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Fünfzig Schritte von ihnen entfernt stand am Rand eines Gehölzes ein prachtvolles, tigerähnliches Tier, in einer Haltung gleich den Katzen, wenn sie auf Mäusefang ausziehen. Es war fast zwei Meter lang, also wohl eines der größten seiner Art, mit einem über achtzig Zentimeter langen Schweif und einem kurzen, dicken Hals wie dem eines jungen Stiers. Seine kräftigen muskulösen Tatzen waren mit mächtigen Krallen versehen.
Sein dichtes, weiches Fell war von außerordentlicher Schönheit, gelblich-rötlich gefärbt, mit schwarzen, rot umränderten Flecken, die an den Seiten kleiner und auf dem Rücken größer und häufiger waren und dort einen breiten Streifen bildeten.
Die Flibustier erkannten in diesem Tier sofort einen Jaguar, das mächtigste Raubtier Amerikas, weit gefährlicher als der Kuguar oder die großen, grauen Bären der Rocky Mountains.
Diese Tiere, die man von Patagonien bis zu den Vereinigten Staaten findet, sind der Schrecken Amerikas, so furchtbar wie der Tiger, aber auch so behend, kräftig und wild wie diese.
Meist wohnen sie in den feuchten Wäldern und an den Ufern der Moore und riesigen Flüsse, vor allem des Rio de la Plata, des Amazonenstroms und des Orinocos, da sie, was bei den Katzen seltsam ist, das Wasser lieben.
Die Verwüstungen, die diese Tiere anrichten, sind schrecklich. Da sie einen phänomenalen Appetit besitzen, greifen sie jedes Wesen an, das ihnen begegnet. Die Affen können sich nicht retten; denn die Jaguare klettern so behend auf die Bäume wie die Katzen. Die Büffel und Pferde auf den Faktoreien können sich wohl mit Hörnern und Hufen verteidigen, fallen ihnen aber doch zum Opfer; denn die blutdürstigen Räuber springen mit einem blitzartigen Satz auf ihre Rücken und zerschmettern ihnen mit einem einzigen Tatzenschlag die Wirbelsäule. Nicht einmal die Schildkröten können entkommen, obwohl sie einen sehr widerstandsfähigen Körper besitzen. Die mächtigen Krallen der Raubtiere dringen durch den doppelten Panzer der Aruaschildkröte hindurch und ziehen das schmackhafte Fleisch heraus.
Gegen die Hunde hegen sie eine tiefe Abneigung. Wenn sie auch ihr Fleisch nicht schätzen, so holen sie sie doch am hellichten Tage aus den Indianerdörfern heraus.
Auch die Menschen werden nicht verschont. Viele arme Indianer zahlen jährlich ihren Tribut an den blutgierigen Räuber. Auch wenn sie anfangs nur verwundet sind, sterben sie an den tiefen Rissen, die ihnen die Krallen dieser Tiere beibringen.
Der Jaguar, der am Rande des Moors lauerte, schien die Nähe der Flibustier gar nicht bemerkt zu haben; denn er zeigte keine Spur von Unruhe. Unentwegt starrte er auf das schwärzliche Gewässer des großen Sumpfs, als ob er eine Beute unter den breiten Blättern der Victoria regia erspähen wolle.
Er kauerte im Röhricht nieder, doch so, daß er jeden Augenblick losspringen konnte.
Seine Schnurrhaare bewegten sich leise vor Ungeduld und Zorn, und sein langer Schweif strich lautlos über die Spitzen des Rohrs.
»Worauf wartet das Tier?« fragte der Korsar, der van Gould und dessen Eskorte ganz vergessen zu haben schien.
»Es späht nach einer Beute«, antwortete der Spanier.
»Vielleicht nach einer Schildkröte?«
»Nein!« rief der Neger. »Es wartet auf einen ebenbürtigen Gegner. Schaut dorthin, nach den Blättern der Victoria regia! Seht Ihr da nicht ein Maul auftauchen?«
»Unser ›Kohlensack‹ hat recht«, sagte Carmaux. »Ich sehe etwas unter den Blättern, das sich bewegt!«
»Es ist das Maul eines Kaimans, Freundchen!« belehrte ihn Mokko.
»Eines Krokodils?« fragte der Korsar.
»Ja, Herr!«
»Also die Jaguare greifen sogar diese riesenhaften Reptilien an?«
»Gewiß!« entgegnete der Katalonier. »Wenn wir still sind, werden wir einem furchtbaren Kampfe beiwohnen.«
»Hoffentlich dauert er nicht lange!«
»Es sind beide ungeduldige Gegner und werden mit den gegenseitigen Bissen nicht knausern. Ah... da zeigt sich schon der Jacarè!«
Die Blätter der Victoria regia teilten sich plötzlich und ließen zwei riesenhafte Kiefer mit langen, dreieckigen Zähnen sehen, die sich nach dem Ufer zu ausdehnten.
Als der Jaguar das Krokodil näherkommen sah, erhob er sich und trat einen Schritt zurück. Er mußte diese Bewegung aber nicht aus Furcht vor den beiden Kiefern ausgeführt haben, sondern augenscheinlich in der Absicht, den Gegner auf das Land zu locken, um ihn seines Hauptverteidigungsmittels, nämlich der Beweglichkeit, zu berauben. Sind diese Tiere einmal aus dem Wasser heraus, so fühlen sie sich sehr behindert.
Durch diese Bewegung wohl enttäuscht, stürzte der Kaiman vor, indem er mit seinem mächtigen Schwanz die Blätter der Victoria regia glatt abmähte und großen Wellenschlag verursachte. Als er am Ufer Fuß gefaßt hatte, blieb er stehen und zeigte seinen gräßlichen, weit geöffneten Rachen.
Es war ein großer, fast fünf Meter langer Alligator, dessen Rücken Wasserpflanzen bedeckten, die ihm im Schlamm gewachsen waren und die er sich zwischen seinen knöchernen Schuppen einverleibt hatte.
Er schüttelte sich, so daß das Wasser rings um ihn aufspritzte; dann stürzte er sich auf seine kurzen Hinterpfoten und stieß einen Schrei aus, der wie das Weinen eines Kindes klang.
Statt ihn anzugreifen, war der Jaguar zurückgesprungen. Nun aber war seine Haltung erst recht sprungbereit.
Minutenlang sahen sich schweigend der König der Wälder und der König der Moore mit gelblichen, wild blitzenden Augen an, dann ließ ersterer ein ungeduldiges Knurren ertönen und krümmte sich fauchend wie eine wütende Katze.
Der furchtlose Kaiman, der sich seiner Stärke und der Kraft seiner Zähne voll bewußt war, bewegte sich weiter vor und schlug rechts und links mit seinem schweren Schwanze.
Das war der Augenblick, auf den der listige Jaguar gewartet hatte. Er machte einen hohen Sprung in die Luft und fiel auf den Gegner nieder. Aber seine stahlharten Krallen durchdrangen nicht die knöchernen Schuppen des Reptils, die es wie ein fester Panzer schützen, durch den keine Kugel dringt.
Wütend, daß der erste Angriff mißlang, drehte er sich mit erstaunlicher Schnelligkeit um, schlug mit einem kräftigen Tatzenhieb auf den Kopf des Gegners und riß ihm ein Auge aus. Dann war er mit einem Sprung wieder am Boden, etwa zehn Schritte weiter.
Das Reptil stieß ein langes Wut- und Schmerzensgeheul aus. Des Auges beraubt, war es dem gefährlichen Feinde gegenüber im Nachteil und versuchte jetzt, ans Moor zurückzugelangen. Wütend schlug es mit dem Schwänze und spritzte den Schlamm hoch auf.
Der Jaguar, der es immer beobachtete, stürzte zum zweitenmal vor, und zwar auf den Rücken des Tieres; doch diesmal versuchten sich seine Krallen nicht an dem undurchdringlichen Panzer.
Er beugte sich vor und riß ihm seine Eingeweide heraus.
Die Wunde mußte tödlich sein, doch besaß der Alligator noch zuviel Lebenskraft, um sofort zu unterliegen. Er befreite sich mit instinktivem Schütteln vor dem Feinde, indem er ihn auf das Röhricht warf. Dann stürzte er auf ihn zu, um ihn mit einem kräftigen Biß seiner zahllosen Zähne zu zerreißen. Doch unglücklicherweise konnte er mit seinem einen Auge nicht richtig zielen, und anstatt den Gegner gänzlich zu zermalmen, was leicht für ihn gewesen wäre, biß er ihm nur den Schwanz ab.
Der Jaguar stieß einen wilden Schrei aus, der ankündigte, daß der Schwanz abgetrennt war.
»Armes Tier!« rief Carmaux. »Ohne Schwanz wird es eine häßliche Figur machen!«
»Er wird sich schon rächen!« sagte der Spanier.
In der Tat hatte sich der blutdürstige Jaguar mit verzweifelter Wut wieder auf das Reptil geworfen. Er bearbeitete das Maul desselben unglaublich rasch mit seinen Krallen, um es zu zerreißen. Der blinde, schrecklich zugerichtete, bluttriefende Alligator kroch immer mehr ins Moor zurück. Sein Schwanz bewegte sich in mächtigen Schlägen, und seine Kiefer schlugen krachend aufeinander, ohne daß es ihm gelang, sich von der Bestie, die ihn immer mehr zerriß, zu befreien.
Plötzlich stürzten beide in den Sumpf und kämpften dort miteinander. Das aufgewühlte Wasser schäumte und färbte sich mit Blut. Dann erschien eins der Tiere wieder am Ufer.
Es war der Jaguar, aber in bedauernswertem Zustand. Blut und Wasser tropfen gleichzeitig von seinem Fell. Den Schwanz hatte er zwischen den Zähnen des Reptils gelassen. Der Rücken schien zerfleischt, eine Tatze gebrochen zu sein.
Mühsam kroch er ans Ufer, blieb von Zeit zu Zeit stehen und sah mit blitzenden Augen nach dem Moore hin. Endlich erreichte er das Röhricht, stieß ein letztes, drohendes Geheul aus und verschwand vor den Augen der Flibustier.
»Der hat seinen Teil bekommen!« sagte Carmaux.
»Ja, aber der Kaiman ist tot, und wenn er morgen wieder an die Oberfläche kommt, verzehrt ihn der Jaguar zum Frühstück«, meinte der Katalonier.
»Der Preis für das Frühstück war aber hoch!«
»Bah, diese Raubtiere haben ein dickes Fell! Er wird bald wieder heil sein!«
»Aber der Schwanz wächst ihm doch nicht wieder?«
»Nein, doch Zähne und Krallen genügen.«
Der Schwarze Korsar machte sich nun von neuem auf den Weg und ging am Ufer des Moors entlang. Als sie an der Stelle vorüberkamen, wo der Kampf stattgefunden, gewahrte Carmaux das verlorene Auge des Reptils am Boden.
»Puh!« rief er aus. »Wie häßlich! Noch nach dem Tode hat es einen Blick voll Haß und Wildheit beibehalten!«
Da nur Röhricht und Mucumucu am Ufer wuchsen, die sich leicht niederschlagen ließen, so konnten die Flibustier ihren Marsch beschleunigen. Doch mußte sie sich vor den in der Umgebung des Moors sehr zahlreichen Schlangen hüten. Glücklicherweise trafen sie wenig Jaracares an, Schlangen giftigster Art, die wie trockenes Laub aussehen und daher schwer zu erkennen sind. Aber Vögel gab es über den Wasserpflanzen und im Röhricht in Menge. Außer den Sumpfvögeln sah man schöne, Cigañas genannte Wasserhühner mit bunten Federn und langen Schwänzen, Massen von lärmenden Papageien, bald grün, bald gelb und rot; wunderschöne Cañindes, große, den Kakadus ähnelnde Papageien mit blauen Flügeln und gelber Brust, Scharen von Ticstics, unsern Sperlingen ähnliche Vögelchen.
Auch Affen kamen aus dem Walde, Weißkopfaffen mit langem, seidenweichem, schwarzgrauem Fell und einem langen, weißen Bart, der ihnen das Aussehen von Greisen gab.
Die Mütter, die ihre Kleinen auf den Schultern trugen, folgten den Männchen; aber als sie die Menschen sahen, flüchteten sie und überließen den Männchen die Sorge um den Rückzug.
Um Mittag gab der Schwarze Korsar das Zeichen zur wohlverdienten Ruhe; denn seine Leute waren fast zehn Stunden ununterbrochen unterwegs gewesen und nun todmüde.
Da sie die wenigen mitgenommenen Lebensmittel sparen wollten, machten sie sich sofort auf die Suche nach Wild und Früchten. Der Hamburger und der Neger hatten das Glück, unweit vom Moor eine herrliche, Bacaba genannte Palme zu entdecken. Dieselbe hatte karmesinrote Blüten und gibt eine Art Wein, wenn man sie anschneidet. Ferner eine Jabuticabeira, einen sechs bis sieben Meter hohen Baum mit dunkelgrünem Laub, der dicke, hellgelbe, apfelsinenähnliche Früchte trägt, deren zartes, saftiges Fleisch aber von einer festen, dicken Schale umgeben ist.
Carmaux und der Spanier dagegen bemühten sich um das Wild für die Abendmahlzeit.
Da sie am Ufer des Moors nur schwer zu erlegende Vögel sahen und auch kein kleines Schrot dafür besaßen, gingen sie in den Wald, in der Hoffnung, dort einen Kariaku, ein ziegenähnliches Tier, oder eine Pecari, eine Art Wildschwein, zu erjagen.
Währenddessen überließen sie den Gefährten das Anzünden des Feuers, da sie wohl wußten, daß der Korsar nicht lange rasten würde.
In fünfzehn Minuten hatten sie das dicke Röhricht passiert und befanden sich nun am Saum des Urwalds, der mit großen Zedern, Palmen aller Art, dornigen Kakteen, großen Helianthus und herrlichen Salvie fulgens, letztere mit wundervollen, karmesinroten Blüten, bestanden war.
Der Spanier blieb lauschend stehen, um irgendeinen Laut zu erhaschen, der auf die Anwesenheit eines Wildes hinwies; aber es herrschte tiefe Stille unter dem grünen Gewölbe.
»Ich fürchte, wir werden unsere Reserven angreifen müssen«, sagte er, bedenklich den Kopf schüttelnd.
»Vielleicht befinden wir uns im Bereich des Jaguars, vor dem das Wild schon längst geflohen ist!«
»Man scheint selbst keine Katze mehr zu finden!« seufzte der Katalonier.
»Du hast ja gesehen, daß sie nicht fehlen, aber was für welche! Treffen wir den Jaguar, so töten wir ihn!«
»Das Fleisch wäre gar nicht so schlecht, Carmaux, vor allem mit Rotkohl gekocht!«
»Also los, töten wir ihn!«
»Horcht!« rief der Spanier und hob den Kopf. »Ich glaube, wir können bald etwas Besseres töten!«
»Hast du ein Reh entdeckt, Herzensfreund?« »Seht Ihr den großen Vogel?«
Carmaux folgte seinem Blick und sah wirklich einen großen, schwarzen, häßlichen Vogel zwischen den Zweigen der Bäume fliegen.
»Ist das etwa das versprochene Reh?«
»Nein, das ist ein Gule-gule. Da seht, noch ein zweiter und dort unten noch mehr!«
»Töte sie mit einer Kugel, wenn du kannst!« meinte Carmaux ironisch. »Ich habe zu deinem Gule-gule kein Vertrauen.«
»Ich will ihn ja gar nicht haben! Im Gegenteil, er zeigt uns nur, daß es hier ausgezeichnetes Wild gibt!«
»Und welches?«
»Wildschweine!«
»Donnerwetter! Wie gern möchte ich jetzt ein Wildschweinkotelett verspeisen! Erkläre mir aber, was deine Gule-gule mit diesen Tieren zu tun haben.«
»Diese Vögel besitzen ein scharfes Auge. Entdecken sie Wildschweine von weitem, so fliegen sie hin, um sich den Bauch mit ...«
»Wildschweinbraten zu füllen!«
»Das nicht, aber mit Würmern, Skorpionen und Zungenasseln, welche die Wildschweine mit ihrer Schnauze beim Aufwühlen der Erde hinauswerfen, wenn sie sich Wurzeln und Knollen zur Nahrung suchen.«
»Sie fressen auch Zungenasseln?«
»Natürlich!«
»Und sterben nicht daran?«
»Nein, dem Gule-gule soll das Gift dieser Insekten nicht schaden.«
»Ich verstehe. Wir wollen die Vögel schnell verfolgen, ehe sie wegfliegen! Halte das Gewehr in Bereitschaft! ... Aber werden uns die Spanier nicht hören?«
»Dann muß der Korsar fasten!«
»Du sprichst wie ein Buch, Freundchen! Besser sie hören uns, und wir füllen uns den Magen, als daß unsere Kräfte abnehmen, daß wir sie nicht mehr verfolgen können!«
»Still!«
»Sind Wildschweine da?«
»Das weiß ich nicht; aber irgendein Tier muß nahe sein. Merkt ihr nicht, wie das Laubwerk sich dort bewegt?«