Emilio Salgari
Der schwarze Korsar
Emilio Salgari

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Im Zauberbann

Die »Fólgore« fuhr langsam nach Norden, der Küste von San Domingo zu. Von dort wollte sie in den breiten Kanal einlaufen, der sich zwischen jener Insel und Kuba öffnet. Sie kam bei den leichten Winden nur mühsam vorwärts. Einmal weil sie das Linienschiff mit sich schleppen mußte, und zweitens, weil sie durch den Golfstrom behindert war.

Dieser trat aus dem Meerbusen von Mexiko ins Antillenmeer und strömte durch die Floridastraße in den Atlantischen Ozean, an den Gestaden Mittelamerikas entlang.

Zum Glück blieb das Wetter heiter. Sonst hätte man die so teuer erkämpfte Beute den Wellen überlassen müssen. Die Stürme, die zuweilen das Antillenmeer aufwühlen, sind schrecklicher Art.

Diese von der Natur scheinbar so gesegneten Regionen, diese Inseln, prangend in üppiger Fruchtbarkeit unter herrlichem Klima, sind infolge der herrschenden Ostwinde und Äquinoktialstürme oft den furchtbarsten Katastrophen unterworfen, welche sie in wenigen Stunden verheeren.

Die Stürme vernichten die reichen Pflanzungen, entwurzeln ganze Wälder und zerstören Städte und Dörfer. Zuweilen bringen Seebeben das Meer in Aufruhr und fegen alles fort, was sich an den Küsten vorfindet. Selbst die in den Häfen verankerten Schiffe schleifen sie durch die verwüsteten Felder. Auch von heftigen Erdbeben wird die Gegend heimgesucht, die Tausende von Menschen unter ihren Trümmern begraben.

Doch noch leuchtete ein guter Stern dem Piraten. Das Wetter versprach eine gute Fahrt nach der Tortuga. Die »Fólgore« segelte ruhig durch die smaragdgrünen Gewässer dahin, die so kristallhell und durchsichtig waren, daß man in der Tiefe den weißen Sand des mit Korallen bedeckten Golfbettes erblicken konnte.

In diesem klaren Wasser sah man Fische nach allen Richtungen huschen; sie spielten miteinander, verfolgten sich oder fraßen einander auf. Zuweilen kamen mit mächtigem Schwanzschlag die menschenfressenden Hammerhaie zum Vorschein. Den andern ebenso gefährlichen Haifischen ähnlich, sind sie oft zwanzig Fuß lang und haben einen hammerähnlichen Kopf, seitlich stehende, große, runde, gläserne Augen und ein riesiges, mit langen dreieckigen Zähnen bewaffnetes Maul.

Zwei Tage nach dem Kapern des Schiffs fuhr die »Fólgore« bei stärkerem und günstigerem Winde zwischen Jamaika und der Westküste Haitis weiter, um dann nach der Südküste zu eilen.

Der Schwarze Korsar, der sich fast immer in seiner Kabine aufhielt, stieg auf Deck, als der Steuermann die hohen Berge Jamaikas signalisierte.

Seit dem Abend, als er die junge Flämin zu sich geladen hatte, war er von einer merkwürdigen Unruhe erfaßt. Es litt ihn an keinem Orte. Gedankenvoll wanderte er auf und nieder, ohne mit jemandem, selbst nicht mit seinem Offizier Morgan, ein Wort zu wechseln. Die breite Krempe seines Hutes tief in die Stirn gedrückt, schaute er zerstreut zu den am Horizont sich abhebenden Bergen hinüber, die aussahen, als ob sie im Wasser ständen.

Wie einem unwiderstehlichen Drange folgend, blieb er an der Brüstung des hintern Decks stehen.

Seine Blicke hafteten auf dem Vorderdeck des spanischen Schiffs, das kaum sechzig Schritte entfernt in der Länge des Ankertaus war. Plötzlich zuckte er zusammen und wollte sieh wieder zurückziehen, doch war die Macht, die ihn festhielt, stärker. Seine sonst so finstere Miene erhellte sich, eine leichte Röte überzog sein blasses Gesicht.

Auf dem Vorderdeck des spanischen Schiffes hatte er eine weiße Gestalt bemerkt, die an der Winde lehnte. Es war die Herzogin. Ein breiter, weiter Mantel umhüllte sie. Die blonden Haare fielen ihr über die Schultern, ab und zu von der Seebrise aufgeweht. Sie hatte die Augen auf das Piratenschiff gerichtet und schaute unverwandt nach dem Schwarzen Korsaren.

Dieser stand unbeweglich, wie unter einem Bann, kaum atmend. Er gab kein Zeichen, daß er sie erkannt hatte. Er grüßte sie nicht.

Da endlich erwachte er aus seiner Verzauberung, die für einen Mann mit seinem Temperament höchst seltsam war.

Fast, als ob er bereute, der Anziehungskraft dieser Augen drüben nachgegeben zu haben, wandte er sich plötzlich mit einem Ruck ab.

Doch Honorata hatte sich nicht gerührt. Noch immer lehnte sie an der Schiffswinde.

Der Kapitän war inzwischen auf die Kommandobrücke gestiegen. Hier konnte er der Versuchung nicht widerstehen, noch einmal zu ihr zurückzublicken. Im Rückwärtsschreiten stieß er auf Morgan, der gerade seinen Wachrundgang beendigte.

»Schaut Ihr auch auf die Färbung der Sonne, Kommandant?« fragte ihn der Offizier.

Der Korsar gewahrte nun erst, daß das Tagesgestirn, das vor wenigen Augenblicken noch strahlte, jetzt rötlich gefärbt war und wie eine weißglühende eiserne Scheibe aussah.

Die Berggipfel von Jamaika hoben sich mit größerer Klarheit vom Horizonte ab und waren von einem viel helleren Lichte als vorher umflossen.

Sofort zeigte sich eine gewisse Unruhe auf dem Gesicht des Kapitäns.

»Wir werden einen Orkan bekommen«, sagte er mit dumpfer Stimme.

»Ja, alles weist darauf hin«, bestätigte Morgan. »Merkt ihr nicht auch die vom Meer aufsteigenden üblen Gerüche?«

»Auch die Luft fängt an, trüber zu werden. Das sind die Anzeichen der schweren Antillenstürme. Sollen wir unsere Beute verlieren?«

»Wollt Ihr einen Rat, Kommandant?«

»Sprecht!«

»Laßt die Hälfte unserer Mannschaft an Bord des spanischen Schiffes gehen!«

»Ihr habt recht. Es täte mir für meine Leute leid, wenn dieses schöne Schiff versinken würde.«

»Und die Herzogin? Es wird besser sein, wir nähmen sie auf unser Schiff!«

»Würde es euch denn weh tun, wenn sie unterginge?« fragte der Kapitän, indem er sich jäh zu Morgan umwandte und ihn fixierte.

»Ich denke, daß sie wohl mehrere tausend Piaster bringen kann.«

»Ah, Ihr meint das Lösegeld, das sie zahlen muß.«

»Soll ich sie herüberschaffen lassen, noch ehe der Sturm ausbricht?«

Der Korsar antwortete nicht. Er schritt mehrmals sinnend das Deck auf und nieder, dann blieb er plötzlich vor dem Leutnant stehen und fragte ihn hastig: »Glaubt Ihr, daß uns Frauen zum Verhängnis werden können?«

»Was meint Ihr damit?« fragte Morgan erstaunt.

»Könntet Ihr eine Frau lieben, ohne Furcht zu haben?«

»Warum nicht?«

»Kann ein schönes Weib nicht gefährlicher als ein blutiger Kampf sein?«

»Manchmal gewiß, Kapitän.«

Der Kapitän zeigte auf Honorata.

»Wie gefällt Euch die junge Herzogin, Leutnant?«

»Sie ist eine der reizvollsten Frauen, die ich je gesehen habe.«

»Fürchtet Ihr Euch vor ihr?«

»Vor diesem Weibe? Nein!«

»Aber ich, Leutnant!«

»Der Schwarze Korsar sollte – Ihr scherzt, Kommandant!«

»Nein!« erwiderte der Flibustier. »Eine Zigeunerin in meinem Lande hat mir geweissagt, daß die erste Frau, die ich liebe, mir Unglück bringen würde.«

»Aberglaube, Kapitän!«

»Hört weiter! Dieselbe Zigeunerin hat mir auch wahrgesagt, daß einer meiner Brüder im Kampfe durch Verrat sterben, und daß die beiden andern am Galgen enden, würden. Ihr wißt, daß diese traurige Prophezeiung sich erfüllt hat.«

»Und weiter ...?«

»Daß ich auf dem Meere, fern von meinem Vaterland, durch eine geliebte Frau sterben werde.«

Morgan erschauerte.

»Aber beim vierten Bruder mag sich die Zigeunerin geirrt haben.«

»Nicht anzunehmen«, erwiderte dumpf der Korsar. Dann schüttelte er die schwermütigen Gedanken ab, die ihn gepackt hatten, und fügte entschlossen hinzu: »Es sei!«

Er stieg vom Bug, wo er den Neger mit Carmaux und Stiller reden hörte und befahl ihnen: »Die große Schaluppe ins Wasser! Führt die Herzogin und ihr Gefolge an Bord unseres Schiffs!«

Während die drei gehorchten, wählte Morgan dreißig Seeleute aus, um sie zur Verstärkung der Mannschaft auf das Linienschiff zu schicken.

Eine Viertelstunde später kehrten Carmaux und seine Gefährten zurück. Honorata, ihre beiden Frauen und zwei Pagen stiegen an Bord der »Fólgore«, an dessen Treppe sie der Korsar erwartete.

»Habt Ihr mir eine dringende Mitteilung zu machen, Cavaliere?« fragte die Dame.

»Ja, Madame, daß wir genötigt sind, das Linienschiff seinem Schicksal zu überlassen.«

»Warum? Werden wir verfolgt?«

»Es droht ein Orkan, der mich zwingt, das Schlepptau zu durchschneiden! Vielleicht kennt Ihr schon die Wut dieses Golfsturms?«

»Also wollt Ihr Eure Gefangene nicht verlieren?«

»Die ›Fólgore‹ ist sicherer als das andere Schiff!«

»Ich danke Euch für Eure Fürsorge, Kapitän!«

»Dankt nicht!« erwiderte er. »Dieser Orkan wird einem Manne hier auf dem Schiff verhängnisvoll werden.«

»Verhängnisvoll?« fragte die Herzogin erstaunt. »Und wem?«

»Die Zukunft wird Euch Antwort geben.«

»Fürchtet Ihr für Euer Schiff?«

Der Korsar lächelte. »Meine ›Fólgore‹ kann alle Blitze des Himmels und alle Wutausbrüche des Meeres aushalten. Ich führe sie durch Wellen und Winde hindurch.«

»Ich weiß es. Aber sagt mir doch ...«

»Ich bitte Euch, nicht weiterzufragen – ich kann es Euch doch nicht erklären.«

Er zeigte ihr das Gemach am hintern Deck und sagte, sich verbeugend: »Nehmt die Gastfreundschaft an, die ich Euch biete. Ich werde inzwischen dem Tod und meinem Schicksal trotzen.«

Der Kapitän verließ sie und stieg wieder auf die Kommandobrücke.

Die bisher auf dem Meere herrschende Stille wurde plötzlich unterbrochen. Es war, als ob hundert Wirbelwinde von den Kleinen Antillen herkämen.

Die Schaluppen, welche die dreißig Matrosen nach dem Linienschiff gebracht hatten, waren zurückgekehrt und von der Mannschaft wieder an Bord gewunden worden.

Der Korsar beobachtete aufmerksam den Himmel in Westen. Eine große tiefschwarze Wolke mit feuerroten Rändern war am Horizont sichtbar. Sie wurde vom Winde emporgejagt. Die dem Untergang nahe Sonne schien sich zu verdunkeln. Es war, als ob ein Nebel sich zwischen ihre Strahlen und die Erde legte.

»Auf Haiti wütet bereits ein Orkan!« sagte der Kommandant zu Morgan.

»Und die Kleinen Antillen sind vielleicht jetzt schon verwüstet«, fügte der Leutnant hinzu. »In einer Stunde werden wir hier das Unwetter haben. Ich an Eurer Stelle würde auf Jamaika Zuflucht nehmen.«

»Meine ›Fólgore‹ soll vor einem Sturm fliehen? Niemals!«

»Bedenkt – ein Antillensturm! – Herr!«

»Auch diesem biete ich Trotz! Mag das Linienschiff an jenen Küsten Schutz suchen. Wer befehligt unsere Leute auf dem spanischen Schiff?«

»Der Maat van Horn!«

»Ein tapferer Mann, der eines Tages ein berühmter Pirat werden wird.Wenige Jahre später errang van Horn bei der Einnahme und Plünderung von Veracruz, der wichtigsten Hafenstadt Mexikos, große Berühmtheit. Der zieht sich schon aus der Verlegenheit, ohne die Beute zu verlieren!«

Der Korsar stieg auf die Schanze hinunter. An der Brüstung des Hecks nahm er das Sprachrohr zur Hand und rief mit schallender Stimme: »Ohe! Schneidet das Schlepptau durch! Landet auf Jamaica! Wir erwarten euch auf der Tortuga!«

»Gut, Kommandant«, erwiderte der Maat, der in Erwartung der Befehle am Bug des Schiffes stand.

Er ergriff seine Axt und tat, wie ihm geheißen. Dann wandte er sich zu seinen Matrosen und rief, in dem er die Mütze zog: »Gott befohlen!«

Das Schiff entfaltete die Segel des Fock- und hinteren Mastes, weil es auf den Hauptmast nicht mehr rechnen konnte, und drehte. Es lief auf Jamaika zu.

Währenddessen fuhr die »Fólgore« kühn zwischen der Westküste Haitis und der Südküste Kubas in den sogenannten Überwindkanal ein.

Der Orkan kam näher. Die Ruhe wurde von heftigen, von den Kleinen Antillen kommenden Windstößen unterbrochen. Hohe, mächtige Wogen rauschten heran.

Das Innere des Meeres schien zu sprudeln; denn auf der Oberfläche bildeten sich schäumende Wirbel, die Wasserstrahlen türmten sich auf, gleich flüssigen Säulen, um dann mit großem Getöse niederzustürzen.

Inzwischen war die schwarze Wolke weiter emporgestiegen, hatte sich verbreitert und nahm jetzt schon den ganzen Himmel ein. Der Dämmerschein war vollständig aufgesogen. Finsternis senkte sich auf das stürmische Meer und färbte die Wellen schwarz, als ob sie mit Pechströmen vermischt wären.

Der Korsar stand ruhig und gelassen wie immer an Bord und schien sich nicht um den Sturm zu kümmern. Seine Blicke folgten dem Linienschiff, das er beilegen und am dunklen Horizont verschwinden sah. Seine Besorgnis galt nur jenem Schiff, das, schon beschädigt, den furchtbaren Windstößen ausgesetzt war. Für seine »Fólgore« fürchtete er nichts.

Dann stieg er auf die Schanze und rief dem Steuermann zu: »Gib mir das Ruder! Mein Schiff führe ich selbst!«


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