so hochgekommen war und auftreten konnte. Durch einen Finger ihres lose gewebten Handschuhs sah ich einen goldenen Ring schimmern. Der Schirm in ihrer Hand hatte eine glänzende, volle, schwarze Quaste und einen fremdartigen kleinen Griff aus grauem Horn. Anschauend sah und erwog ich wieder die gütig unseßhaften Vertiefungen an den Schläfen, den leidenschaftlichen und doch hingebenden Mund mit der unbefriedigten Zeichnung der Lippen, die Freundlichkeit und den immer ratlosen Ernst ihrer Kinn- und Backenknochengegend und die kühn vorspringende Nase.

Sie war mir wie ein Wunder. Ich hatte immer vermutet, daß draußen ganz andere Menschen lebten als hier, aber sie war in ihrer Art sicher einer der schönsten und einflußreichsten. Das alles dachte ich ganz ohne eigensüchtige Anwendungen auf mich vollkommen selbstlos und wunschlos. Nebenher hörte ich aus der Unterhaltung, welche die beiden Erwachsenen miteinander führten, daß sie auf einem ziemlich großen Hof lebte. Sie nannte die Anzahl der Jucharte, die dazu gehörte, und der Herr Vater fand es viel. Kühe waren es sieben, ohne das Jungvieh. Meine beiden Vettern, die Söhne des Vetters, den sie geheiratet hatte, und eine Magd arbeiteten auf dem Hof, und ich vernahm, daß die jungen Männer ihre Stiefsöhne seien. Das kam mir seltsam vor, und ich konnte mich nicht darein finden, daß ich nun auf einmal Brüder haben sollte. Drei Pferde gehörten auch zum Anwesen. Das Gespräch schien wider Erwarten einen guten Verlauf zu nehmen, als meine Mutter sich auf einmal einen Ruck gab und mit gewisser Hast sagte:

»Ja, und wir sind da, um den Johannes wieder nach Wyhlen zu nehmen. – Es gibt ja jetzt keinen Grund, ihn noch länger hierzulassen. Er kann es bei uns gut haben. Ich kann ihm wieder ein Heim bieten.«

Vor Erregung ließ sie meine Hand los und nahm das Taschentuch aus ihrer Handtasche, um sich zu schnauben. Der Herr Vater horchte überrascht auf und ließ erst eine Pause verstreichen, bevor er antwortete.

»Um eine solche Sache zu besprechen«, meinte er dann langsam, »brauchen wir doch auch Ihren Mann. Sie sind ja nun nicht mehr selbständig in Ihren Entschlüssen.«

Auch ich hatte überrascht aufgehorcht, als ich vernahm, was mit mir geschehen sollte, aber ich hatte nicht das Gefühl, als wäre ich selber das, über den man nun zu verhandeln begann. Einen viel größeren Eindruck machte es mir, daß meine Mutter nicht mehr selbständig sein sollte. Das konnte ich wieder nicht begreifen, und ich sah sie fragend daraufhin an. Ich zweifelte nicht, daß sie alles konnte, was sie wollte, denn der Vetter hatte ihr sicher die Macht dazu gegeben.

»Die die Sache angeht, die sind alle da«, versetzte sie, ohne meinen Blick zu erwidern. »Und mein Mann muß beim Pferd bleiben; es steht nicht ruhig.«

»Dann wollen wir Ihren Sohn hinunterschicken«, schlug er vor. »Er wird das Tier schon halten können, und dafür lerne ich Ihren Mann kennen.« Darauf antwortete sie nicht, und nach einem kurzen Schweigen fuhr er fort: »Es ist ja da noch vieles andere zu bedenken. Vergessen Sie nicht, daß auch ein Vormund mitzureden hat.«

»Der Vormund hat sich sonst nicht um ihn bekümmert«, versetzte sie ein wenig gereizt. »Wenn die Verwandten seines Vaters dachten, er sei in Wyhlen nicht gut aufgehoben, warum nahmen sie ihn dann nicht zu sich? Ich wollte uns in Amerika eine neue Existenz machen, inzwischen hat man hier über meinen Kopf hinweg gehandelt.«

»Man hat an dem Kind aber nicht schlecht gehandelt«, gab er zu bedenken. »Und er ist nun einmal mit Einwilligung seines Vormundes hier.« Sie antwortete wieder nicht. »Ferner ist Ihr zweiter Mann katholisch, wie ich annehme.« Sie nickte kurz. »Aber Johann ist ein protestantisches Kind.«

»Es gibt keine protestantischen und katholischen Kinder; dazu macht man sie erst nachher. Er ist einfach mein Kind, und ich bin seine Mutter.« Tränen zitterten in ihrer Stimme. »Wir sind übereingekommen, ihn jetzt zu uns zu nehmen, und ihn lernen zu lassen, wozu er den Kopf hat. Auch studieren kann er, wenn er will.«

Mich begann das alles nun doch heimlich aufzuregen. Auch die Tränen meiner Mutter gingen mir nah. Ich ergrimmte in meinem Innern und wußte nicht über wen. Große, unvereinbare Widersprüche klafften zwischen diesen beiden Menschen, und ich fühlte meine Machtlosigkeit wie noch nie. Eingeschüchtert zog ich mich nach dem Fenster hin zurück, bekümmert darüber, daß nun der scharfe Streit doch wieder aufbrennen werde, und bereits ängstlich ihm entgegensehend.

»Ich bin bereit, über dies alles mit Ihnen und Ihrem Mann zu verhandeln«, erklärte der Herr Vater immer noch ruhig, wenn auch nun in bestimmterem Ton. »Aber dazu muß ich ihn selber vor mir haben und reden hören. Das werden Sie begreifen. – Johann, geh hinunter, sage dem Mann, er möchte heraufkommen, und bleibe in der Zeit beim Pferd.«

Meine Mutter widersprach nicht länger, und nach einem letzten fürchtenden Blick auf die beiden gehorchte ich. Beim Wegstolpern verwickelte ich mich in einen Teppich und stürzte beinahe hin. Als ob einer hinter mir her wäre, hastete ich die Treppen hinunter und kam ganz atemlos und aufgeregt drunten vor dem Haus bei dem Fuhrwerk an.

»Sie möchten, bitte, zum Herrn Vater hinaufkommen«, sagte ich, ohne mich als Stiefsohn zu erkennen zu geben; ich dachte gar nicht daran. »Ich soll solange beim Pferd bleiben.«

Der Mann sah mich verwundert an. Einen Moment schien ihm eine Ahnung durch den Kopf zu gehen, wen er vor sich habe. Aber auch er fand nicht die richtigen Worte, und mit einer gewissen Verlegenheit erwiderte er: »Dann ist gut. Hier, halt ihn ziemlich kurz. Wenn er mucken will, nimmst du ihn noch kürzer. Aber laß dich nicht treten. – Wo ist denn das?« fragte er unter dem Portal zurück.

Ich wies ihn zurecht, und er tappte bedächtig ins Haus hinein. Ganz seltsam kam ich mir vor mit dem Pferd meines Stiefvaters am Zügel, halb bänglich und ungewohnt – ich kannte ja nichts als Bürsten, Schuhe und Bücher –, halb neugierig und auch ein wenig wichtig. Ich war ganz darauf gefaßt, wenn jemand käme und fragte, ihm zu antworten: »Das Fuhrwerk gehört meiner Mutter!« Es kam aber niemand. Bloß die Schwalben spielten über den Hof. Die Hauskatze hüpfte, nach Schmetterlingen jagend, in den kleinen Anlagen vor dem Haus herum. Der Küster der katholischen Kirche spaltete Buchenholz vor seiner Wohnung links neben dem Tor; die Schläge seiner Axt hallten taktmäßig zu mir herüber. Einer der Brüder übte auf der Orgel im Andachtsaal. Sonst war es ganz still. Eine ordnungsmäßige Einsamkeit breitete sich hier aus. Jeder war an seinem Posten und bei seiner Aufgabe. Und droben stritten sie jetzt vielleicht um mich und meine Zukunft. Fragend betrachtete ich das Pferd, als ob mir sein Aussehen Auskunft geben könnte. Es war kein Fuchs, wie ich erwartet hatte, sondern ein brauner Wallach. Den Wagen hatte ich mir neu und grasgrün vorgestellt; er war schwarz und ziemlich alt. Auch der Mann meiner Mutter hatte mich überrascht oder enttäuscht; er war nicht groß und sozusagen machtvollkommen, sondern mittelgroß, ein Fünfziger, der schon etwas gebückt ging, ein Mann von unschlüssigen, schiebenden Bewegungen, in einem braunen Halbleinenanzug und mit einem alten schwarzen Hut auf dem grauen Kopf. Ich suchte zu denken und brachte doch nichts zusammen. Wolken waren über mir aufgezogen, in denen es grau und dunkel wurde, und zwischen ihnen leuchteten Sonnenstrahlen hervor, die Wasser zu ziehen schienen, und alles zusammen machte mir einen ziemlich gewitterhaften Eindruck, aber ich war noch gar nicht gefragt, was ich dabei tun wolle.

Von Anfang hatte ich angestrengt auf das Pferd achtgegeben, und da es so still stand, gewann ich die Auffassung, daß es mich anerkannte und mein Auftreten ihm gegenüber gut hieß. Darüber begann ich es langsam zu vergessen und anderen Dingen nachzudenken. Wenn es schnaubte oder den Kopf warf oder den Boden mit den Füßen stampfte, sagte ich: »Hüüü!« und war sehr befriedigt von dem männlichen und sachgemäßen Ton, den ich hineinlegte. Nachher bereitete mir auch das keine Genugtuung mehr, zumal niemand um den Weg war, der es bewundern konnte. So merkte ich gar nicht, daß das Tier sich mit einem Entschluß zu beschäftigen begann. Ich sah wohl zerstreut, daß es mit den hübschen braunen Augen spielte und die Ohren spitzte, aber inzwischen streckte ich die meinen, um vielleicht von dem Gespräch droben etwas aufzufangen. Plötzlich schien mir, als ob das Pferd sich mit mir in Bewegung setzte und nach dem Tor hin zu marschieren begänne. Schnell rief ich wieder mit dem ganzen Aufgebot meiner Männlichkeit: »Hüüü!« und »Hööö!«, aber das Tier schnaubte und warf in einer so bestimmten und hochfahrenden Weise den Kopf, daß ich ganz verlegen wurde und nicht wußte, wie ich weiter mit ihm verkehren sollte. Es gestattete durchaus nicht, daß ich es, dem Rat meines Stiefvaters folgend, kurz am Zügel faßte. Zudem sollte ich ja nach seiner Anweisung darauf achten, daß ich nicht getreten wurde. Schließlich blieb mir nichts übrig, als mich in die langen Zügel zu hängen, und mich so schwer zu machen, als ich konnte. Zu meinem Glück machte ich mich Hüst schwerer als Hott, so daß das Pferd vor dem Tor unerwartet beidrehte und sich die Fahrstraße entlang durch den Hof vor den Kastanien vorbei in Trab setzte, als wollte es seinen Weg ebenso gern zum unteren Tor hinaus mit mir nehmen.

Aber ich war nicht ganz so dumm, sondern begriff, warum es vor dem Tor beigedreht hatte. Vor dem Mühlenbach hing ich mich eifrig in den linken Zügel, und richtig bog der Wallach wieder Hüst ab. Nun tat ich, was ich konnte, um ihn vor dem Portal zum Stehen zu bringen, aber dazu erkannte er mir die Macht nicht zu. Im Gegenteil, vor dem Schloß nahm er einen neuen Schwung; offenbar hatte er diesmal fest die dunkle Toröffnung ins Auge gefaßt, durch die er die freie Welt draußen hereinwinken sah. Ich mußte jetzt schon hurtig nebenherlaufen. Einmal trat ich auf die nachschleifenden Riemen und wäre fast unter die Räder gekommen. Aber ich wehrte mich, wickelte laufend das Zeug auf und zog wieder Hüst aus aller Kraft schon lange vor dem Tor. Bei der Weide schwenkte der Braune schnaubend und nun schon sehr gereizt zwar herum, schlug aber die Straße hinunter jetzt einen kurzen Galopp an, und ich galoppierte wachsam und sorgenvoll mit. Vor dem Mühlenbach riß ich ihn, da mir sonst nichts einfiel, von neuem nach links, und wir preschten und schnaubten miteinander vor den beiden Atlassen am Portal vorbei, daß der Kies flog und ich meinen Schuh verlor.

Allmählich wurde mir angst. Die Knie begannen mir zu zittern. Der Schweiß brach mir aus. Meine Existenz fing an, mir unwahrscheinlich vorzukommen, und die Welt besaß ich schon nur noch als vagen Begriff, der in beunruhigender Weise Miene machte, auch ohne mich fertig zu werden. Ich wünschte, daß jetzt der Vetter käme und seinen dämonischen Klepper wieder selber an die Hand kriegte. Noch eine solche Runde und ich ließ ihn in Gottes Namen laufen, wohin er wollte, um wieder Anschluß an mein junges Leben zu gewinnen mit allen Propheten und Aposteln darin, und dem großen Einmaleins meiner grünen Zukunft, das gerade jetzt so spannend in die Knospen ging. Das Herz jagte mir in raschen, harten Stößen. Beim Tor wollte es die Bestie zwingen, aber ich war immer noch zäher, als ich selber dachte, und ließ mich auf der einen Schuhsohle so lange über die Steine schleifen, bis sie es noch einmal aufgab. Dafür nahm sie nun allerdings helle Karriere nach der Mühle zu. Ich hopste in langen Sätzen wie ein Kobold schon halb träumerisch vor Schreck nebenher, aber eigentlich bloß mit dem Leibe; die Seele war schon halb von mir. Wie aus dem Jenseits und ohne alle Hoffnung sah ich den weißen Müller fuchtelnd hinter dem Bach auftauchen, während das verwünschte Karussell wieder nach links herumschwenkte, als drehte es sich schon seit Ewigkeit so, und sollte sich ewig so weiterdrehen. Aber nun kam mir vom Schloß her wie ein Engel der Vetter selber zu Hilfe. Schon warf er sich dem tückischen Geschöpf in die Zügel, und im nächsten oder übernächsten Augenblick stand die Jagd. Ich war erlöst.

»Hast dir denn weh getan, Johannesli?« fragte er besorgt. Ich konnte nichts antworten. Atemlos und an allen Gliedern zitternd, schüttelte ich den Kopf, während die Tränen mir in die Kehle stiegen und ein verwunderter Zorn über das Rabenaas mir undeutlich durch den Kopf schoß. »Nun, dann ist's gut. Sollst wieder hinaufkommen«, sagte er dann noch in seiner achtsam schleppenden Weise. Ich holte meinen Schuh ein und ging ins Haus, ohne noch einen Blick nach ihm und dem Pferd zurückzuwerfen.

Droben empfing mich die Mutter mit großen Sorgen. Ich mußte erzählen, was geschehen war, und würgte von Worten hervor, soviel mir zu Gebot standen, mußte mich setzen, und der Herr Vater hieß mich ein Glas Wasser trinken, von dem immer in einer weißen Karaffe dastand. Davon wurde ich wirklich ruhiger, und nachher nahm der Herr Vater von dem langen, inzwischen stattgehabten Gespräch eine kurze Wiederholung vor. Er wies noch einmal auf die Bedenklichkeit hin, meinem Bildungsgang jetzt noch eine andere Wendung zu geben, auf die großen Kosten, die mit einem Privatunterricht als Vorbereitung aufs Gymnasium verbunden wären, abgesehen von den Gymnasial- und Universitätsjahren. Ihr Mann möge wohl willig sein, aber es sei doch mehr als fraglich, ob die beiden Söhne aus erster Ehe auf die Dauer mitmachen würden, besonders wenn sie heirateten, und vollends, wenn mein zweiter Vater vorzeitig stürbe und alles in Erbteilung ginge. Dagegen hörte ich nun, was sonst für mich ins Auge gefaßt war als eine Möglichkeit, die auf dem allgemeinen Weg läge. Ich konnte nach meinem Austritt hier ein Lehrerseminar bei Bern beziehen, und mit neunzehn Jahren trat ich nach einem ununterbrochenen gleichmäßigen Bildungsgang in den Schuldienst, ohne noch länger an jemandes Opferwilligkeit Ansprüche machen zu müssen.

»Überlegen Sie sich das alles doch sehr, Frau Kanderer«, schloß er seine Rede. Und freundlich sprach er ihr noch zu: »Gewiß meinen auch Sie es gut mit ihm und haben sein Bestes im Auge, aber vielleicht habe ich doch den größeren Überblick über das Gebiet, das in Frage kommt. Viele Schicksale sind hier schon durchgegangen. Mit nichts haben wir in langer Erfahrung so rechnen gelernt wie mit dem Wandel des Glücks und mit der Unbeständigkeit des menschlichen Herzens. Unser Johann ist keine heldenhafte Natur, die sich trotzig behaupten kann; er ist eine träumerische und empfindsame Seele, die leicht Schaden nimmt. Wir dürfen nichts unternehmen, was wir nicht sicher in der Hand haben. Die Laufbahn durchs Seminar ist nach menschlichem Ermessen so gut wie sicher und fällt mit seinen Wünschen zusammen. Alles andere wäre nach meinem Gefühl Gott versucht.«

Er schwieg, und auch meine Mutter blieb noch eine Weile stumm. Dann wandte sie von neuem ihre abgründigen Augen mir zu mit einem enttäuschten und suchenden Ausdruck.

»Wir draußen«, begann sie noch einmal, stockend nach Worten suchend, »haben Pläne, und es geht uns allen bald so und bald so. – Die Welt ist keine Bewahranstalt. – Und du, Johannesli, was sagst denn du dazu?« sprach sie dann mit einem traurigen Lächeln mich an. »Sie sagen hier, wir könnten dir nicht gerecht werden. Ist das auch deine Meinung? – Nun, du brauchst dich jetzt nicht zu entscheiden«, bemerkte sie schnell und wie fürchtend, als ich nichts zu erwidern vermochte. Noch einen Moment betrachtete sie mich in zunehmender Beunruhigung, während ihre Augen zu schwarzen Löchern wurden. »Wir haben hier ausgemacht, daß du Zeit zum Überlegen haben sollst. Wir haben unsere Meinung gesagt und können nicht davon abgehen, aber es soll dir auch kein Zwang angetan werden. Deinetwegen habe ich den Vetter Franz geheiratet, damit du wieder eine Heimat bekommst. Drunten steht der Wagen. Zum zweitenmal fährt er nicht vor, außer wenn du schreibst, daß man dich holen kommen soll. – Auch ich meine, daß diese Sache sich jetzt entscheiden muß«, schloß sie grübelnd. »Nachher wieder anders wollen, das ginge dann wirklich nicht.«

Wie mutlos verstummte sie. Ich sah und fühlte ihr an: sie glaubte schon nicht mehr an ihren Sieg, aber sie wollte aus Großmut oder aus Selbstachtung den Schein erwecken, als täte sie es. Es wurde jetzt auf einen Moment ganz still. Die Uhr sagte elf an. Der Dompfaff pfiff leise: »Wer nur den lieben Gott läßt.« Auch die Schläge des Holzhackers hörte man jetzt hier. Mir schmerzte der Kopf vor Ratlosigkeit. Was sollte ich nur auch tun oder sagen, um sie wieder aufzuheitern? Mir waren ja all diese Fragen ganz schemenhaft; wie Gespenster, mit denen ich nicht reden konnte, zogen sie an meinem Horizont hin. Zwar war es immer mein Traum gewesen, Lehrer werden zu dürfen; die Aussicht darauf schien mir der Gipfel des Wünsch- und Erreichbaren. Aber ich war auch bereit, Doktor oder gar Professor zu werden, jedes Opfer wollte ich bringen, um ihr Freude zu machen. Ich hatte wieder meinen Sitz beim Fenster eingenommen. Vor Herzbewegung stand ich rasch auf, um zu ihr zu treten. Vielleicht wollte ich etwas sagen, vielleicht auch bloß still ihre Hand nehmen. Aber ich hatte nicht das offenstehende Fenster beachtet, obwohl dessen einer Flügel dicht vor meinen Augen hing. Daher rannte ich mir im Aufstehen so heftig den Schädel an dem vorstehenden Griff auf, daß das ganze Fenster klirrte und ich mich vor Schmerz und Überraschung wieder setzen mußte. Ich hatte damals eine Zeit, in der mir fortwährend etwas passierte. Entweder ich verlor mein Taschentuch und mußte es aus meinem Käßchen ersetzen, oder ich schnitt mich mit dem Messer in die Beine; ich trat mir allein von allen Jungen den einzigen Glasscherben, der in der ganzen Gegend aufzufinden war, beim Baden in den Fuß, oder ich suchte halbe Tage lang ein Buch, das ich verlegt hatte. Der Herr Vater fragte ein bißchen erschreckt, was geschehen sei.

»Er hat sich den Kopf angeschlagen«, sagte meine Mutter an meiner Stelle. Sie sah fragend nach mir hin, rührte sich aber nicht weiter.

»O Johannesli«, rief er lachend, »du Apokalyptiker, du wirst dich mit deinem Schusselwesen noch um Glück und Seligkeit bringen!« Und zu ihr sagte er: »Es ist ein Wunder, daß er überhaupt noch lebt. Neulich fiel er zehn Meter von einem baufälligen Turm in den Burggraben hinunter. Aber er scheint seinen besonderen Engel zu haben; es ist ihm weiter nichts passiert. – Weißt du, warum ich dich Apokalyptiker nenne?« fragte er mich noch.

»Weil ich jetzt die Engel im Himmel singen höre«, erriet ich kläglich und furchtbar beschämt, während ich mir den Schädel rieb. Die Augen gingen mir über, und ich hätte mich in den Boden verkriechen mögen unter dem Blick meiner Mutter, der nicht zufrieden aussah.

»Du kannst jetzt mit deiner Mutter zusammenbleiben, bis es läutet«, erlaubte er mir dann. »Sie werden doch mit uns essen, Frau Kanderer?« fragte er sie. »Klingle einmal, Johann«, gebot er. Auf das Klingelzeichen kam immer die Frau Mutter oder Fräulein Felizitas herein.

Aber meine Mutter stand sehr rasch auf.

»Wir fahren gleich wieder heim«, bemerkte sie mit befremdetem und vereinsamtem Ausdruck. Auch sehr unruhig sah sie wieder aus. »Es ist jetzt viel zu tun. – Und ich danke für alles.«

Er bedauerte das, schickte sich aber darein, und wünschte ihr alles Gute. Sie hörte ihm mit grübelnder Stirn und wie leise gereizt zu, stand noch eine Weile unschlüssig und wandte sich endlich zur Tür, es mir überlassend, wann und wie ich ihr folgen würde. Ich ging ihr rasch voraus, um ihr aufzumachen, dachte zwar auch jetzt nicht an den Teppich, aber es ging diesmal gut, dafür vergaß ich mich vom Herrn Vater zu beurlauben. Ich war sehr betroffen und verwirrt, da mir all das bereits bergehoch über den Kopf zu wachsen begann. Aber meine Kleinheit war anderseits auch wieder meine Zuflucht. Während ich neben der Mutter, die mir in ihrem arbeitenden und zuckenden Schweigen wie eine Riesin vorkam, die Treppe hinunterstieg, erklärte ich ihr in bescheidenem Ton die anliegenden Räume. Sehr gern hätte ich sie zu meinem Platz im Lehrsaal geführt; auch mein Bett droben hätte ich ihr gern gezeigt. Dann waren da meine Dichtungen und Kompositionen und meine Zeichnungen, die sie eigentlich auch kennen mußte, wenn sie einen Begriff von mir haben sollte. Aber das alles wagte ich jetzt angesichts des Erwachsenenwiderstreites nicht zur Sprache zu bringen. Vor dem Portal erwartete uns der Vetter. Er schien mir noch bedrückter als vorher, behandelte mich jetzt wie einen kleinen Herrn, und war nach meiner Auffassung viel zu achtungsvoll und zu höflich zu mir. Ich dachte, daß ihn dieser Platz genierte, von dem ein so großer und frommer Ruf ausging. Das passierte übrigens den meisten; wir kannten das schon.

»Hast du denn keinen Koffer oder so was?« fragte er suchend. Er schien den Sinn der droben getroffenen Verabredung gar nicht erfaßt zu haben, und ich sah ihn verwundert an. »Und wo hast du deinen Hut?«

»Du hast wohl wenig zugehört?« meinte meine Mutter anstatt der Antwort. »Wie kann er mit einem Koffer anrücken, wenn er sich erst alles überlegen soll?«

»Nun, ich dachte, du hättest es vielleicht noch durchgesetzt«, suchte er sich zu erklären, indem er am Riemenwerk des Pferdes nestelte. »Man ist ja gestört worden.«

Wie unschlüssig schwieg er.

»Eine große Unterstützung habe ich an dir gehabt droben«, versetzte sie geplagt. »Fahre jetzt zum Wirtshaus voraus. Du weißt ja, droben an der Straße über dem Bahnhof. Wir kommen nach.«

Er nickte schweigend, bestieg umsichtig den Bock, nahm das Leitseil in die Hand, alles wie ein ernster, gerechter Mann, der sich in ungerechte Behandlung schickt. Dann schnalzte er leise mit der Zunge; der Wallach zog an, froh, daß er sich bewegen konnte, und trabte weit ausholend nach dem Tor hinauf. Meine Mutter sprach nun ruhig und überlegt mit mir von meinen Sachen, fragte nach meinen Kameraden, wie das Essen jetzt sei, ließ sich nun unbefriedigt über mein Aussehen aus, verlangte zu wissen, ob wir immer noch so geschlagen würden, und entnahm währenddessen ihrem Geldbeutelchen ein Fünfmarkstück, das sie mir gab. Ich dankte schüchtern und behielt es aus Verehrung für sie in der Hand. Nebenher richtete sie mir die Grüße der Großeltern aus und berichtete einige Veränderungen, die sich zu Haus vollzogen hatten. Aus Verlegenheit fragte ich nach dem Müllermädchen, obwohl es mir ganz gleichgültig geworden war, und sie sagte, daß die Familie nach vielen Streitigkeiten nach Amerika ausgewandert sei. Da schien mir das Kind doch wieder so etwas wie eine Gloriole zu bekommen, und ich überlegte, ob das meinen Aussichten auf das Seminar wohl ungefähr die Waage halten werde. Ich hätte ihr nun gerne von Marie und dem Unglück erzählt, aber auch dafür fand ich keine Worte, und statt dessen berichtete ich von ein paar belanglosen Veränderungen, die sich hier ereignet hatten, vom Posaunenchor, von der Verlobung des Herrn Bunziker, und daß der blinde Esel seit einiger Zeit krank sei. Dann, um doch vielleicht noch einmal unter uns beiden auf ihre Dinge zurückzukommen, fragte ich nach dem Hof, auf dem sie jetzt Gebieterin war; ich hatte auch das Bedürfnis, sie damit zu ehren.

»Ach, laß den Hof!« sagte sie aber mit einer ungeduldigen Gebärde. »Denkst du, ich werde bis ans Ende meines Lebens auf dem Misthaufen sitzenbleiben, wenn du doch nicht hinkommst?« Verwundert dachte ich, daß ja noch gar nichts beschlossen sei, aber ich wagte nichts zu sagen. Sie begann jetzt zu fragen, ob wir auch warmes Zeug für den Winter hätten. Als sie hörte, daß ich gar nichts von Unterhosen und dergleichen wußte, äußerte sie sich mit zurückhaltender Mißbilligung. Ich wollte die Ehre der Anstalt retten, indem ich sagte, wir hätten aber im Winter dickere Kleider. »Habt ihr denn wenigstens Mäntel?« fragte sie. Auch das mußte ich verneinen; wir kamen mir jetzt sehr armselig vor, und ich schämte mich vor ihr für uns alle. Sie ging schweigend darüber hinweg, fragte mich, ob ich eine warme Mütze hätte, und stellte sie mir in Aussicht, versprach mir Handschuhe und Schlittschuhe, einen Schlitten, als sie hörte, daß ich noch keinen besaß, und plötzlich fielen ihr zwei Tafeln Schokolade ein, die sie für die Heimfahrt eingesteckt hatte. Auch die Schokolade behielt ich in der Hand. In der einen Hand die violetten Tafeln, in der anderen das Fünfmarkstück, so kam ich mit ihr beim Wirtshaus an, wo der Vetter auf uns wartete. Der Wallach stand auf der Straße angebunden und hatte eine Krippe voll Hafer und Häcksel vor sich, worin er mit der weichen Schnauze wählerisch und eigensinnig wühlte. Der Vetter, der wohl ein wenig schwerfällig und nicht leicht auf ein anderes Gleis zu bringen war, begann wieder davon, daß ich nicht gleich mitkam. Ich hätte ihm können beim Öhmd helfen. Sie lachte jetzt ein bißchen, aber nicht ungut.

»Er wird nun wohl von seiner guten Schule weglaufen, um dir bei deinem Öhmd zu helfen«, spottete sie. »Denke nicht«, setzte sie mit einem eifrigen, aber mißglückten Anflug von Stolz hinzu, »daß du aus dem einen Bauern machst. Der hat anderes im Kopf.«

Der Bauer streifte sie mit einem fragenden und auch leise spottenden Blick. Bauer zu sein, sei das Schlimmste wohl noch nicht, meinte er, ebenfalls ein bißchen lachend. Ein Mädchen kam mit rotem Wein, Käse und Brot und guckte mich verwundert an, da uns die Wirtschaft sonst streng verboten war; ich dachte nicht einmal daran. Wir begannen zu essen und zu trinken. Auch ich bekam ein Glas Wein. Mein Stiefvater stieß mit mir an auf Gesundheit, und daß er mich bald abholen dürfe; so etwas Junges möchte er gerne noch einmal in seinem Haus haben. Er sah mich dabei freundlich und wohlmeinend an. Offenbar gefiel ich ihm, und auch er gefiel mir; in irgendeinem Zug erinnerte er mich an meinen Vater. Auch mit der Mutter stieß ich an. Sie sah wieder heiterer aus, und der Vetter begann ein paar Streiche zu erzählen, die ich in Wyhlen verübt hatte oder verübt haben sollte. Ich merkte zu meiner Verwunderung, daß ich dort inzwischen zu einer Art von sagenhafter Person geworden war. Meine Mutter, die heimlich wohl immer noch ein wenig aufgeregt war, trank rasch hintereinander zwei Gläser Wein und bekam rote Wangen. Sie begann nun von meinen Taten im Vaterhaus in Basel zu erzählen. Ich war wie im Traum, während ihre Augen zufrieden und wieder ein bißchen stolz zu spielen begannen. Sie berichtete, daß schon mein Vater mich zum Studium bestimmt gehabt habe, denn es sei früh zu merken gewesen, wo hinaus das mit mir wolle. Schon als kleiner Kerl sei ich schußlich gewesen wie ein Professor, und zerstreut und tiefsinnig wie ein Gelehrter. Antworten hätte ich gegeben, über die man sich biegen konnte vor Lachen. Und vor Fragen sei es mit mir nicht zum Aushalten gewesen. Dann fing sie aber an, ihrem Mann meinen Vater ein bißchen vorzuspiegeln, wie gut sie es dort gehabt habe, wie geehrt sie bei den Pfarrersleuten gewesen sei, und so weiter. Unter der anregenden Wirkung dieser Geschichten aus meiner ersten Jugend und wohl auch infolge des Weines vergaß ich meine Verschüchterung und fing ebenfalls ein bißchen an zu reden. Vor allem wollte ich noch mehr von meinem Vater hören, von dem ich für mein Bedürfnis immer zu wenig faßbare Tatsachen besaß.

»Dein Vater?« meinte meine Mutter, die jetzt in den Zug gekommen war. »Dein Vater war der gescheiteste und gelehrteste Mann, der mir in seinem Stand vorgekommen ist. Er hatte wenigstens zwanzig Bücher, und alle kannte er auswendig. Der Herr Pfarrer hatte manchmal lange Gespräche mit ihm, und nie blieb er die Antwort schuldig.« Einen Moment stockte sie, und dann fuhr sie in einem unruhigeren Ton fort: »Englisch konnte er sprechen wie Wasser, wenn er nur wollte, obwohl er es nie gelernt hatte. Und im Traum sprach er überhaupt nur Französisch.« Und plötzlich von einem Schatten überdeckt schloß sie: »Aber er war nicht gesund genug. Er hatte fünf Krankheiten. Als Kind hatte er die Gehirnentzündung; daher war er wahrscheinlich so tiefsinnig und still. Du bist manchmal auch so. Später bekam er den Rheumatis, das Gliederzucken, dann Typhus und Nervenfieber.«

Sie verstummte durch Erinnerungen oder Gedanken bedrängt, aber ich konnte wohl verstehen, warum sie das in so bestimmtem und wichtigem Ton vorbrachte. Auch mir schienen das bedeutende Mitteilungen, die Bücher sowohl wie das Englische und Französische und die fünf Krankheiten. Zweifellos mußte er ein besonderer Mann gewesen sein, auf dem die Augen mancher Leute ruhten, wie zum Beispiel des reichen Herrn Pfarrers. Die Tatsachen spielten in der nächsten Zeit in meinen Prahlereien vor meinen Kameraden eine gewisse Rolle, und es fand sich keiner, der ihren Wert entkräften konnte.

Auf einmal schien mir, daß der Vetter still geworden sei und daß eine leise Trauer ihm über das bedächtige und redliche Gesicht ging. Er fühlte wohl, daß er doch bloß ein Katholik war im Vergleich mit meinem Vater, und das stimmte ja auch, aber er tat mir doch leid, und sofort fühlte ich das dringende Bedürfnis, ihm ein tröstendes Wort zu sagen oder ihm sonst zu zeigen, daß ich ihm gut sei. Eben suchte er, da er fertig gegessen hatte, seine Pfeife. Sie lag hinter dem Brotlaib versteckt; er konnte sie nicht sehen. Rasch beugte ich mich über den Tisch, um sie ihm zu reichen. Dabei hatte ich aber wieder etwas übersehen. Neben meinem Arm stand das frisch gefüllte Rotweinglas meiner Mutter, das ich so eifrig umwarf, daß es zerbrach und den größten Teil seines Inhalts natürlich über das Kleid meiner Mutter verschüttete. Sie sprang mit einem Schreckensruf auf und begann sofort zu schütteln und zu klopfen, und vor Gram und heißer Beschämung klopfte ich mit. Nachher lief sie zum Brunnen hinaus, um die Flecken gleich zu spülen. Als sie den Rock aufhob, um ihn von innen auszuringen, sah ich kummervoll, daß sie durch und durch naß sein mußte. Indem schlug es in der Anstalt drunten zwölf Uhr: gleich mußte es läuten. Sie sah an meinem Blick, daß ich nun gehen mußte.

»Es schadet nichts«, suchte sie mich zu trösten. »Das kann jedem passieren. – Und jetzt mußt du wohl gehen?« Sie sah gleich wieder angefochten und unruhig aus. »Ja, dann müssen wir scheiden.« Sie hatte den Rock wieder fallen lassen und begleitete mich jetzt zum Bauern. »Sag' dem Vetter Adieu!« sagte sie. Der kam eben vom Pferd auf mich zu.

»Nun, und was würdest du sagen, wenn wir dich jetzt einfach nähmen und mit dir davon führen?« fragte er lächelnd. »Ich habe zwar nicht zwanzig Bücher und fünf Krankheiten wie dein Vater, aber schlecht solltest du es auch nicht haben bei uns.«

Ich sah ihn ganz verdutzt an. Es war, als hätte er gesagt: »Ich nehm's auf mich und mache die ganze Welt anders.« Aber in meinem Kopf hatte der Wein schon alles, wie man in dortigen Gegenden sagt, unterobsi, das Unterste zuoberst, gebracht, und ich blinzelte ihn nur stumm und erwartungsvoll an, während mir das Herz zu klopfen begann. Doch die Mutter, die mit einem merkwürdig betrachtenden Ausdruck dabeistand, sagte unzufrieden: »Rede dem Kind nichts ein. Ihm ist's am wohlsten dort drunten. Er will gar nicht zu uns. Die Katholischen sind ihm jetzt zu dumm.« Verlegen und unglücklich wandte ich mich ihr wieder zu, aber sie führte mich jetzt entschlossen und fühlbar verstimmt aus dem Wirtsgarten. Mir war die Welt nicht mehr ganz deutlich; ich hatte mehr Wein getrunken, als ich vertragen konnte, und fand mich auch auf meinen Füßen nicht mehr fest. »Lerne brav weiter«, ermahnte sie mich in gleichgültigem Ton. »Erhalte dir deine Freunde. – Und bevor du aufs Seminar gehst, besuchst du uns noch einmal.« Wieder wollte ich ihr entgegenreden, es sei noch gar nichts sicher, aber von einer rasch aufkommenden Regung der Beschämung fühlte ich mich wie auf den Mund geschlagen. Sie erwartete auch keine Antwort. Draußen strich sie mir halb verloren und auch etwas geplagt – alles empfand ich wie im Traum – über den Kopf. »Du bist ganz der Vater«, bemerkte sie, bemüht, dem Wort einen unparteiischen und freundlichen Klang zu geben. »Auch so mit den geschlossenen Händen halb nach vorn stehst du da wie er. – Dein Vater war ein nobler und vornehmer Mann.« Ihre Stimme klang so seltsam, während sie diese starken Ausdrücke brauchte. Alles war so wunderbar. Eben wollte ich aufblicken, um zu sehen, ob sie Tränen in den Augen hätte, da fing die Anstaltsglocke an zu läuten, und mir fuhr eine heilige Furcht in die Glieder, mich zu verspäten. Ich glaube, ich begann auf der Stelle zu treten. »Nun, so geh!« sagte sie wieder ein bißchen gereizt. »Was sein muß, muß ja sein. – Schreib' einmal. – Und soll ich in Wyhlen von dir grüßen?«

Jetzt begann mir noch der Kopf vor Wein zu brummen. Auch fiel mir die Schokolade ein, die ich drinnen auf dem Tisch hatte liegenlassen, aber dafür war nun keine Zeit mehr. »Und bleib gesund, Johannesli!« hörte ich noch wie aus weiter Ferne die plötzlich ganz veränderte Stimme meiner Mutter; träumerisch durchflog mich die Vorstellung, sie rede aus einer regnenden Wolke, aber ich wußte nicht, war es liebend oder erzürnt oder gleichgültig. Schnell, in einer unklaren Wallung, wollte ich sie noch umarmen und küssen, aber sie kam mir nicht rasch genug entgegen, und aufs Geratewohl nahm ich ihre Hand in meine beiden, um einen leidenschaftlichen, aber sehr ungeschickten Kuß auch noch beinahe daneben zu drücken. Ganz verwirrt taumelte ich dann auf die Straße und begann gleich loszutraben, ohne noch einmal nach ihr zurückzusehen. Später machte ich mir über alles Vorwürfe, aber ich hatte gar keine Gedanken mehr im Kopf und unterlag einer ängstlichen Trübung meines Geistes, die mich dumm machte und mich um die Phantasie brachte; ich konnte mir nichts mehr vorstellen, nicht einmal mehr denken konnte ich. Der Schweiß brach mir aus, und ich begann mich zu fürchten. In der einen Hand das Fünfmarkstück, die andere im Gesicht, um mich wieder munter zu reiben, klapperte ich durch das Tor, wo mir rechts auf weißem Grund der schon halb verwitterte Spruch in die Augen fiel: »Es ist dem Manne gut, daß er sein Joch in seiner Jugend trage.« Einen Moment starrte ich ihn an, als ob ich ihn noch nie gesehen hätte. Aber auch jetzt fiel mir nichts ein, was sich irgend hätte denken lassen, und unter einer neuen Verdunkelung stolperte ich vollends dem Haus zu. Da waren die Mauern und Türme wieder. Von drüben winkten die Arkaden des Wagenschuppens her, und hier blickten hoch und ernst die Fenster des Herrn Vaters auf mich unbedeutenden und dazu betrunkenen jungen Menschen herunter. Gleich rechts in der kleineren der beiden Anlagen hatte man einen Gedenkstein für Marie Claudepierre errichtet; er schien mich verwundert und auch ein wenig vorwurfsvoll zu begrüßen. Fast bewußtlos stolperte ich noch knapp vor dem Herrn Vater, der eben die Treppe herabgetragen wurde, durch den Eßsaal nach meinem Platz, wo ich mitbetete und sang wie eine kleine Maschine, und dann zu essen begann, als ob ich es bezahlt bekäme oder damit etwas gutmachen wollte. Tatsächlich wurde mir mit der warmen Suppe besser, aber die Angst hielt noch an, und ich schwitzte weiter.

Wiederaufrichtung

Doch wie als Tröstung oder Wiederaufrichtung erlebte ich nach all diesen Beschämungen am gleichen Nachmittag einen unerwarteten persönlichen Erfolg. Ich hatte zum Geburtstag des Herrn Vaters einen großen, besonders schönen Spruch bereits fertig gemalt mit der Inschrift: »Um den Abend wird es licht sein!« Es war die beste Arbeit aus meiner Hand; ich wollte damit vor Marie prangen. Als die Feier abgesagt wurde, rollte ich ihn zusammen, anstatt ihn aufzuziehen, und stellte ihn in eine Ecke der Schusterei, wo er zu verstauben begann. Durch die Zwischenträgerei des Schusters aber, der sich auf jede Weise wichtig zu machen suchte, erfuhr Herr Ruprecht von dem Kunstwerk, verlangte es zu sehen, und ordnete seine Überführung nach der Schreinerei an, wo es einstweilen gerahmt werden sollte, bis vielleicht wieder bessere Zeiten kamen. Dieser Termin schien sich bereits wieder anzumelden. Das Leben verlangt sein Recht, und hundert Vorhandene sind auf die Dauer begehrlicher und wirkungsvoller als ein Verschwundenes, soviel Gedanken auch mit ihm gehen mögen. Jedenfalls, als ich heute zum Schreiben kam, fiel mir in meinem leicht geschwächten Zustand von der Wand hinter dem Herrn Vater her unerwartet mein Spruch in die Augen. Ich sah auf den ersten Blick, daß die Initialen bei dem starken Maßstab nicht groß genug waren, aber die Farbe war gut, und die Schrift – strenges Gotisch – diesmal besonders wirkungsvoll. Das stärkte meine Geister ein wenig und richtete meine fast ganz daniederliegende Selbstachtung leise auf. Etwas Nicht-wieder-gut-zu-Machendes war ja nicht geschehen, und auch nichts Unwiederbringliches verloren. Ich tat einen heimlichen tiefen Atemzug, während der Herr Vater ruhig und begründet wie immer meine Zeichnung zu loben begann, und dann besonders die Spruchwahl besprach, die ihm nahezugehen schien, ohne daß er das ausdrücklich sagte. Nachher tat er noch ein paar anteilnehmende Fragen nach meinem Stiefvater und der Mutter, ob ich ein bißchen mitgefahren sei, und warum nicht, und schließlich setzten wir das Diktat fort.

Am nächsten Sonntag predigte er über das Wort: »Um den Abend wird es licht sein!« Es war eine sehr schöne und friedfertige Ansprache. Am Abend bekamen wir die Schokolade nachgeliefert, die damals auch in Vergessenheit geraten war, und ein paar einfache Gesänge und Aufführungen wurden nachgeholt.

»Ein Wort zur rechten Zeit ist ein goldener Apfel auf silberner Schale«, bemerkte er am andern Tag noch lächelnd zu mir. »Wo steht das?«

Ich besann mich kurz. »In den Sprüchen«, sagte ich.

Er lachte.

»Geraten, aber nicht gewußt. Stimmt's?«

Ich gab es zu.

Das Perlentor

Ich hatte meinen Brief an die Mutter noch nicht geschrieben, als der Sommer mit einigen schweren Gewittern heftig und schnell ausklang. Das erste davon schlug bei der Feste, ungefähr an der Stelle, wo Marie ertrunken war, in den Rhein; der Gärtner sah das Wasser in einer hohen flammenden Säule aufspritzen. Das folgende traf schon am nächsten Tag mit einem sogenannten kalten Strahl den dem Rhein zugekehrten Giebel der Anstalt, des alten Schlosses, und räumte in einem schrägen Strich eine Bahn Ziegel vom Dach herunter, die im Sturz noch das halbe Dach des katholischen Pfarrhauses zerschmetterten.

Man kennt auf dem Land die Neigung von Gewittern, manchmal plötzlich mit großem Eigensinn einen Weg zu nehmen, den sie nie zuvor hatten und nachher auch nicht wieder aufsuchen. So war es auch dies Jahr. Wenige Tage später schlug es uns schon wieder ins Haus. Diesmal fuhr der Blitz vom hohen Rheingiebel diagonal durch das ganze lange Gebäude bis zur Badestube, die auf dem gegenüberliegenden Flügel der letzte Raum zu ebener Erde war. Alle Zimmerdecken auf seiner Bahn waren durchlöchert, Wände durchschlagen und gerissen und Balken gesplittert. Im Badezimmer hatte sich gerade ein Bruder gewaschen; der stürzte bleich und halbnackt aus dem Haus und schrie: »Es brennt! Das Gericht Gottes!« Es war aber wieder ein kalter Schlag gewesen. Zum Glück standen gerade alle großen Säle leer, sonst hätte es ein unabsehbares Unglück geben können.

Alles zusammen wirkte dahin, daß eine Stimmung von sorgenvoller Betroffenheit, sozusagen ein freundliches Verlassenheitsgefühl sich unter uns einnistete. Man fragte sich, ob alle diese Schläge nicht Mahnungen Gottes seien, sich ihm noch mehr zuzukehren. Besonders, daß ein Strahl an der Unglückstelle im Rhein eingeschlagen hatte, gab viel zu reden. Auch das Verhalten des Herrn Vaters und die an ihm seither noch deutlicher wahrnehmbare stille Veränderung beschäftigte die Gemüter. Man hatte die Empfindung, daß man im ganzen Großen in eine mehr oder weniger außerordentliche Zeit eingetreten sei und sich darin entsprechend benehmen müsse. Wo der Herr Vater sich jetzt sehen ließ, begegnete er vieler Aufmerksamkeit, und die Dienstbarkeit war noch nie so groß gewesen. Davon färbte sogar etwas auf die Frau Mutter ab, die einmal in ihrer stachligen Weise bemerkte: »Es geschehen ja noch Zeichen und Wunder!« Aber nichts hatte sie davon abgehalten, nach Maries Tod mit sicherem Griff bei den Mädchen die Dinge wieder in die alte Ordnung zu bringen und seither da festzuhalten.

Nun war es an einem milden Oktobertag. Mit blassem Gold stand der Himmel über der Landschaft. Die Hügel glühten gelb, und die Wälder flammten in brennendem Rot. Die Kastanien streuten große Massen von ihrem rostbraunen Laub in den Brunnentrog; der Trupp, der morgens zuerst dort erschien, konnte sich nicht waschen vor Blättern. Die Trauerweide hatte den ganzen Sommer hindurch gekränkelt und stand schon eine Weile kahl. Das Erntefest lag hinter uns, und eigentlich warteten wir auf den Einbruch des Winters, während wir noch die letzte Sommerstille genossen. Der Herr Vater erschien nicht mehr im Freien.

Wir trieben ein Ballspiel an der großen Scheune. Darunter sah ich Herrn Johannes aus der Haustür treten, um nach seiner Weise die Freistunde zu genießen. Neben ihm ging Herr Ruprecht, sein Neffe, der ihn um Kopf und Schultern überragte, aber bei weitem nicht in der Verehrungswürdigkeit. Lächelnd machte Herr Johannes eine Bemerkung zum langen Menschen, und eben trat ein Bruder zu, um irgend etwas zu wollen. Mir fiel in der Eile wieder auf, wie weiß er in der letzten Zeit geworden war, und wie alt und still er aussah. Da wurde mein Name gerufen, und ich mußte den Ball fangen. Aber ich hatte mich schon zu spät umgewandt und verfehlte ihn. Alle liefen auseinander, und ich hob ihn schnell auf, mit den Augen den Mitspieler suchend, der am wenigsten weit weggekommen war, um ihn damit zu werfen. Doch wieder wurden meine Blicke geheimnisvoll nach der von Sonne und Herbstfäden umspielten alten Gestalt abgelenkt. Ich holte zwar mit dem Ball aus, vergaß aber zu werfen, und nachher ließ ich auch die Hand sinken. Wohl von meinem Gesichtsausdruck betroffen gemacht, wandten sich auch die anderen meiner Blickrichtung nach und wurden gleichfalls still. Zufällig hatte ich bemerkt, daß Herr Johannes, im Begriff, auf den Hof hinauszutreten, plötzlich den Halt zu verlieren schien, so daß er sich an einem Mädchen, das des Weges gelaufen kam, festhalten mußte. Das guckte ihn sehr erstaunt an, und er tat, schon wieder lächelnd, den Mund zu einer Bemerkung auf, als er plötzlich nach dem Herzen griff und mit einem so seltsamen Blick und Ausdruck zum herbstlich leuchtenden Himmel aufsah, daß ich alles um mich vergaß. Dann faßte er wie erblindet mit beiden Händen nach Halt aus und fiel vorwärts zu Boden, bevor ihm jemand beispringen konnte.

Schon erfüllte sich der Hof mit Geschrei. Herr Ruprecht war nun herzugesprungen; auch der Bruder, der ihn gerade verlassen hatte, kehrte um und kam gelaufen. Man hob ihn auf, brachte ihn in sitzende Stellung, öffnete ihm den Hemdkragen. Jemand erschien mit Wasser. Ein paar Mädchen liefen ins Haus, um die Frau Mutter zu benachrichtigen. Alles war schon um den Platz zusammengelaufen, aber jetzt herrschte eine Totenstille. Es hatte sich herumgesprochen, daß ihn ein Herzschlag getroffen habe. Mit vereinten Kräften trugen ihn die Männer ins Haus hinein. Wir blieben allein im Hof draußen. Niemand kümmerte sich um uns. Das Glockenzeichen für den Schulbeginn fiel aus, aber wir dachten nicht daran, den Umstand zu unserem Vergnügen zu benutzen. Einer wurde nach der Post hinaufgeschickt, um zu telegraphieren. Eine bange, müde Herbststille herrschte im Hof. Jetzt habe es schon wieder bei uns eingeschlagen, hieß es unter uns. Welche wahrsagten nachträglich um die Trauerweide herum, die Herr Johannes am Todestag seines Vaters, Christian Heinrich Cranach, gepflanzt hatte; ihr plötzliches Kränkeln und Absterben gab jetzt zu reden. Andere standen stumm vor ihren kleinen Gärten und besahen ihre letzten Astern. Nach einer Stunde etwa kam das Wägelchen des Arztes von Heinfelden her in rascher Fahrt vor dem Portal an; der Arzt, ein kurzbärtiger Mann in den besten Jahren, warf einem von uns den Zügel zu und verschwand ins Haus hinein. Die Mädchen standen herum und weinten verloren. Den meisten von uns war sehr ungemütlich. Bloß der das Pferd halten durfte, sah befriedigt aus und blickte mit gehaltenem Stolz auf uns. Endlich kam Herr Ruprecht allein aus der Haustür, wollte uns etwas sagen und konnte nicht, schlug hilflos seinen Arm an die Hausmauer und den Kopf darauf, um bitterlich zu weinen. »Herr Johannes – ist – tot!« schrie und schluchzte er. »Geht – an eure Arbeit!«

Wir drückten uns noch eine Weile gedankenlos und wie auf den Kopf gefallen herum, bis die Aufseher kamen, um uns abzuholen. Es machte heute niemand den Versuch, uns zu drangsalieren; das war überhaupt im großen ganzen vorbei. Auch die Aufseher spürten das höhere Walten; sie ließen uns heute machen, was wir wollten. Gedämpft unterhielten wir uns über den Dahingegangenen, und jeder hatte irgendeine besondere persönliche Erfahrung mit ihm gemacht. Man besprach jetzt besonders, daß er sich gerade im nächsten Frühjahr hatte zur Ruhe setzen wollen. Statt dessen hatte ihn sein Gott des Himmels und der Erden ohne Übergang aus dem vollen Dienst an seine schimmernde Geisterschule in den Regionen der Milchstraße übernommen. Mich streifte flüchtig die Frage, ob es jetzt wohl an der Zeit sei, den Brief an meine Mutter bejahend zu verfassen? Aber ein einziger Blick nach dem anderen nun noch mehr vereinsamten alten Mann droben ließ mich in dieser Richtung nicht weiterdenken. Es wurde übrigens von ihm berichtet, daß er weinend mehrmals wiederholt habe: »Nun ist er mir zuvorgekommen!« Ein Wort, das mir viel zu grübeln gab und mich lange nicht losließ.

Am dritten Tag begrub ihn die Hausgemeinde unter großem, beinahe fürstlichem Zulauf aus der ganzen Gegend, aus der Schweiz und aus Württemberg. Der Herr Vater war nicht imstande, seinem Bruder die Grabrede zu halten. Er hatte sein Zimmer bloß noch einmal verlassen, um sich zum Toten hinübertragen zu lassen. Da saß er lange ganz nahe an dem noch offenen Sarg und betrachtete die friedlichen, ruhig schönen Züge mit hungrigen und sehnsüchtigen Augen. Zu den Klängen unseres Liedes: »Laßt mich gehn, laßt mich gehn, daß ich Jesum möge sehn!« wurde der Deckel aufgeschraubt. Zuerst trug man dann den Sarg hinaus, dem dichtauf der Herr Vater folgte. »Schlaf wohl, laß dir nicht grauen!« rief er von droben durch das hallende Haus dem toten Bruder nach. »Bald komm' ich auch! Auf Wiedersehn auch du!«

Der Leichenzug reichte vom Haus weg bis zum Kirchhof hinauf; als wir schon droben das offene Grab umstanden, sah ich die letzten drunten den Hof verlassen. Auf einem Nebengeleise des Bahnhofes stand der Extrazug von Basel, der die Leidtragenden hergebracht hatte und mit dem sie wieder wegfahren sollten, mit dampfender Lokomotive. Zunächst dem Sarg waren gefolgt Herr Elias, Herr Ruprecht und der Regierungsingenieur als der letzte Überlebende des so jäh aufgelösten Freundschaftsbundes. Die Frau Mutter war bei ihrem Gatten geblieben. Unterwegs hatte der Posaunenchor eine Trauermusik gespielt. Am offenen Grab sangen wir, ebenfalls in Begleitung der Trompeten und Posaunen:

»Unter Lilien hoher Freuden
Sollst du weiden,
Seele, schwinge dich empor.
Wie ein Adler fleuch behende.
Jesu Hände
Öffnen schon das Perlentor.«

Unser letzter Gruß hallte weit über die Rheinebene hin, und beim zweiten Lied: »Auferstehn, ja, auferstehn wirst du!« klang unser Halleluja am Schluß deutlich wahrnehmbar in geisterhafter Verschwörung vom Schweizer Wald her zurück, als hätte das Heer abgeschiedener Seelen in der Höhe mit uns gesungen. Ich hatte ihm das schwarz umflorte Kreuz vorausgetragen, und mir war dabei gewesen, als wäre ich in großer Bescheidenheit und Unwürdigkeit sein nachgelassener Sohn. Mit dem Zeichen des Kreuzes, nicht mit dem Johannesstern, der bei uns eine so große Rolle gespielt hatte, trat er seinen letzten Gang an. Aber wer weiß, was sein wahrer letzter Weg war oder noch ist, ehe er sein heiliges Ziel erreicht, wenn es ein solches für uns überhaupt gibt, und unter welchen Zeichen er dort eingehen oder einbrechen wird.


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