Emilio Salgari
Der schwarze Korsar
Emilio Salgari

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Im Urwald

Um den Mondaufgang zu erwarten, hatten sie sich eine Summameira ausgesucht, einen Baum mit riesigen Wurzeln und einem kolossalen Stamme, der alle Pflanzen des Waldes überragte.

Diese Bäume, die oft sechzig und selbst siebzig Meter hoch werden, ruhen auf natürlichen Sporen, nämlich auf knorrigen und ganz symmetrisch geformten Wurzeln von außerordentlicher Dicke, die weit vom Boden entfernt seltsame Bogen bilden, unter denen mehr als zwanzig Personen Schutz finden können.

Es war eine Art natürlicher Festung, die den Korsaren und seine Gefährten vor jedem plötzlichen Angriff, sei es von Menschen oder Tieren, schützte.

Sie machten es sich, so gut es ging, unter den Waldriesen bequem, aßen Gebäck und ein Stück Schinken und teilten sich die Wache der noch bleibenden vier Stunden, während die andern schliefen.

Ehe man sich Morpheus' Armen überließ, entfernte man aber zuerst das Gras, aus Furcht vor giftigen Schlangen, deren es viele in den Wäldern Venezuelas gibt.

Bei dem plötzlichen Einbruch der Dunkelheit herrschte im Walde ein vollkommene, fast schreckerregende Stille. Vögel und Vierfüßler schwiegen. Alles, was Federn und Fell hatte, verstummte für Augenblicke, als ob es verschwunden oder tot wäre. Mit einem Male aber fing ein Teufelskonzert an, so daß Carmaux, der nicht gewohnt war, seine Nächte im Urwald zu verbringen, aufgeregt emporsprang. Es war, als ob eine Schar Hunde auf den Baumzweigen Platz genommen hätte, denn von oben kamen Gebell, Geheul und lang anhaltendes Gewinsel, von einem seltsamen Gekreisch begleitet, das von tausend kreisenden Rollen herzurühren schien.

»Mein Gott!« rief der Seemann und starrte in die Höhe. »Was ist denn los? Man sollte meinen, alle Hunde dieses Landes hätten Vogelflügel und Katzenkrallen bekommen! Wie sind die nur auf die Bäume gestiegen? Kannst du mir es nicht sagen, Gevatter Kohlensack?«

Statt zu antworten, lachte der Neger in sich hinein.

»Und was ist das hier?« fragte Garmaux weiter. »Es hört sich an, als ob hundert Seeleute alle Schiffsschrauben zu irgendeinem Manöver gleichzeitig knarren ließen. Sollten das Affen sein?«

»Nein«, antwortete der Neger, »das sind alles, alles Frösche.«

»Die singen so?«

»Ja, Gevatter.«

»Und was ist das? Hörst du? Als ob Tausende von Schmieden auf alle Kupferkessel Beelzebubs schlügen!«

»Das sind auch Frösche.«

»Donnerwetter! Wenn mir das ein anderer sagte, würde ich glauben, er machte sich über mich lustig, oder er wäre verrückt. Ist das vielleicht eine neue Spezies?«

Plötzlich übertönte ein mächtiges Maunzen, gefolgt von Geheul, alle andern Laute im Urwald. Selbst das Froschkonzert schwieg. Der Neger hob spähend das Haupt und griff eilig nach seinem Gewehr, eine Bewegung, die lebhafte Furcht ausdrückte.

»Ist dieser heulende Herr vielleicht auch ein Frosch?«

»O nein«, rief der Neger, »ein Jaguar!«

»Potzdonner und Blitz! Das gräßliche Raubtier?«

»Ja, Gevatter!«

»Ich möchte mir lieber von drei Männern den Bauch aufschlitzen lassen, als mit solch einem Menschenfresser zu tun zu haben! Man sagt, daß er schlimmer als der Tiger Indiens wäre.«

»Und als die Löwen Afrikas, Gevatter!«

»Himmel und Hölle! Wenn wir hier angegriffen werden, dürfen wir ja unsere Feuerwaffen nicht gebrauchen!«

»Warum nicht?«

»Würden der Gouverneur und seine Begleiter Schüsse hören, wüßten sie sofort, daß sie verfolgt werden, und würden das Weite suchen!«

»Willst du denn einem Jaguar mit dem Messer zu Leibe gehen?«

»Wir können den Säbel nehmen!«

»Da möchte ich dich sehen!«

»Na, wünsche es mir nicht, Gevatter Kohlensack!«

Ein zweites, noch stärkeres Geheul hallte durch das finstere Dickicht. Der Neger sprang auf. Auch Carmaux wurde unruhig und brummte: »Jetzt wird die Sache ernst.«

In diesem Augenblick nahm der Schwarz Korsar seinen Mantel ab und stand auf.

»Ein Jaguar?« fragte er ruhig.

»Ja, Kapitän!«

»Ist er noch weit?«

»Nein, er scheint sich sogar zu nähern.«

»Was auch kommen mag, schießt nicht!«

»Das Raubtier wird uns aber auffressen!«

»Meinst du«, sagte er lächelnd. »Wir werden ja sehen!«

Er faltete den Mantel sorgfältig zusammen, legte ihn über den linken Arm und zog den Degen.

»Von jener Seite kam das Heulen, Kommandant!«

»Gut! Warten wir ab!«

»Soll ich den Spanier und Stiller wecken?«

»Das ist nicht nötig; wir sind genug. Seid still und schürt das Feuer!«

Jetzt hörte man deutlich die den Katzen und Jaguaren eigenen knurrenden Töne durch die Blätter hindurch, und ab und zu ein Rascheln von Blättern. Das Raubtier mußte schon die Gegenwart der Menschen gerochen haben; denn es kam vorsichtig näher.

Der Korsar stand unbeweglich lauschend neben dem Feuer, den Degen in der Hand und die Augen auf das nahe Buschwerk gerichtet, um dem Überfall der Bestie zuvorzukommen. Carmaux und der Neger standen hinter ihm, der eine mit der Enterpike, der andere mit dem Gewehr, das er mit dem Kolben nach oben hielt, um ihn gegebenenfalls als Axt zu gebrauchen.

Das Blätterrascheln hielt noch eine Weile an. Der Jaguar schien nur langsam näher zu kommen. Mit einem Male hörte jedes Geräusch auf. Der Korsar hatte sich vorgebeugt, um besser hören zu können. Als er den Kopf wieder hob, begegneten seine Blicke zwei leuchtenden Punkten, die durch das dichte Gebüsch funkelten. Sie waren unbeweglich und hatten einen grünlich phosphoreszierenden Schein.

»Da ist er«, murmelte Carmaux. »Er will uns angreifen.«

»Ich erwarte ihn«, antwortete der Korsar vollkommen ruhig.

»Diese Kaltblütigkeit!« dachte der Flibustier. »Der würde sich nicht einmal vor dem Teufel und seinen gefallenen Engeln fürchten!«

Der Jaguar blieb etwa dreißig Schritt von der Gruppe entfernt stehen. Er schien unentschlossen. Beunruhigte ihn das zu Füßen des Baumes brennende Feuer oder die energische Haltung des Korsaren?

Unbeweglich, die Augen starr, drohend auf den Gegner gerichtet – so stand er einen Moment im Dickicht, dann aber verschwanden plötzlich die beiden leuchtenden Punkte. Die Zweige knackten, das Laub raschelte noch einige Augenblicke, bis jedes Geräusch aufhörte.

»Er ist fort«, sagte Carmaux aufatmend. »Gott sei Dank! Mögen ihn die Krokodile verschlingen!«

»Es ist wahrscheinlicher, daß er die Krokodile frißt, Gevatter«, sagte der Neger.

Der Korsar verharrte noch einigen Minuten an seinem Platze, ohne den Degen zu senken. Als sich nichts mehr hören ließ, steckte er die Waffe ruhig wieder ein, hüllte sich von neuem in seinen Mantel und legte sich nochmals nieder.

»Ruft mich, wenn er wiederkommt!« sagte er wie selbstverständlich.

Carmaux und der Neger setzten sich wachehaltend hinter das Feuer. Sie verdoppelten jetzt ihre Aufmerksamkeit; denn sie waren überzeugt, daß das Raubtier nicht endgültig verschwunden war.

Um zehn Uhr weckten sie Stiller und den Katalonier und benachrichtigten sie von der Nähe des Jaguars. Dann aber legten sie sich neben dem Korsaren nieder, der so friedlich schlief, als ob er sich in seiner Kabine auf der »Fólgore« befände.

Die zweite Hälfte der Wache verlief ruhiger als die erste, obwohl Stiller und sein Gefährte das Heulen des Jaguars noch mehrere Male im dunklen Walde gehört hatten.

Um Mitternacht stieg der Mond empor. Der Korsar, der bereits wach war, gab das Zeichen zum Abmarsch, weil er hoffte, seinen Todfeind schon am nächsten Morgen zu treffen.

Das nächtliche Gestirn erstrahlte in wunderbarer Pracht am klaren Himmel und übergoß mit seinem Silberschein den großen Wald. Doch drang nur wenig Licht in das Dickicht hinein. Trotzdem konnten die Flibustier rasch vorwärtsschreiten und die sich ihnen in den Weg stellenden Hindernisse erkennen.

Den von den Begleitern des Gouverneurs gebahnten Pfad hatten sie verloren, was sie aber nicht störte, da sie jetzt wußten, daß der Weg nach Gibraltar nach Süden weiterging. Mit Hilfe des Kompasses verfolgten sie die Richtung und hofften so von einem Augenblick zum andern, den kleinen Weg wieder zu erreichen.

Eine Viertelstunde lang wanderten sie mühsam über riesige, den ganzen Boden bedeckende Wurzeln hinweg, durch Zweige und Lianen hindurch, als der Katalonier, der jetzt an der Spitze der kleinen Schar marschierte, plötzlich stehenblieb.

»Was gibt's?« fragte der Korsar hinter ihm.

»Schon das dritte Mal dringt ein verdächtiges Geräusch an mein Ohr. Mir scheint, als ginge jemand gleichzeitig mit uns durch das Dickicht.«

»Was bringt dich auf die Vermutung?«

»Ein Knacken von Zweigen und Blätterrascheln.«

»Sollte uns jemand verfolgen?«

»Aber wer? Es wagt doch keiner, des Nachts zu dieser Stunde durch den Urwald zu gehen«, meinte der Spanier.

»Ob es vielleicht ein Begleiter des Gouverneurs sein könnte?«

»Die müssen aber längst weiter sein!«

»Oder ein Indianer?«

»Vielleicht. Halt! Habt ihr gehört?«

»Ja«, bestätigten die Flibustier. »Neben uns knackte ein Zweig.«

»Wenn nur der Wald nicht so dicht wäre, würde man besser beobachten können, wer uns verfolgt«, meinte der Korsar, der schon seinen Degen gezogen hatte. »Unsere Kleider aber würden auf anderm Weg in den Dornen hängenbleiben!«

»Was sollen wir tun, Kapitän?«

»Mit dem Schwerte in der Hand weitergehen. Ich will nicht, daß wir uns der Gewehre bedienen.«

Langsam und vorsichtig schritt der kleine Trupp vorwärts. Er gelangte an einen engen Durchgang, der durch hohe Palmen führte, die mit einem Lianennetz verbunden waren. Da plötzlich warf sich eine schwere Masse auf den an der Spitze marschierenden Spanier und riß ihn zur Erde.

Der Angriff erfolgte so überraschend, daß die Flibustier zuerst glaubten, ein riesiger Baum wäre auf den Unglücklichen gefallen. Aber ein rauhes Gebrüll belehrte sie, daß es sich um ein wildes Tier handelte.

Der Soldat hatte einen Schrei des Entsetzens ausgestoßen. Dann versuchte er, sich von dem Ungeheuer, das ihn am Boden festhielt, zu befreien.

»Zu Hilfe!« schrie er. »Die Bestie reißt mich in Stücke!«

Da eilte der Kapitän mit gezücktem Degen hinzu. Wie der Blitz stieß er die Waffe in den Körper des Tiers. Als dieses sich verwundet fühlte, ließ es von seinem Opfer ab und stürzte sich nun auf seinen neuen Gegner.

Der Korsar war ihm aber geschickt ausgewichen, indem er die blitzende Degenspitze der Bestie vorhielt und mit rascher Gebärde seinen Mantel um den linken Arm wickelte.

Noch einen Augenblick zögerte das Raubtier, dann aber sprang es mutig zuerst auf Stiller, den es zu Boden warf, dann auf den daneben stehenden Carmaux, den es mit einem Schlag seiner mächtigen Pranke zu Boden riß.

Als der Kommandant seine Flibustier in Gefahr sah, stürmte er zum zweiten Male auf die Bestie ein und durchbohrte sie mit Schwertstößen. Doch wagte er sich dabei nicht allzu dicht heran, um nicht von ihren Klauen zerrissen zu werden.

Brüllend wich das Raubtier zurück, um Raum für einen neuen Sprung zu gewinnen. Aber der Korsar rückte ihm wieder zu Leibe. Erschreckt und vielleicht auch schwer verletzt, drehte es sich um und sprang auf einen nahen Baum, indem es tiefe, lang anhaltende Töne ausstieß: Uh-uh!

»Zurück!« schrie Ventimiglia, einen neuen Angriff befürchtend.

»Verflucht!« rief Stiller, der sofort wieder aufgestanden war, ohne die kleinste Schramme davongetragen zu haben. »Man wird es niederschießen müssen, um endlich seinen Hunger nach uns zu stillen!«

»Nein, keiner darf feuern!« erwiderte der Korsar.

»Ich hätte ihm den Kopf zerschmettert!« sagte eine Stimme hinter ihm.

»Du lebst noch?« rief der Kommandant erstaunt.

»Ja, das verdanke ich nur dem Büffelfellpanzer, den ich unter meiner Jacke trage«, sagte der Spanier. »Sonst hätte es mir die Brust mit einem Prankenschlag zerrissen!«

»Achtung!« rief Carmaux in diesem Augenblick. »Das verdammte Vieh holt wieder zum Sprunge aus!«

Kaum hatte er diese Worte ausgesprochen, als das Tier sich wieder auf sie stürzte und eine Parabel von sechs bis sieben Meter beschrieb. Es fiel beinahe dem Korsaren zu Füßen, konnte aber keinen zweiten Angriff mehr versuchen. Der Degen des Flibustiers war ihm in die Brust gedrungen und hatte es niedergestreckt, worauf der Neger ihm den Schädel mit seinem schweren Gewehrkolben zerschmetterte.

»Geh zum Teufel!« rief Carmaux und gab ihm noch einen kräftigen Fußtritt, um sich zu überzeugen, ob es diesmal auch wirklich tot sei. »Was für ein Tier war das eigentlich?«

»Das werden wir gleich erfahren!« sagte der Spanier, ergriff die Bestie bei dem langen Schwänze und zog sie zu einer freien, vom Monde beleuchteten Stelle. »Schwer ist sie nicht! Aber was für Pranken hat sie! Wenn wir in Gibraltar sind, werde ich der Madonna von Guadeloupe für meine Rettung eine Wachskerze anzünden!«


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