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Der Mond war gerade hinter dem hohen Wald verschwunden, als der Schwarze Korsar sich wieder erhoben hatte, um die hartnäckige Jagd auf van Gould und sein Gefolge von neuem aufzunehmen. Er schien nicht eher ruhen zu wollen, bis er seinen Todfeind eingeholt hatte. Doch bald zwangen neue Hindernisse, den Gewaltmarsch nicht nur zu verlangsamen, sondern sogar aufzuhalten.
Sehr häufig stieß man auf Tümpel, in welchen sich alle Waldabfälle gesammelt hatten, dann wieder auf sumpfigen Boden mit Wasserlöchern. So mußte man Durchgänge suchen, große Umwege machen oder Pflanzen abschlagen, um Brücken herzustellen.
Seine Leute gaben sich die erdenklichste Mühe, doch waren sie schon von den langen, fast zehn Tage dauernden Märschen, den schlaflosen Nächten und der kärglichen Nahrung sehr erschöpft.
Bei Tagesanbruch mußten sie ihn um eine Ruhepause bitten, da sie sich kaum noch auf den Füßen halten konnten. Sie waren halb verhungert; Zwieback gab es nicht mehr, und Carmaux' Katze war schon seit fünfzehn Stunden verdaut.
Nun gingen sie auf die Suche nach Wild und Obstbäumen. Dieser sumpfige Wald jedoch schien nichts zu bieten. Man hörte weder Papageiengeschwätz noch Affengeheul, noch sah man irgendeine Pflanze, die eßbare Früchte bot.
Endlich war der Katalonier so glücklich, im Sumpfwasser eine Praira mit der Hand zu fangen, jedoch nicht ohne einen schweren Biß davonzutragen. Das sind in toten Gewässern in Überzahl vorkommende Fische mit scharfen Zähnen und schwarzem Rücken. Währenddessen versuchte Mokko einen anderen Fisch zu fangen, den Cascudo. Derselbe war ein Fuß lang und hatte ganz harte, oben schwarze und unten rötliche Schuppen.
Dieses magere Mahl, völlig unzureichend, um alle zu sättigen, war bald verschlungen. Nach einigen Ruhestunden machte man sich wieder auf den Weg durch den düsteren Wald, der kein Ende zu nehmen schien.
Die Flibustier versuchten, sich in südöstlicher Richtung zu halten, da sich an der äußersten Spitze des Maracaibosees die Festung von Gibraltar befand. Sie wurden jedoch durch die fortwährenden Sümpfe und schlammigen Strecken immer gezwungen, vom Wege abzuweichen.
So gingen sie bis Mittag, ohne eine Spur von den Flüchtlingen entdeckt oder einen Schrei oder Knall gehört zu haben. Gegen vier Uhr nachmittags fanden sie an den Ufern eines Baches die Reste eines Feuers, dessen Asche noch warm war.
War es von einem indianischen Jäger oder von den Flüchtlingen angezündet worden? Man sah keinerlei Fußspuren, da der Boden trocken und mit Blättern bedeckt war. Dennoch ermutigte diese Entdeckung die Verfolger.
Bei Beginn der Nacht mußten sie sich wieder ohne Abendessen hinlegen, da sie überhaupt nichts Eßbares gefunden hatten.
»Schockschwerenot-Himmeldonnerwetter!« rief Carmaux, der den Hunger zu stillen suchte, indem er einige Blätter mit süßlichem Geschmack kaute. »Wenn das so weitergeht, werden wir in einem Zustand in Gibraltar ankommen, daß man uns gleich ins Hospital bringen muß!«
Diese Nacht war die schlimmste von allen, die sie in den Wäldern des Maracaibosees zugebracht hatten. Außer vom Hunger wurden sie dazu noch von unzähligen Mückenschwärmen gepeinigt, so daß sie kaum für einige Minuten die Augen schließen konnten.
Als sie sich gegen Mittag des folgenden Tages wieder auf den Weg machten, waren sie müder als am Abend zuvor. Carmaux erklärte, daß er keine zwei Stunden mehr aushalten könnte, wenn er nicht zum mindesten eine Wildkatze zum Braten oder ein halbes Dutzend Kröten finden würde. Stiller würde einen am Spieß gebratenen Affen oder Papageien vorgezogen haben, aber sie fanden weder das eine noch das andere in dem verwünschten Walde.
So schleppten sie sich wieder vier Stunden weiter, immer dem Kapitän folgend, der übermenschliche Kräfte zu haben schien, als sie in geringer Entfernung einen Schuß hörten.
Der Schwarze Korsar blieb stehen.
»Endlich!« rief er erfreut aus und nahm seine Pistole zur Hand.
»Potztausend!« schrie Stiller. »Sie scheinen uns nahe zu sein.«.
»Hoffen wir, daß sie uns nun nicht mehr entkommen!« setzte Carmaux hinzu. »Wir binden sie wie eine Salami, damit wir ihnen nicht noch eine zweite Woche nachlaufen müssen!«
»Der Schuß ist keine halbe Meile von hier gefallen«, sagte der Katalonier.
»Wir wollen den Flüchtenden auflauern, so daß sie sich ergeben müssen, ohne daß ein blutiger Kampf entsteht. Es müssen sieben oder acht sein, während wir nur fünf sind und dazu matt und erschöpft!«
»Sie werden sicher nicht kräftiger sein als wir, aber dennoch nehme ich deinen Rat an. Wir überfallen sie plötzlich von hinten, und zwar so überraschend, daß sie zur Verteidigung keine Zeit mehr haben!«
Die Flibustier luden ihre Gewehre und Pistolen für den Fall, daß es doch zu einem Kampf kommen sollte; dann krochen sie durch die Sträucher, Wurzeln und tropischen Schlingpflanzen, indem sie sorgfältig Blätterrascheln und Zweigeknistern vermieden.
Da der sumpfige Wald jetzt ein Ende nahm, stießen sie wieder auf Bambus, Palmen jeder Art, Buchsbaum und Pflanzen mit riesengroßen Blättern, beladen mit Blüten und Früchten. Auch Papageien erblickten sie wieder und hörten in der Ferne das ohrenbetäubende Geschrei von Affen, was Carmaux wütend machte, weil er sie nicht schießen durfte.
»Ich werde später wieder zu Kräften kommen«, brummte er, »und dann esse ich zwölf Stunden hintereinander Wild.«
Der Schwarze Korsar hatte all die Strapazen und Entbehrungen, wie es schien, mit Leichtigkeit überwunden.
Plötzlich hielt er lauschend inne. Hinter einem kleinen Gebüsch hörte er deutlich zwei Männer sprechen.
»Diego«, sagte eine schwache Stimme, als ob sie am Erlöschen wäre, »nur einen Schluck Wasser, einen einzigen Schluck... bevor ich die Augen für immer schließe!«
»Ich kann doch nicht, Pedro«, antwortete eine andere, röchelnde Stimme. »Ich kann nicht!«
»Mit uns ist's aus ... Diese verdammten Indianer ... sie haben mich zu Tode verwundet!«
»Und ich habe Fieber ... das mich töten wird.«
»Wenn sie zurückkommen ... werden sie uns nicht mehr finden.« »Der See ist nah... und der Indianer weiß ... wo ein Kahn ist... Ah! Kommt da nicht jemand?«
Der Korsar drang in das Dickicht mit hochgehobener Pistole.
Dahinter lagen unter einem großen Baum zwei blasse, nur mit Lumpen bedeckte Soldaten. Als sie den bewaffneten Mann erblickten, rafften sie sich mit aller Kraft auf und wollten kniend nach ihren Gewehren greifen. Sie fielen aber sofort wieder um, da ihre Kräfte versagten.
»Wer sich rührt, ist des Todes!« rief der Kapitän drohend.
Einer der beiden Soldaten sagte traurig: »Ach, Caballero!... Ihr würdet nur Sterbende töten.«
In diesem Moment traten auch die andern in die Hecke. Als der Spanier die Soldaten erblickte, schrie er auf: »Pedro! ... Diego!...«
»Der Katalonier!« kam es von den Lippen der beiden.
»Ich bin's, Kameraden!«
»Still, still! Regt euch nicht auf!« sagte Ventimiglia. »Könnt ihr mir angeben, wo sich der Gouverneur befindet?«
»Er ist seit drei Stunden fort von hier!« antwortete Pedro.
»Ist er allein?«
»Mit einem bestochenen Indianer, der uns als Führer diente, und seinen zwei Offizieren. Der Indianer wollte ihm zu einem Kahn verhelfen.«
»Freunde«, rief der Schwarze Korsar. »Wir müssen weiter, wenn uns van Gould nicht entwischen soll!«
»Herr«, bat jetzt der Spanier, »wäre es nicht schlecht von mir, wenn ich meine armen Kameraden hier verließe? Der See ist nah, ich habe meine Aufgabe erfüllt. Ich würde meiner Rache entsagen, um diesen Unglücklichen zu helfen!« »Gut, du bist frei! Aber ich glaube, daß deine Hilfe hier unnütz sein wird«, fügte der Korsar leise hinzu.
»Vielleicht kann ich sie noch retten!«
»Ich lasse Mokko bei dir. Meine beiden Flibustier genügen!«
»In Gibraltar sehen wir uns wieder, Kapitän, ich verspreche es Euch!«
»Haben deine Kameraden noch Lebensmittel?«
»Ja, Zwieback, Herr!« antworteten die Soldaten.
»Und Milch!« Der Katalonier warf bei diesen Worten einen Blick auf den Baum, unter dem die beiden Verwundeten lagen.
Und sofort hatte er mit der Navaja einen tiefen Schnitt in den Stamm gemacht, der allerdings kein echter Milchbaum, sondern nur eine Massuranduba war. Man schätzte dieselbe ihres weißen, sehr nahrhaften Saftes wegen, der auch einen milchähnlichen Geschmack hat. Freilich darf man nicht allzu großen Gebrauch davon machen, da er schlimme Störungen verursachen kann. Der Katalonier füllte die leeren Flaschen der Flibustier, gab ihnen noch Gebäck aus dem Vorrat der Spanier mit und sagte: »Geht, Caballeros, sonst wird euch van Gould noch entschlüpfen!«
Der Schwarze Korsar wollte die drei Stunden Vorsprung, welche die Flüchtlinge hatten, durch schnellen Lauf einholen und das Ufer des Sees erreichen, bevor die Dunkelheit anbrach. Es war schon fünf Uhr nachmittags. Glücklicherweise lichtete der Wald sich immer mehr. Die Bäume waren nicht mehr mit Lianen verbunden, sondern standen in einzelnen Gruppen, so daß die Piraten geschwind einherschreiten konnten, ohne sich erst durch Abschneiden der Pflanzen Bahn brechen zu müssen.
Sie spürten bereits die Nähe des Sees. Die Luft wurde frischer und salzhaltiger. Auch sahen sie schon Wasservögel, zumeist Bernacles, die man in großer Anzahl an den Ufern des Maracaibogolfs findet.
Der Kapitän beschleunigte seinen Schritt.
So stellte er Carmaux und Stiller, die kaum noch weiterkonnten, auf eine harte Probe.
Um sieben Uhr, gerade als die Sonne hinter den Bergen verschwand, bemerkte er, daß seine Begleiter zurückblieben. Er bewilligte ihnen eine Ruhepause von einer Viertelstunde, in der sie ihre Flaschen leerten.
Der Kommandant jedoch gönnte sich keine Rast. Während Stiller und Carmaux ruhten, untersuchte er die Umgegend nach den Spuren der Flüchtlinge, aber vergebens.
»Weiter, Freunde, nehmt noch einmal eure Kraft zusammen!« sagte er, seine Gefährten aufmunternd. »Morgen könnt ihr nach Belieben ausruhen. Das Seeufer muß nahe sein!«
Sie nahmen den Marsch durch das Dickicht von neuem auf. Die Dunkelheit brach herein, und das Geheul von wilden Tieren ließ sich aus dem Innern des Waldes vernehmen. Da hörten sie plötzlich Wellen rauschen und sahen zwischen den Bäumen einen Feuerschein.
»Der Golf! Und jene Flamme drüben am Waldesrand zeigt das Lager der Flüchtlinge an!« schrie freudig der Korsar. »Auf! Nehmt die Waffen!«
Sie eilten auf das Feuer zu, waren aber bitter enttäuscht, als sie nicht den Feind selbst, sondern nur Spuren seines Aufenthalts fanden, Reste eines gebratenen Affen und eine zerbrochene Flasche.
»Zu spät!« rief Ventimiglia zähneknirschend. »Eilen wir ihnen nach! Sie können kaum an der Küste sein. Vielleicht in Kugelweite!« Die Waldung hörte plötzlich auf, und ein niedriger Strand wurde sichtbar, gegen dessen Sand die Wellen plätscherten.
Beim letzten Abendschimmer bemerkte Carmaux, wie ein Indianerkanu gen Süden, also in Richtung Gibraltar, in Eile das Weite suchte.
»Van Gould!« schrie der Schwarze Korsar. »Halt, oder du bist ein Feigling!«
Einer der vier Männer im Kanu erhob sich, und ein blitzartiger Schein ging von ihm aus. Die Flibustier hörten das Sausen einer Kugel, welche in einen nahestehenden Baum schlug.
»Ah! Verräter!« rief der Kapitän in höchster Wut. »Schießt auf ihn!«
Stiller und Carmaux befanden sich schon in kniender Stellung und legten ihre Gewehre an. Einen Augenblick danach widerhallten zwei Schüsse.
Ein Schrei ertönte, und man sah, wie jemand im Kanu zu Boden sank; das Boot entfernte sich schneller nach der Südküste zu und verschwand in der Dunkelheit, die, wie immer in diesen Gegenden, mit blitzartiger Geschwindigkeit eintrat.
Außer sich vor Zorn, lief der Korsar das Ufer entlang, in der Hoffnung, irgendeinen Kahn zu finden.
Plötzlich rief Carmaux: »Seht, Kapitän!«
Zwanzig Schritte entfernt, lag eine kleine Bucht, welche die Ebbe trocken gelassen hatte. Dort fanden sie ein Indianerkanu, das heißt einen ausgehöhlten Baumstamm.
Der Kommandant und seine beiden Begleiter hatten mit einem starken Stoß das Boot ins Wasser gestoßen.
»Sind Ruder dabei?« fragte er.
»Ja, Kapitän!«
»Also ihm nach!« »Muskeln anstrengen, Stiller!« schrie der Biskayer. »Im Rudern haben die Seeräuber keine Rivalen!«
»So! Eins ... zwei! ...« zählte der Hamburger, indem er sich über das Ruder beugte.
Der Kahn verließ die Bucht und schoß pfeilschnell über den Golf, den Spuren des Gouverneurs von Maracaibo nach.