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Als ich an der Hand meines Großvaters von der Eisenbahnstation Demutt die kurze, gerade, abfallende Straße nach der ehemaligen Deutschritterkomturei gleichen Namens hinab schritt, war eben ein Gewitter über die Gegend gegangen. In dem großen Garten der jetzigen Armenanstalt zwischen lauter blühenden Obstbäumen, die noch vor Nässe glitzerten, stand mit einem schimmernden Fuß ein Regenbogen und schwang sich unter der Schwärze des Himmels hin mit wunderbarem Glanz über die kleine Häusergruppe, Tor, Schloß, Kirche und Mauer, und über den Rhein hinüber den jenseitigen Schweizer Bergen zu. Eine Glocke bimmelte in der Anstalt. In der Richtung nach Basel blitzte es noch; es war ein Ostgewitter gewesen.
Wir kamen über eine kleine Brücke. Links und rechts lag der Burggraben, aus dem altersgraue Mauern steil aufstiegen. Holunder und Flieder trieben in der Tiefe. Ein dunkler, hallender Torgang nahm uns auf. Darauf traten wir in den Burghof. Aus irgendeinem Grund maß ich meine Schritte nach denen meines Großvaters; ich zog so in die Armenanstalt Demutt ein mit weiten, großspurigen Schritten und mit dem Knotenstock des Großvaters, den ich mir mit zähem Anhalten erbeten hatte. Nach einigen Fragen wurden wir ins Hauptgebäude geführt, um dem »Herrn Vater« vorgestellt zu werden. Zum erstenmal fand ich meinen Großvater in einer Umgebung, in der er nichts zu sagen hatte; das beunruhigte mich, und es schien mir niederdrückend und beängstigend.
Der Herr Vater war ein ziemlich großer Mann von eigentlich schwerer Statur, aber gichtbrüchig, so daß er mit seinem Wuchs nicht mehr zur Geltung kommen konnte. Er saß gelähmt in einem Lehnstuhl, vermochte nur noch den Mund und die Augen und kaum die verkrüppelten Hände zu gebrauchen, kam mir aber gleich sehr vornehm und hochgestellt vor, und ich konnte meine Blicke nicht von seinen sehr weißen, von der Gicht verzogenen Fingern und der wollenen Decke bringen, die seine Beine einhüllte, so daß ich geheißen werden mußte, dem Herrn ins Gesicht zu sehen, damit man meine Augen betrachten könne. Mein Großvater schien mir schüchtern und viel beflissener als in Wyhlen gegenüber dem katholischen Herrn Pfarrer, der doch auch ein heiliger Mann und sogar schon ein weißhaariger Greis gewesen war. Dafür hatte dieser Herr Vater einen breiten, weichen, graumelierten, ehemals schwarzen Bart, eine leichtgebogene Nase in einem weichen, kränklichen und empfindlich aussehenden Gesicht, und dazu kleine, kräftig blaue Augen, deren Blick ein wenig stach, auch wenn er freundlich mit einem redete.
Ich wurde dann hinausgeschickt, während der Herr Vater noch mit meinem Großvater allein etwas bereden wollte. Als dieser draußen wieder zu mir stieß, stolperte er über die Schwelle und sah mich zuerst gar nicht. Er hatte auf einmal rote Wangen, und drinnen war es auch ein bißchen laut zugegangen, doch plötzlich besann er sich wieder auf mich, und beim Abschied machte er noch einen Witz: er steckte mir ein Zweimarkstück unter den Hemdkragen ins Genick, umarmte mich mit Tränen in den Augen, und trabte ab ohne mich und ohne seinen Knotenstock. Mir selber saß das Weinen im Hals, während ich ihn den dunklen Torgang dem Bahnhof zu durchschreiten sah.
Jetzt läutete aber eine Glocke, und meine Person wurde von der Hausordnung mit Beschlag belegt. Sie entzog mich mit etwa zwanzig anderen kleinen und großen Buben in brauner Anstaltstracht für heute dem Sonnenschein, der sich inzwischen eingestellt hatte, und führte mich aus dem Schloßhof durch einen gepflasterten hallenden, breiten Gang, eine steinerne enge Wendeltreppe hinauf, über einen zementbelegten weiten Estrich, durch eine enge hölzerne Diele, und abermals über einen nun mit Backsteinen gepflasterten Boden in einen alten spitzbogig überwölbten mittelgroßen Saal. Der Saal hatte nach Osten zu zwei schmale, gewißlich sehr vornehme Bogenfenster, die in ungewohnten Nischen lagen und von außen mit Efeu umrankt waren, und südlich einen Erker, der mit drei heiteren Durchbrüchen links gegen Säckingen hinauf, rechts gegen Basel hinunter, und geradeaus nach dem Rhein und dem Schweizer Wald drüben blickte. Doch darin hatten wir, hörte ich, just nichts zu suchen; er war durch eine Holzwand mit Glasscheiben von unserem Raum, dem Arbeitsaal, abgesperrt. Die Mauern waren wohl zwei Meter dick. Wo die ziegelroten Rippen der Deckenwölbung sich trafen, hingen runde Rosetten, von denen kaum kenntliche Ungeheuer auf uns herabgrinsten.
Den Saal beherrschten eine Anzahl schwere, grobe eichene Tische von hohem Alter. Einer stand zunächst im Winkel, wo es immer dunkel war, einer rechts vorn beim Erker, einer links bei den Fenstern; der war durch kniehohe Bretter eingewinkelt. Rechts von der Tür stand ein großer, runder eiserner Ofen. Die kleinsten Jungen nahmen an dem dunklen Tisch Platz; die größeren verteilten sich auf die anderen Bänke. Die an dem eingezäunten Tisch machten mir den Eindruck, ein besonderer Verein zu sein. Sie beobachteten eine unabhängige Haltung, verkehrten nur unter sich, und der Aufseher ging mit ihnen am achtungsvollsten um, denn sie waren die Finkenmacher, eine Gilde, die aus Tuchenden warme Schuhe, sogenannte Finken, flocht und sie mit weißen Wollplatten versah. Auch die Wollplatten stellten sie selber her. Die Einzäunung verhinderte, daß die Wolle wegflog und sich mit den Schweineborsten vermischte, die an den anderen Tischen verarbeitet wurden. Die Finken flocht man über dicke Leisten, an denen sich ein geheimnisvolles System von Nägeln und Haken befand. Man brauchte dazu bestimmte lange Nadeln, die für meine Begriffe eine ungeheuer kunstreiche Handhabung und einen furchtbar entwickelten Geisteszustand beanspruchten. Ich konnte nicht anders, als diese wissensreichen und brauchbaren kleinen Handwerker von Stund an verehren; gleichzeitig ging mir auf einen Schlag mein bisheriges unnützes Leben auf, das ich in Wyhlen geführt hatte, und ich wurde sehr kleinlaut und verzagt.
Da ich heute noch nicht zu arbeiten brauchte, konnte ich auch sehen, was die Burschen an dem anderen Tisch machten. Sie waren sehr nett und freundlich zu mir, und zeigten mir alles. Sie verfertigten Schuhbürsten, Kleiderbürsten, Zylinderputzer, Auftragbürsten, Hutbürsten, Handbesen und Besen für Stiele, was man wollte. Die ersteren wurden mit Messingdraht eingezogen, die anderen gepecht. Jedes war eine Kunst für sich. Die Jungen sagten, das würde ich auch einmal lernen, aber ich hatte ein schweres Herz und zweifelte daran. Ich wünschte es auch nicht. Mit märchenhaftem Schimmer trat mir die frisch verlorene Freiheit bei meinen Großeltern vor Augen, der Grashang mit seinen Veilchen und Schlüsselblumen, der Bach, das Kloster im »Himmelreich«, dessen Glocke ich geläutet hatte, die Mühle mit dem Müllermädchen, und die Großeltern selber. Die Jungen fragten mich, wo ich her sei. Ich sagte mit trauernder Bescheidenheit: »Aus Wyhlen!« – »Was, aus Schwielen?« witzelte einer gleich, und von Stund an hieß ich: »Der Schwielener!« Dann wollten sie wissen, was mein Großvater sei. Ich dachte, Bescheidenheit sei hier vielleicht falsch angebracht, und dem Frager stolz entgegentretend, erklärte ich: »Schermausjäger, von der Gemeinde angestellt!« Sie kicherten und stießen einander an, und künftig war ich lange nicht von der Überzeugung abzubringen, daß die Bürstenbinder weniger anständig und vornehm seien als die Finkenmacher. Gewiß waren sie durch ihre Kunst mit einem scharfen, geschulten Geist begabt, aber die Finkenmacher hatten mehr Gemüt und Seelenhoheit.
Noch großartiger war ja nun eigentlich das Einpechen der Besen. Wenn Besen gemacht wurden, roch der ganze Raum nach Pech und herrschte überhaupt eine gewisse Festlichkeit, die einen deutlichen Begriff gab von Wert und Ziel der Lebensbeherrschung. Die Pechjungen gingen breitbeinig und großmäulig umher, genossen ihren Ruhm und sahen auf alles andere herab, ja, sie fühlten sich sogar so sicher in ihrer Überlegenheit, daß sie ihre Verachtung für das Kleingewerbe, das wir Jüngsten vertraten, mitleidig verbargen, und sich nur an den Finkenmachern und den Bürstenbindern rieben. Aber die Tage der Bürstenbinder kamen auch wieder, wenn weiß-, rot- und schwarzgestreifte Bürsten, ganz blaue Damenbürsten oder solche mit bestellten Anfangsbuchstaben gemacht wurden. Sobald die gefärbten Borsten beim Aufseher auf der Bank lagen, nahm eine geistig angeregte, klarlüftige Stimmung im alten Rittersaal überhand. Da war es für die »Pechrotzer« besser, die »Bürstenschinder« nicht herauszufordern, oder dazu nur ganz vorteilhafte und sichere Gelegenheiten auszusuchen. Die Finkenmacher ihrerseits saßen in ihrem Verschlag und ihrer Sonderkunst so sicher, daß ihnen weder eine der anderen Parteien ans Leder oder an die Wolle konnte, noch hatten sie Lust, sich an der Niedermetzlung der gerade unterliegenden Partei, so lohnend sie manchmal gewesen wäre, zu beteiligen; Verträglichkeit, Edelmut und Würde sind also wohl offenbar moralische Zustände, die man vom Finkenmachen und Wollekämmen nicht getrennt denken kann. Es herrschte daher zwischen den Finkenmachern und den Pechvögeln ein gewisses sympathisches Achtungsverhältnis, das auch durch die Uzereien der letzteren nicht gestört wurde, während zwischen jenen und den Bürstenbindern nichts als vollkommene Kälte und Gleichgültigkeit vorwaltete.
Diesen ruhmreichen Parteien schoben wir kleinen Knirpse das Fundament unter die Füße, oder richtiger: wir zupften es. Wenn das Schwein abgebrüht ist, so schabt ihm der Metzger die Borsten von der Schwarte herunter. Diese Borsten bekamen wir mit Hautfetzen und Klauen, und was sonst am Schwein hing, zu säubern und zu ordnen. Man nahm die linke Hand voll Haar, schloß sie, zog einen Büschel davon unten heraus, legte ihn der Länge nach in die Hand zurück, und fuhr damit so lange fort, bis die ganze Faust voll gereinigt in gleicher Richtung lag. Bei sauberer Ware konnte man mehr Gezupftes leisten als bei unreiner oder harziger. Die Kleinen sollten drei Lot in einem Vormittag zupfen und zwei am Nachmittag, die Größeren vier und drei. Man sagte mir, der liebe Gott habe es so befohlen, aber ich kam bald dahinter, daß der liebe Gott Röcke anhatte.
Um sieben Uhr hieß es: »Aufstecken!«, worauf das Gerät abgeräumt, der Boden gekehrt und eine nicht übertriebene leibliche Reinigung vorgenommen wurde. Ein Junge lief mit einem großen Trichter, der mit Wasser gefüllt war, durch die Stube. Mit dem laufenden Wasser beschrieb er schöne Achterschleifen, um die ich ihn schwer bewunderte und auch ein bißchen in aller Bescheidenheit beneidete, denn es war einer der geschickten Bürstenbinder. Drei andere kehrten den Boden unter Erregung eines ansehnlichen Staubes trotz der Achterschleifen. An den Besen hingen und baumelten die Klunkern, was mir besonders beachtenswert erschien. Nebenher bekam ich einen vollen Wasserstrahl über die Strümpfe; gleich darauf fuhr mir ein Bürstenbinder mit dem Besen von hinten gegen die Absätze, daß ich mich rückwärts hinsetzte. Zu allem sprach ich den großen Leuten die volle Berechtigung zu. Sie ihrerseits lobten mich, weil ich nicht heulte; sie hätten gedacht, als Schwielener würde ich gleich zum Aufseher laufen.
So ausprobiert durfte ich im Zug nach dem Speisesaal hinten anstehen. Es ging wieder über den Zementboden und die Wendeltreppe hinab. Von dem kalten, zugigen Gang führte eine Tür nach dem neuen Teil des Schlosses, wo uns nun ein sehr großer Saal aufnahm. Eine Reihe von eisernen Säulen trug die Decke, die ich hier flach fand. Vier große Fenster, ebenfalls in tiefen Nischen, gingen nach dem Schloßhof hinaus. Wir waren die ersten im Saal und nahmen unsere Plätze an dem langen Tisch rechts ein, der mit der Wand lief. Ich kam als Neuling ganz unten zum Aufseher zu sitzen. Etwas später erschienen andere Jungen, die im Garten, und dann welche, die auf dem Feld gearbeitet hatten. Es waren nach meinen Begriffen halbe Riesen dabei, rühmenswerte, achtunggebietende Jahrgänge, gegen die vielleicht meine Bürstenbinder doch nicht aufkamen. Wir Haarzupfer nahmen das untere Drittel der Tafel ein, die Pechleute und Finkenmacher die Mitte, und die Garten- und Feldarbeiter das obere Drittel. Im ganzen waren wir etwa vierzig an der Zahl. Quervor sodann an der Nordwand, wurde mir bedeutet, stand der »Herrentisch«, an welchem der Herr Vater mit seiner Familie, die Lehrer und der feine Besuch aßen; er war noch leer. Ihm zunächst und parallel stand der Mädchentisch, an welchen eben ein Zug von etwa dreißig braungekleideten, beklemmend sittsam aussehenden kleinen Weibern von sechs bis fünfzehn Jahren gezogen kam. Still, kaum unter sich flüsternd, nahmen sie ihre Plätze ein und warteten sodann mit den Händen in den Schößen auf das weitere.
Zunächst erschien nun eine geordnete Gruppe von etwa zwei Dutzend jungen Männern zwischen zwanzig und dreißig Jahren, um den Tisch nach den Mädchen zu besetzen. Diese Jünglinge waren die »Brüder«; mehr konnte ich fürs erste nicht erfahren. Ich wunderte mich sehr, daß es so viel Brüder geben sollte, und hätte nun gerne ebenso viele erwachsene Schwestern gesehen, die sich jedoch nicht einstellten. Sondern den Tisch nach den Brüdern nahmen Männer ein, die in trotziger oder ruhig selbstbewußter Haltung einzeln ankamen, wie es ihnen paßte. Ich erfuhr, daß der eine der Knecht Siegrist war, der andere der Schneider Werder, dann der Gärtner, der Schuhmacher, der Sattler und so weiter. Plötzlich, ich war noch nicht über den Knecht Siegrist im reinen, einen alten Knaben von besonders unbotmäßigem und dabei doch vertrauenerweckendem Aussehen, fuhren die Mädchen wie gestochen von den Bänken auf, so daß eine Bank mit großem Getöse umfiel. Ihnen folgten die Brüder, alle Jungen, und auch die Männer am letzten Tisch ließen sich dazu herbei, ein wenig aufzustehen. Ich sah nun, daß sich inzwischen mehrere Personen an dem ersten Quertisch eingefunden hatten, aber der Herr Vater war nicht darunter. Dagegen wurde er gerade jetzt von den zwei stärksten Brüdern an der Wand entlang nach seinem Platz getragen. Er sagte mit lauter Stimme: »Guten Abend!«, und alle antworteten ebenso: »Guten Abend, Herr Vater!« Ihm folgten seine Gattin und die beiden Töchter. Alles blieb nun stehen, um den Tischgesang anzustimmen; soviel ich sehen konnte, sang jedermann mit, außer dem Knecht Siegrist, den ich in der Folge für einen heimlichen Heiden hielt. Er hatte auch einen so graumelierten rotbraunen Lockenkopf und Goldplättchen in den Ohren, sah verwettert und verwittert aus, und die Hände faltete er ebenfalls nicht. Für den Knecht Siegrist interessierte ich mich bereits brennend, um die Wahrheit zu sagen. Beim Singen bewunderte ich am meisten die Mädchen mit ihren sanften und gebildeten Stimmen, dann freuten mich aber die Brüder mit ihren Tenören und Bässen, die dem Gesang einen so besonnenen Charakter gaben.
Unser Aufseher und die Lehrerin der Mädchen hatten die Wartezeit bereits dazu benutzt, die Suppe in die Zinnteller auszuschöpfen. Bald nach dem letzten Ton des Liedes saß alles mit seinem Löffel arbeitend; wer Glück hatte, fischte sich seinen »Knollen« aus der Hafersuppe und legte ihn zur Ansicht für die Nachbarn auf den Tellerrand, um sich zum Schluß mit ihm auseinanderzusetzen. Gesprochen wurde nicht, das war das ausschließliche Vorrecht des Herrentisches, der selber nur in gedämpfter Weise davon Gebrauch machte. Inzwischen ging der Aufseher zum zweitenmal mit Schüssel und Kelle die Reihen entlang, soweit es reichte. Nachher kam noch etwas Übriggebliebenes vom Mädchentisch und von den Brüdern herüber, aber zu uns herunter langte es auch jetzt nicht zum zweitenmal. Wir waren daher schon fertig, als das große Schlußgeräusch anhob, das nach der gewissen Feierlichkeit, die vorausgegangen war, mich sehr überraschte. Es wurde von etwa dreißig Jungen, zwanzig Mädchen und einigen Brüdern ausgeführt. Man lehnte den rechten Arm gegen die Tischkante, faßte mit der linken Hand den Teller, während man sich mit dem Gesäß gleichzeitig auf der Bank etwas zurückschob, so daß das Gesicht in gleiche Höhe mit dem Tellerrand kam. Während die linke Hand den Teller immer um einen Zentimeter herumrückte, scharrte die rechte mit dem Löffel vom Zentrum aus in raschen, taktmäßigen Schlägen jedesmal einen Streifen Suppenbelag in den davor befindlichen Mund hinein, bis der Teller vollkommen blank war. Das gab einen ohrenbetäubenden Lärm, da dazu in der Minute etwa hundertzwanzigmal der Löffel gegen den zinnernen Tellerrand schlug. Siegrist scharrte nicht; er hatte überhaupt Gemüse und Fleisch und dazu noch Brot und Käse vor sich. Die Brüder mußten dagegen wie wir mit der Hafersuppe auskommen.
Als das Geräusch verstummt war, trat wieder eine ehrfürchtig wartende Stille ein. Der Herrentisch war mit Essen noch nicht fertig, da der Herr Vater von einer fremden Person ernährt werden mußte; er konnte weder sein Fleisch selber schneiden, noch die Gabel zum Mund führen, und das hielt auf. Inzwischen wurden an den Tischen die Teller in bestimmte Stöße aufeinandergeschichtet und Bücher ausgeteilt; von den Großen bekam jeder eines, während die Kleinen zu zweien darein sehen mußten. Die Buben, die bisher mit dem Rücken gegen die anderen Tische gesessen hatten, mußten die Bank übersteigen und umgekehrt sitzen. Dasselbe taten die Brüder und die Mädchen; das heißt, die Mädchen stiegen nicht, sondern zogen zu beiden Seiten in sittsamer Wallfahrt hinaus und hauchten sich fromm in zwei Zügen von der anderen Seite wieder hin. Inzwischen war auch der Herr Vater mit dem Essen fertig geworden. Die Bücher lagen aufgeschlagen in jedermanns Hand und, von der Hafersuppe frisch geputzt, begannen die Kehlen – ein vertrauenswürdiger alter Mann neben dem Herrn Vater gab den Ton an – das Abendlied. Ich paßte sehr auf, und hätte Text und Melodie meiner Lebtage nie vergessen, auch wenn ich sie nicht später so und so oft mitgesungen hätte, denn dafür besaß ich ein besonders scharfes Gedächtnis. Ich weiß noch heute Lieder, die ich nur ein einziges Mal gehört habe. So lautete das Lied:
»Hoffnung, Hoffnung, Dämmerlicht in Nächten,
Willig folg' ich deinem sanften Strahl.
Will die Welt den armen Fremdling ächten,
Bin ich ihr, und ist sie mir nur Qual,
Muß ich fremd im Lande Mesech sein,
Kehr' ich abends doch in Zoar ein.«
Das Lied erfüllte mich mit hoher Verwunderung. Die ungewohnte Sprache, die es führte, sein Inhalt mit dem unfaßlichen Gegenstand – die Marienbilder in Wyhlen hatten doch immer eine Frau zum Mittelpunkt gehabt, wenn auch eine sehr hochgestellte –, die fremden Namen Mesech und Zoar gaben mir sehr zu denken. Auch ging eine gewisse Trauer von ihm aus, eine milde Betrübnis, die mich veranlaßte, mich aufrichtig zu freuen, daß der Mann abends doch noch in Zoar einkehren konnte. Die Melodie schien mir gewiß schön, aber eine sozusagen aufsehenerregende Entsagung ging von ihr aus, irgendein geheimnisvolles Abgeschlossenhaben mit der Welt, so daß ich der Sache immer weniger traute, und während der zweiten Strophe fing ich vor Seelenbekümmernis und Beklommenheit an zu heulen. Das Heimweh packte mich am Kragen, und schließlich, als das Lied zu Ende war, plärrte ich allein weiter. Erst gab es eine Stille um mich. Dann fragte der Herr Vater, der auch nicht mehr gut sehen konnte, was da sei; alles hörte ich wie im Traum. Man sagte ihm irgend etwas. In der Zeit war der Aufseher um mich bemüht, aber vor lauter Angst würgte ich die Tränen hinunter und bestrebte mich schon von selber nach einer anständigen und der Örtlichkeit und Stunde angemessenen Aufführung.
Durch mich ungestört entwickelte sich die Andacht dann weiter. Es wurde eine schreckende und seltsame Sache von einem Tier mit vier Köpfen und von der Hure von Babylon vorgelesen, deren schädlichem Wandel ich tiefbetrübt und ab und zu noch leise aufschluchzend von fern folgte. Nebenher erfuhr ich, daß die angeführten Gestalten die Feinde Christi und seiner Kirche, vereint in der schlimmen, fallenstellerischen Welt, zu bedeuten hätten, die jeder in seiner Person zu bekämpfen verpflichtet sei. Den Anfang müsse man dazu aber im eigenen Herzen machen, wo diese Welt ihre Wurzeln habe in der Gestalt von Lüsten, bösen Gedanken, Widersetzlichkeit gegen das Gute und Untreue aller Art, durch welche der Erlöser täglich und stündlich neu gekreuzigt werde. Wollten wir ihm also Martern ersparen, so müßten wir die Bestien mit den vier Köpfen und die Person von Babylon in uns vernichten. Nachher wurde durch den Herrn Vater ein Gebet gesprochen, das man stehend anhörte, und worin er Gott und Christus für uns alle bat, uns in diesem Kampf beizustehen und anzuleiten.
Damit war diese kummervolle halbe Stunde auch zu ihrem Beschluß gekommen. Niedergebeugt und reuevoll über meine sündhafte Unzulänglichkeit, von der ich bisher nicht einmal etwas geahnt hatte, verließ ich am Schwanz des Zuges als Allerletzter den Speisesaal und erstieg über vier breite, weite Treppen und ebensolche Korridore das vierte Stockwerk, in welchem unsere Schlafsäle lagen. Die ältesten Jungen zweigten sich rechts ab. Die mittelalterlichen nahmen die Tür des ersten Saales links. Wir gingen durch die zweite. Zuerst kam noch ein Geschäft, das nach der nicht besonders steifen Abendsuppe zweckmäßig war. Dreißig Jungen drückten und schoben sich in allen Zuständen der Bekleidung wie die Bienen vor dem Stock vor der einen Tür herum, und der Bruder, der die Schlafaufsicht hatte, mußte viel Geduld aufwenden, bis der Letzte fertig war.
Mir hatte man inzwischen ein Bett an der Wand angewiesen, das aus einem Strohsack, zwei Leintüchern, einer Wolldecke und einem Federkissen bestand. In diesem Saal waren nicht nur die Kleinsten, sondern auch die unverbesserlichen Bettnässer zusammengebracht. In den anderen Sälen gab es Spreusäcke. Sehr verloren und verwaist machte ich alle Gebräuche mit, bis ich im Bett lag, einen unbekannten Jungen rechts und einen links. Durch zwei große, vorhanglose Fenster sah der Sternenhimmel hoch herein, und wir lagen ohnehin schon hoch, dazu in einem großen, hohen, kalten Saal mit weiß gestrichenen Wänden und einer eisernen Säule in der Mitte, in dem jedes Husten furchtbar unwiderruflich und öffentlich klang. Als das Licht aus und der Bruder gegangen war, und mir so recht klar wurde, daß ich nicht bei der blonden Tante im Bett schlief, und daß nun überhaupt eine ganz neue Zeit begonnen hatte, fing ich wieder an zu heulen. Um niemand damit zu ärgern oder stören, verkroch ich mich unter die Decke, denn es lagen einige größere Jungen da; wenn sie auch Bettnässer waren, so hatte ich jetzt im Dunkeln doch Angst vor ihnen. Indessen nahm mich unversehens der Schlaf auf.
Um zehn Uhr, als der Bruder kam, um sich ebenfalls schlafen zu legen wurden die Kleinen und die Bettnässer geweckt, um noch einmal den Weg zu jener Tür anzutreten. Mich hätte man ruhig liegenlassen können, denn vor Aufregung und Müdigkeit hatte ich mich bereits erleichtert. Es war eine große Schande, doch schlaftrunken, wie ich war, vermochte ich ihren Umfang nicht zu ermessen. Schlaftrunken war ich nicht allein. In aller Traurigkeit sah ich einen Jungen, der im Halbschlaf im Gang draußen die Schublade einer Kommode herausgezogen hatte und mit aufgehobenem Hemd in vollkommen berechtigter Haltung davor stand. Als man ihn abrettete, war bereits Unheil geschehen, denn in der Schublade lag frische Wäsche. Später sah ich dann noch auf diesem Weg eine alte Feindschaft austragen. An das aufgedeckte Bett eines Jungen, der hinausgegangen war, stellte sich wie der Feind im Gleichnis ein anderer, der sich diesen Weg sparte. Um das ganz zu verstehen, muß man wissen, daß Bettnässen bestraft wurde.
Mitten in der Nacht geschah es mir, daß ich plötzlich, von einer starken Maulschelle heimgesucht, erwachte. Ich hatte meine Hingegebenheit an den Schlaf durch vertrauensvolles Schnarchen ausgedrückt, und richtig war das von einem Großen übel aufgenommen worden. In der Folge heulte ich die Nacht zum zweitenmal. Ich näßte auch das Bett zum zweitenmal, kurz, es war eine traurige und unabsehbare Verlegenheit mit mir, und am nächsten Morgen nach fünf Uhr, als wir aufgestanden waren, besaß ich auch die Begründungen für die gestern nur dunkel empfundene schwere Fehlbarkeit meiner kleinen Person. Ich begriff, daß es nicht schwer ist, unter so leichtsinnigen Umständen, wie den gestern von mir verlassenen, als brauchbarer Mensch zu erscheinen; was in einem Kerlchen steckt, ging mir nun auf, das zeigte sich unverweilt unter so strengen, verwickelten Verhältnissen wie den hier vorgefundenen, und mit schwerem Herzen begann ich diesen ersten vollen Tag in der Armenkinder- und Schullehreranstalt Demutt. Übrigens wurde mir gesagt, daß ich wegen des Bettnässens an die Wand zu stehen hätte. Vier andere wurden zu derselben Strafe verurteilt.
Die Tagwacht begann mit einem Lied der Brüder, die sich zu diesem Zweck um fünf Uhr vor den Gemächern des Herrn Vaters versammelten. Jenen Morgen sangen sie: »Wie groß ist des Allmächtigen Güte!«, und zwar benutzten sie nicht dazu die getragene Choralmelodie, sondern eine mehr hüpfende und kurzweilig verschlungene, mit Wiederholungen und Ausladungen, die einem sonst gut hätte gefallen können, wenn sie einen nicht so früh und unter so unvorteilhaften Begleiterscheinungen aus dem Bett getrieben hätte. Nun galt es zudem, sich möglichst rasch anziehen und die Betten machen, damit man vielleicht vor dem zweiten Saal drunten an den Brunnen kam.
Es dämmerte eben draußen. Die letzten Sterne sahen noch durch die geöffneten Fenster, durch die jetzt eine sehr frische Luft hereinströmte. Mich fror, da ich bei weitem nicht ausgeschlafen war. Dazu ängstigte mich diese lautlose Eile, in der ich nichts zu tun hatte. Meinen Strohsack hatte man im Sturmschritt nach dem Estrich geschleppt, um ihn dort auszutrocknen; so konnte auch mein Bett nicht gemacht werden. Inzwischen wurde ich meinem linken Nachbarn zugewiesen, um dies bei ihm zu lernen. Man mußte mit einigen Griffen das Stroh aufschütteln oder aufwühlen, und das übrige ergab sich von selbst. Schwierig war es nur, die Ecken der Wolldecke vorschriftsmäßig unten umzuschlagen. Schon standen die anderen, die alle fertig waren, ungeduldig draußen im Gang, aber als ich mit meinem Lehrmeister anrückte, welcher der Versuchung, sich ein wenig wichtig zu machen, nicht widerstanden hatte, zog eben die Belegschaft des zweiten Saales wie ein Kometenschweif ab. Alles fiel nun bei uns erbost über meinen Lehrmeister her. Der aber lehnte Vorwürfe jeder Art ab. So etwas Dummes und Ungeschicktes wie mich hätte er noch gar nicht erlebt, und es werde Mühe kosten, mich zu einem richtigen Demutter Jungen zu machen; ich müsse wahrscheinlich überhaupt einmal zuerst ordentlich in einem Winkel abgeschwartet werden, denn frech sei ich auch. Von dieser Abschwartung bekam ich auf dem Weg zum Brunnen in der Form von Rippenstößen gleich die ersten Lieferungen. Ich brauche nicht zu sagen, daß ich zu der um mehrere Jahre älteren Respektsperson kaum ein Wort zu sagen gewagt, und ihren Handgriffen mit stummer Verehrung zugesehen hatte. Dagegen vermutete ich nun, daß er auch der Vater der nächtlichen Maulschellen sei, und in der Folge grübelte ich still und betroffen darüber nach, womit ich ihn beleidigt haben, und was ich ihm von meinen Sachen schenken könnte, um ihn wieder zu versöhnen.
In der Mitte des Schloßhofes stand ein alter Brunnen, in dessen Trog die ganze Bubengesellschaft die Morgenwäsche vornahm. Seife gab es dabei nicht, und nur drei Handtücher für alle drei Säle. Wer zuerst kam, wurde trocken. Die Kämme gingen ebenfalls von Hand zu Hand samt den Läusen darin, wie sich von Zeit zu Zeit herausstellte. Neben dem Brunnen stand groß und feierlich ein Kreis von sehr alten Kastanien. Gegenüber dem Schloß zog sich mit sechs großen, weiten Bogen der Wagenschuppen. Weiterhin nach links setzte sich die Mauer fort. Auf der anderen Seite kam zuerst ebenfalls ein Stück Mauer, dann das Torwärterhäuschen und das Tor mit dem Turmgebäude, der massive Stall und eine große, machtvolle Scheune aus alter Zeit. Alles lag geheimnisvoll im ersten Morgenlicht, das an den bejahrten Mauern silbergrau auf und nieder spielte. Wandte ich mich gegen den Rhein, so erhob sich dort ein gewaltiger viereckiger Turm mit einem Storchennest darauf. Anstaltswärts schloß sich die Mühle an, dann das katholische Pfarrhaus, das durch ein Mäuerchen mit dem alten Teil des Schlosses verbunden war. In den Kastanien sangen die Vögel. Vor dem hohen, langen Schloßgebäude waren zwei Schmuckanlagen angebracht mit Flieder, Goldregen und Akazien; dorther hörte ich eine Amsel. Ein Trupp ganz weißer, leichter Frühwolken zog hellbelichtet herüber, und eben traf der erste Sonnenstrahl den Waldrand über der Kuppe des Dinkelbergs. Als alles fertig war und wir nach den Lehrsälen hinaufzogen, war ich vor Verlassenheitsgefühl und auch vor Hören und Sehen nicht dazu gekommen, mich zu waschen. Schließlich war für mich wohl Platz geworden, aber ich hatte nicht gewagt, die Weltgeschichte mit meiner unbedeutenden Person noch einmal aufzuhalten. Ich begann den Tag aus lauter Höflichkeit ungewaschen.
Man stolperte hier wirklich von einem Riesensaal in den anderen. Wir alle füllten nur die Hälfte von dem Raum, in welchen wir nun kamen. Den Charakter kannte ich schon; es war ein Schulzimmer. Vorn stand ein Katheder. An den Wänden hingen Karten. Der letzte Platz von den zehn doppelten Bankreihen war der meine. Der älteste Junge führte die Aufsicht. Die Zeit gehörte den Schularbeiten. Die einen schrieben Aufsätze, die anderen rechneten. Welche zeichneten; viele lasen. Wer fertig war, tat, was er wollte, nahm seine Markensammlung vor oder vertiefte sich in sein Buch aus der Anstaltsbibliothek. Es war auch erlaubt, Handel zu treiben und leise zu plaudern. Um sieben Uhr erklang die schon bekannte Hausglocke zur Morgensuppe, an welche man unter demselben Zeremoniell gelangte, wie am Abend vorher zur Hafersuppe, bloß daß nicht vorher gesungen, sondern nur gebetet wurde. Mir selber, als ich hungrig nach zwei Stunden Nüchternheit stracks nach meinem Platz strebte, machte man klar, daß ich zuerst an die Wand zu stehen hätte.
Diese »Wand« war ein bestimmtes Mauerstück zwischen dem ersten und dem zweiten Fenster, das man zum Prangerstehen im Angesicht der ganzen Anstaltsgemeinde ausersehen hatte. Außer mir standen da vier aus meinem Schlafsaal und zwei aus dem zweiten, lauter ehrliche Bettnässer, bis auf einen, der sich sonst etwas hatte zuschulden kommen lassen. Da konnten wir eine Zeitlang stehen und zusehen, wie die anderen aßen, doch war es eigentlich guter Ton, den Kopf zu senken, da wir ja keineswegs zur ehrenvollen Auszeichnung dastanden. Nachdem die anderen, denen nichts passiert war, mit dem ersten Teller zu Rand gekommen waren, wurden wir Mann um Mann zum Herrn Vater gerufen, um zu sagen, was wir verbrochen hätten. Je nach der Aufmerksamkeit, die man uns schenkte, oder nach der Stimmung, in welcher der Herr Vater sich befand, kamen dann die Größeren zum zweiten Teller Suppe noch zurecht oder zu spät, und die Spannung darauf bildete den eigentlichen Unterhaltungsgegenstand der Bußübung. Ich meinerseits begriff bereits, daß dieser zweite Teller als Möglichkeit für mich vorläufig nicht existierte, und es handelte sich für mich lediglich darum, ob ich meinen einzigen lau oder kalt bekam. Manchmal standen auch Mädchen an der Wand, aber nie wegen solcher Bettsünden, und bis sie dazu kamen, andere zu begehen, waren sie längst nicht mehr in der Anstalt.
Aus dem Speisesaal ging es, abermals im großen Umzug, nach dem Andachtsaal, der von allen Sälen der größte war, denn er faßte die ganze Hausgemeinde, dazu noch eine Orgel und Platz für auswärtige Andächtige, abgesehen vom Katheder, der hier ein feierlicher Aufbau war. Gleich am ersten Tag, an welchem ich den Herrn Vater dort hinaustragen sah, ereignete sich ein Zwischenfall. Einer der starken Brüder, die ihn trugen, muß wohl gestolpert sein, und es bestand einen flüchtigen Moment die Gefahr, daß er mit dem Gelähmten zu Fall kam. Der angstvolle Schrei, den der Gichtbrüchige tat, gab sozusagen die Vorzeichnung an, unter welcher ich ihn künftig betrachtete. Es war etwas darin, das mich reizte, mich gegen ihn aufzulehnen. Der schwere, unbewegliche Mann hatte es nicht dahin gebracht, obwohl er freundlich mit mir sprach, mir verständlich zu sein. Ich beunruhigte mich über seinen Blick, den ich für gefährlich und falsch hielt, über seine weichlichen, etwas hängenden Wangen und über die Art, wie er beim Essen mit seinem künstlichen Gebiß schnell und mit sichtbarem Genuß kaute und sich gleich wieder geben ließ, sobald er mit einem Mundvoll fertig war. Zu alldem sprach ich ihm sozusagen nicht die Berechtigung zu. Bei unserem alten Pfarrherrn in Wyhlen hatte das ganze Wesen in vertrauenerweckender Weise übereingestimmt, ob er vor dem Altar stand oder auf der Straße ging. Es war mir nie eingefallen, ihn zu kritisieren. Mit diesem säftevollen, begehrlichen Leib und dem frommen, meiner Meinung nach hochmütigen Geist setzte ich mich jedoch vom ersten Augenblick an auseinander und blieb auf lange hinaus unverbrüchlich dabei.
Als er glücklich saß, bestieg der andere alte Mann, den man Herr Johannes nannte, und der sein Bruder war, den Orgelbock, und ein Junge trat an die Bälge. Ein kurzes, leises Vorspiel leitete zum Choral über, dessen Nummer vorbestimmt war, und von dem drei Strophen gesungen wurden. Es traf den Gellertschen Gesang: »Geh aus, mein Herz, und suche Freud in dieser schönen Sommerzeit an deines Gottes Gaben!« – ein Lied, das ich mit diesem Tag für alle Zeiten liebgewann. »Schau an der schönen Gärten Zier«, hieß es da erfreulich weiter, »und siehe, wie sie mir und dir sich ausgesckmücket haben!« Dann: »Die Bäume stehen voller Laub, das Erdreich decket seinen Staub mit einem grünen Kleide, Narzissen und die Tulipan, sie ziehen sich viel schöner an als Salomos Geschmeide.« Am stärksten ergriffen mich die Ausdrücke »Sommerzeit«, »decket seinen Staub«, »Tulipan« und »Salomos Geschmeide«, lauter volle, reiche Klänge, die gesungen etwas Endgültiges, sozusagen feierlich Zugesagtes erhielten. Das Lied liegt an der glücklichen Wegscheide des Protestantismus zur Weltfrömmigkeit und damit zur eigentlichen neuen Religion der Menschheit. Hier leitete es zum Gebet über, das mir lang, ernst und schwer erschien. Ich hatte noch nie so beten gehört, wußte überhaupt nicht, daß man der Gottheit in dieser Weise sozusagen auf den Leib rücken kann, und ich folgte der Auseinandersetzung mit Furcht.
Auch der Text der Andacht war laufend; heute las man die Geschichte von David und Jonathan und dem dunklen, unglücklichen König Saul, den Samuel verflucht hat. Der Abschnitt wurde von der Gemeinde vorgetragen; jeder las der Reihe nach eine Strophe. Es war schon nun beinahe zuviel des Neuen, das auf mich eindrang. Der Herr Vater nahm in der Betrachtung darauf Bezug, daß Saul dem Propheten nicht gehorcht und von den Kindern der Heiden welche übriggelassen, auch einen König, wie man hörte, geschont haben sollte, anstatt ihn nach dem Befehl zu töten. Aber ich konnte mich weder damals noch zu irgendeiner späteren Zeit dazu hergeben, die Gerechtigkeit dieser Strafe anzuerkennen. Ich war begierig, diesen geschonten König, den dann der Prophet selber umbrachte, näher kennenzulernen; sicher war er ein schöner und aufrechter Mann gewesen, mit dem Saul innerlich sympathisierte. Die Geschichte um Saul und Jonathan herum ist mir das schmerzlichste Erlebnis der Urgeschichte geblieben, und nirgends fand ich sonst mit wenig Strichen so unerbittlich das Recht des Glücklicheren eingezeichnet, den Sieg der angenehmen, modernen Natur über die schwere mythische so selbstverständlich gefeiert. Siegfried geht zugrunde, und dann trifft in der deutschen Sage den grimmen Saul-Hagen das gerechte Verhängnis. Der andere Siegfried-David der Juden, Jesus Christus, erleidet den Tod am Kreuz und wird überhaupt nicht gerächt. Wogegen diesem David alles unverdient zufällt, ein König und sein hochsinniger Sohn für ihn untergehen, ohne daß ein faßbarer Grund dafür zu erkennen ist, und nachher noch eine Menge Leute seinetwegen daran glauben müssen, zum Teil wegen königlicher Vergehungen, gegen die Sauls Fehler nichts sind als menschliche Anständigkeiten. Wider diese Moral lehnte ich mich nach der ersten Bekanntschaft von ganzem Herzen auf, und was uns nun der Herr Vater Gutes über den Hochkömmling und Schlechtes über Saul sagte, ich glaubte es nicht, ging nicht auf dies Eis, verwahrte mich innerlich gegen ein Schicksal, das den einen zum Glück bestimmt und den anderen zum Unglück, noch bevor der erste Zeit gehabt hat, alle seine guten Seiten zu entwickeln, und der andere, seine Laster und Schäbigkeiten kennen zu lehren. Verstockt und schwer getrübt wohnte ich der Ermahnung bei, immer Gottes Willen zu tun, um zu Glück und Ansehen zu kommen. Mir ahnte, daß da noch größere und furchtbarere Mächte walteten als dieser Gott, der über die Taten der Leute Buch führt; ich hatte den ersten beunruhigenden Begriff vom Schicksal bekommen, und in wem diese Stimme einmal erwacht ist, in dem kommt sie nicht mehr zum Schweigen.
Die Andacht schloß ein Gebet und das Vaterunser. Auch mit dem Vaterunser, das ich in Wyhlen schon so oft beten hören und selber mitgebetet hatte, machte ich unerwartete Erlebnisse. In Wyhlen wurde es gesprochen gewissermaßen als Abgabe an die Gottheit, wurde als vertrauensvolle Ehrenbezeigung nach gegenseitiger Verabredung einigermaßen rasch, wenn auch andächtig abgemacht. Hier aber bekam, langsam und mit Pausen gesprochen, jede Bitte einen schweren Sinn, atmete gleichsam die Unsicherheit des Daseins im Fleisch, hallte innerlich wider von der großen Gewissensverantwortung der bewußten Seele seit Christi Martergang und seit den Taten Martin Luthers, und noch nie hatte ich mich so ärmlich gefühlt wie hier beim Aussprechen der Bitte: »Gib uns heute unser täglich Brot!« Das Voranstellen des Verlangens: »Gib!« traf mich wie eine schmerzhafte Berührung. In der katholischen Fassung war das Wort in der Satzumstellung: »Unser täglich Brot gib uns heute!« wohltätig und großmütig verborgen. Auch enthielt hier die Schlußrede: »Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit!« eine fühlbare Niederwerfung des Selbstvertrauens, eine befremdende Fernrückung und unerreichbare Hochstellung des angerufenen Vaters, angesichts deren mir für den anderen Teil nichts zu bleiben schien als eine bettelhafte Vereinsamung hier drunten, ein kümmerliches Armenwesen, eben eine Armenkinder- und Schullehreranstalt.
Diesen Charakter recht tief und innerlich zu begreifen und begreifen zu lassen, war hier Stimmung und Richtung der ganzen Anlage. Ihn nicht zu fühlen, ahnungslos daran vorbeizukommen, war unmöglich, denn jede Minute des Tages, jede Gebärde, jedes Glockenzeichen erinnerte daran. Einige Tage später hörte ich zum erstenmal das Wort aus dem Mund des Begründers der Anstalt, Christian Heinrich Cranach, dem Vater des jetzigen Leiters: »In Demutt muß man sich demütigen mii zwei ›t‹!« Die Zuflucht in diesem Saal der traurigen Hinweise und der bitteren Lehren wurde mir vom ersten Tag an die kleine Orgel mit ihren freundlichen Pfeifen, ihrem Bock, aus dem Herr Johannes unten die großen Notenbücher herausholte, ihrem Pedal, auf dem er mit den Füßen spielte, ihren Registern und altersgelben Tasten, und dem traulichen Gesang ihrer Brust. Sehr beneidete ich den Jungen, der die Bälge treten durfte, und ich wünschte mir von Herzen, dies auch einmal zu dürfen, ein Wunsch, der mir späterhin reichlich erfüllt wurde. Auch die nicht große, aber feste und stille Gestalt des Herrn Johannes mit seinem angegrauten, kurzen Bart, den grauen, scharfen Augen hinter der Brille, den kurzen, geruhigen Gliedern und dem runden Bauch wurde mir von dieser Morgenstunde an lieb und vertraut, wenn ich auch etwas Angst vor ihm hatte und ihn für streng hielt, aber er schien mir menschlich einfacher als sein höhergestellter Bruder, verständlicher und im Grunde gütiger. Ich fand gleich etwas dabei, daß er Johannes hieß wie ich. Außerdem sah ich ihn dafür an, weil er immer die gleiche ruhige, unabhängige Haltung zeigte, daß er über manches seine eigenen Gedanken hatte.
Nach vollbrachter Morgenandacht ging die Hausgemeinde nach verschiedenen Richtungen zu ihren Tagesgeschäften davon. Der Großteil verließ den Saal durch die Tür, durch die alle hereingekommen waren; wir von der sogenannten Arbeitstube, daher Arbeitstübler genannt, nahmen die gegenüberliegende Tür bei der Orgel, die uns über den schon erwähnten Zementboden an der Schuhmacherei vorbei zu unserer Hausindustrie führte. Man legte die Schürzen um; auch ich bekam heute eine und wurde bei den Haarzupfern eingereiht. Man setzte mir ein Häufchen Schweinehaar vor, das schmutzig aussah und harzig roch und sich in den Händen widerwärtig kratzend anfühlte, und die Nachbarn unterwiesen mich in der einschlägigen Hantierung. Es war mauerkalt in dem Raum und roch noch nach dem Spritzen vom vorigen Abend und nach alten morschen Dielen, aber zum Trost schien durch die Spitzbogenfenster und durch die tiefen Nischen herein die Morgensonne, wenn sie auch nicht bis in unseren dunklen Winkel drang. Wohl als besonderes Exerzitium war heute von oben Schweigegebot ausgegeben worden: bloß meine Unterweiser durften mich leise anleiten. Wer sonst beim Sprechen überführt wurde, war zu Mittag mit der Strafe des Wandstehens bedroht. Ich saß mit dem Rücken gegen die Erkerfenster und durfte mich nicht umdrehen, obwohl ich beinahe körperlich die Fülle von wunderbarem Licht fühlte, das draußen über der Rheinbreite waltete und den ganzen weiten Himmelsraum verklärte. Mühsam und widerstrebend fing ich an zu zupfen. Wenn ich ein Büschel von dem harzigen Haar herauszog, so überlief mich eine Gänsehaut und taten mir die Zähne weh, wie wenn man auf Stein oder Eisen kratzt. Immer wieder mußte ich angewiesen werden zu arbeiten, und jeden Augenblick bedeutete man mir durch ein »Ssst!«, daß ich hier nicht sprechen durfte. Außerdem waren wir zu Mittag mit der Waage bedroht. Wer nicht seine drei oder vier Lot vor sich gebracht hatte, mußte ebenfalls an die Wand stehen.
Inzwischen fragte ich mich, auf welchen Wiesen mein Großvater seht wohl mausen werde, grämte ich mich um die Lösung der Frage, warum man mich weggegeben hatte, und warum der Basler Pfarrherr denn so viel mächtiger sei als mein Großvater, dessen Tochter doch meine Mutter war, und wenn ich jetzt auch nicht wieder zu heulen anfing, so war das keine Erleichterung, sondern eine Erschwerung, weil der Weinende des Begreifens enthoben ist. Das Herz schlug mir langsam und wie unter Gewichten; es wurde mir zum Uhrwerk dieses langen Vormittags. Bisher war ich eine innerlich beschwingte, munter vorweg lebende zeitlose Kreatur gewesen, die bloß vom Raum wußte, soweit sie ihn leiblich als Umwelt oder phantasiemäßig als Königreich Württemberg oder Reichsland Elsaß-Lothringen handhabte. Hier lernte ich zum erstenmal fühlen, was die Zeit ist. Ich glaube heute, daß die Zeit, die in den naiven, mythischen Raum der Alten kam, der währe Sündenfall ist. Sobald die Seele, das Ur-Ich, die Zeit zu fühlen beginnt, ist es mit dem reinen Glück vorbei, hat sich die »Erkenntnis« zerrüttend unter die Beziehungen der angeborenen Welt gemischt, beginnen die Auseinandersetzungen, die Probleme, die Prozesse.
Zum erstenmal in meinem Leben fühlte ich Langeweile, und hatte ich Zeit, mich einer Sehnsucht hinzugeben. Daß sie unerfüllbar war, und ich es wußte, schwächte ihre Kraft nicht ab, sondern steigerte sie zur Gewalt, zur Bangigkeit, zur Angst. Ich hätte aufstehen, meine Schürze abreißen und davonlaufen mögen, aber auch stärkere Temperamente als ich haben das nicht getan. Die Zeit war hier plötzlich unabsehbar, entmutigend lang, aber der Raum unter der gewölbten Decke mit den Ungeheuern in den Treffpunkten der Rippen niederdrückend und unentrinnbar eng geworden. Die Welt draußen, Berg und Tal, Bach und Waldsaum, Sonne, Mond und Sterne, gehörten nicht mehr mir oder nur noch »insofern«. Sie waren in feste, streng bedingte Beziehungen zu mir gebracht, die ungestraft nicht überschritten werden konnten. Ich war grenzenlos traurig, verwirrt und eingeschüchtert.
Um zehn Uhr ging ein Junge das Zwischenbrot holen. Er kam zurück mit einem kleinen, geflochtenen Körbchen, in welchem so viel Brotscheiben lagen, als Köpfe hier waren. Obenauf lag der Anteil des Aufsehers, der mir beachtenswert groß und ansehnlich schien. Dann kamen unsere Stückchen; die waren, wie man nicht anders sagen kann, nur klein und dünn. Einige von uns leisteten sich den kümmerlichen Humor, einander gegenseitig dadurch zu betrachten, denn das Brot in jener Gegend hat dazu noch Hefenblasen und Löcher wie der Emmentaler Käse. Trotzdem bedeutete diese Zehnuhrbrotpause eine sehnsüchtig erwartete Unterbrechung. So lange war es erlaubt, sich zu unterhalten, durfte man von den Bänken aufstehen und in den Erker treten, um auf den Rhein und darüber hinweg aus den Schweizer Wald zu sehen, und sogar schnell ein Augenmaß von den dahinterliegenden Höhenzügen zu nehmen. Dann ertönte der Ruf: »An die Arbeit!«, und zwei Minuten später war alles wieder gewesen.
Um halb zwölf erschien die Frau Mutter und rückte die gefürchtete Waage auf. Die Stimmung fiel vollends herunter. Nachdem schon die letzte halbe Stunde beklommene Lautlosigkeit und ein banger Fleiß geherrscht hatten, war für manche der Vormittag doch noch zu kurz gewesen. Einige unverbrüchliche Tüchtlinge sahen zwar der Prüfung ruhig und braven Angesichts entgegen, aber die meisten waren ungewiß, und einige waren nur allzu sicher nach der anderen Richtung. Die irrten sich auch nicht. Es wurden im ganzen fünf zum Wandstehen verurteilt, einer wegen Schwatzens, die anderen wegen Faulheit. Es ist nötig, zu sagen, daß man sich daranhalten mußte, um das vorgeschriebene Gewicht zu erreichen.
Viertel vor zwölf hieß es wieder: »Aufstecken!« Die Schürzen wurden weggehängt, jede an ihren Nagel mit dem Namenschild. Wie gestern ging es im Zug nach dem Speisesaal. Die Gerechten nahmen ihre Plätze ein, die anderen hatten sich nach der Wand zu verfügen. Für mich bestand noch Schonzeit. Die Arbeitstübler waren stets die ersten am Tisch. Die Gärtner und die Feldarbeiter kamen großartig später. Die rochen nach frischer Luft, hatten rote Wangen und verbrannte Hälse, und das Gewagte, Kühnliche ihres ganzen Wurfes bewährte sich auch bei Tage betrachtet. Unter uns steckte viel blasses, verhocktes Kleinzeug, vorwitziges Stubenblut, affengescheite Engbrüstigkeit. Das Mittagessen wurde mit einem feierlichen gemeinsamen Lied von drei Strophen eingeleitet, dessen Anfang lautete: »Versammelt sind wir alle hier um deine milden Gaben!« Die heutige milde Gabe bestand in einer klaren Wassersuppe, weißen Bohnen ohne Salz und Schmalz, und für jeden zwei Kartoffeln, die schon auf seinem Teller lagen. Mir wurde wind und weh, zumal ich von meinen zwei Kartoffeln eine grün und die andere halb faul fand; meine Nachbarn hatten beinahe unter meinen Augen schnell eine wilde Tauscherei an meinem Platz vollzogen. Dies alles stand zu meinem Hunger und zu meiner Traurigkeit in gar keinem Verhältnis, und beinah fing ich wieder an zu heulen. Auch die Bohnen reichten nicht zum zweitenmal zu uns herunter. Das Essen dauerte für mich daher nicht lange. Desto länger, stellte ich fest, aß der Herr Vater. Für ihn gab es ganz andere Dinge, Speck zu den weißen Bohnen, und die Bohnen schienen mir einen Glanz zu haben, der nicht von unserer Welt stammte, denn er sah dringlich nach Fett aus; dazu schien es ihm so wunderbar zu schmecken, daß ich immer wieder wegsehen mußte. Der Knecht Siegrist dagegen aß wie ein verdienter Wann mit gesammeltem Ernst. Auch für ihn gab es Speck und geschmälzte Bohnen, aber von ihm hatte ich noch keine Vermahnung und auch keine Predigt gehört, und zudem hatte ich einen gesunden Begriff davon, daß der Arbeiter seines Lohnes wert ist. Das Mahl wurde mit dem üblichen Gescharre der siebzig Kinderlöffel und einem Lobgesang abgeschlossen. Die Uhr im Saal zeigte halb ein Uhr durch. Um ein Uhr sollte der Schulunterricht beginnen. Ich sagte mir, daß da wenig Freizeit herauskommen werde.
Es war nun erlaubt, sich im Freien zu tummeln. Welche trieben Gesellschaftspiele, Ballschlagen, Verstecken, andere waren in ihren kleinen Gärten beschäftigt, noch andere drückten sich sonstwie herum. Die Mädchen hatten erst noch das Geschirr abzuwaschen und erschienen später, um ihre gesitteten Ringelreihen abzusingen, an denen dort alles teilnehmen mußte. Die Spielplätze lagen streng getrennt. Die Mädchen bewegten sich vor dem Haus. Die Ballspiele der Knaben entwickelten sich in dem Raum zwischen dem Hauptgebäude, dem Tor und der Scheune. Die Gärten lagen an der Mauer links vom Wagenschuppen, der mit seinen feierlichen Bogen früher die Wandelhalle und der Übungsplatz der Ritter für Fechten und dergleichen gewesen war. Diesen Bezirk durfte keiner verlassen. Die Lehrer standen bei gutem Wetter vor dem Haus herum und unterhielten sich. Der Herr Vater saß in seinem Krankenwagen unter der Trauerweide auf der Mitte zwischen der Scheune und dem Wagenschuppen und ließ sich die Zeitung vorlesen. Die Brüder, die wieder nicht anders gespeist hatten als wir, waren zur Arbeit kommandiert, die sie im Garten, im Feld, in den Werkstätten abmachten. Kaum hatte man sich warm gespielt oder seinen Garten richtig betrachtet, so klingelte die Glocke. Schnell wurden am Brunnentrog die Hände gewaschen, die jeder abtrocknete, wie er konnte, am Taschentuch, an den Hosenbeinen, unter den Armen. Vor dem Hauptportal sammelte man sich.
Das Schloß war in seinem Hauptteil ein Renaissancebau. Links und rechts des Einganges trug je ein Riese das Giebelfeld des Portals. Diese Riesen bewunderte ich tief mit ihrem Mienenspiel, das Mühe und Leid ausdrückte, und das jeden Tag gleich war. Es war auch jeden Tag die gleiche unlustige Stunde, in welcher der Magen verdaute, das Leben hungrig aus der kaum wieder geschmeckten Freiheit und aus der Natur, der wahren Heimat des jungen Geschöpfes, gerissen wurde, um abermals einem Exerzitium und einem streng abgeschlossenen Raum zugeführt zu werden. Wieder teilte sich der Zug in drei Parteien. Die größeren Kinder, Knaben und Mädchen, zogen nach dem Saal, in dem wir Jungen uns heute früh allein aufgehalten hatten; die mittleren verschwanden durch die erste Tür links, die jüngsten nahm rechts ein Zimmer auf, in dem ein Klavier stand. Das war von allen Räumen, die ich bisher gesehen hatte, der kleinste und übersichtlichste; wir waren auch nicht mehr als zehn Knirpse darin. Nachdem wir ein bißchen gewartet hatten, kam die Jungfer Cranach, die jüngere Tochter des Herrn Vaters, um uns zu unterrichten. Hier heulte ich noch einmal; ich weiß nicht mehr, warum. Ich werde meine Wyhlener Kameraden und die dortigen Lerngewohnheiten vermißt haben. Die Jungfer Cranach war jung und schien mir hinlänglich hübsch, aber sie war mir zu vornehm, und ich hatte nun schon zuviel erlebt, um noch leicht zu glauben. Heiterkeit erregte ich in dieser Klasse mit dem Baselbieter »R«, das ganz vorn mit schwingender Zungenspitze herausgeschleudert wird, und dem eben dahin gehörigen »Ch«, das man wie das hebräische und türkisch-arabische tief hinten im Rachen raspelt. Beide hatte ich von meinem Vater geerbt.
Um vier Uhr läutete es wieder. Wir wurden zum Vesperbrot entlassen. Es gab eine Tasse Kornkaffee mit Milch, auf dem schon die Haut stand, als wir kamen. Welche Klassen zuerst fertig waren, kamen zuerst zu Tisch. Es wurde diesmal nicht gebetet. Jeder fing gleich an zu essen. Wer Glück hatte, konnte sein Stück Brot mit dem seines Nachbarn vertauschen, wenn es größer und der Nachbar noch nicht da war. Die älteren Jungen, die Gärtner und Feldarbeiter, gingen nun gleich zu ihren Meistern. Die Arbeitstübler genossen den Vorteil, noch eine halbe Stunde draußen spielen zu können, was sie auch nötig hatten; es war das wenigste, was man ihnen bewilligen konnte.
Noch ängstlicher als gestern und heute früh fiel mir dann der abgelegene dunkle Raum der Arbeitstube aufs Herz, das Gefangenenleben, das wir darin führten, die Zwangsarbeit, zu welcher wir angehalten wurden, und der langsame, sehnsuchtskranke Zerfall der Zeit. Außerdem hatte sich bereits im Rundlauf dieser vierundzwanzig Stunden ein stilles, gleichmäßiges Hungergefühl bei mir eingestellt, das mich die nächsten sieben Jahre nicht aufdringlich, aber unweigerlich begleitete.