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Nachdem die Flibustier in Eile ihre übriggebliebene Schildkröte verzehrt hatten, durchsuchten sie die Umgebung, um sich zu vergewissern, ob sich auch kein Indianer dort verborgen hätte. Sie schlugen auf das Gras, um die Schlangen zu verjagen, und zündeten rings um das Lager Feuer an, auf das sie einige Hände voll Pfeffer warfen – übrigens auch ein glänzendes Mittel gegen Stechmücken und andere Tiere!
Da sie fürchteten, daß die Nacht nicht ruhig verlaufen würde, hielten sie abwechselnd Wache.
Der große Wald war still geworden, doch die Ruhe schien den Wächtern wenig vertrauenerweckend. Sie wußten, daß die Indianer lieber des Nachts als am Tag angreifen.
Carmaux hätte lieber das Maunzen der Jaguare oder das Gebrüll der Kuguare vernommen: denn die Anwesenheit dieser Raubtiere wäre wenigstens ein sicheres Zeichen gewesen, daß die Rothäute fern waren.
So wachten sie nun schon mehrere Stunden, als der Neger, der ein sehr scharfes Gehör hatte, sich zu Carmaux umwandte: »Hast du das Blätterrascheln gehört?«
»Nichts habe ich gehört«, erwiderte der Flibustier, der glückselig an einem Zigarrenstummel zog, den er in einer seiner Taschen gefunden hatte. »Heute nacht quaken weder Frösche, noch kalfatern Kröten.«
»Aber Zweige knacken.«
»So ist also dein weißer Gevatter taub.«
»Horch! Ich fühle, daß sich jemand nähert. Wirf dich zur Erde, damit dich die Pfeile nicht treffen!« Sie warfen sich beide ins Gras und gaben Stiller ein Zeichen, dasselbe zu tun. Und so lagen sie im Anschlag mit der Waffe.
Mehrere Männer schienen sich heranzuschleichen.
Da kam Carmaux ein Gedanke. Er sprang auf.
»Stiller«, rief er leise, »wirf mir deine Jacke und deine Mütze zu!«
Der Hamburger tat es.
Auch Carmaux hatte sich seines Kasacks und seiner Kopfbedeckung entledigt und beide Jacken an Baumzweige gehängt, die Mützen darüber.
Dann legten sie sich wieder ins Gras.
»Schlaukopf!« lachte der Neger.
»Wenn wir diese Hampelmänner dort nicht aufhängen, könnten der Korsar und der Spanier von den Pfeilen getroffen werden. So aber laufen sie wenigstens keine Gefahr.«
Ein Zischen ging durch die Luft, und drei bis vier Pfeile durchbohrten die Vogelscheuchen.
»Euer Gift ist diesmal unschädlich, meine Lieben«, murmelte Carmaux. »Ich warte nur, daß ihr euch zeigt, damit ihr meine Bleibonbons kostet.«
Als die Indianer sahen, daß keiner ein Lebenszeichen gab, schnellten sie wieder acht bis zehn Pfeile nach den Hampelmännern. Diesmal sprang der kühnste von ihnen aus dem Dickicht hervor und schwang seine furchtbare Keule.
Carmaux hatte das Gewehr erhoben und wollte gerade losdrücken, als plötzlich vier Schüsse, von schrecklichem Geheul gefolgt, mitten im Urwald knallten.
Der Indianer sprang blitzartig zurück und verschwand.
Der Korsar und der Spanier wachten von den Schüssen jäh auf. Sie glaubten, daß die Indianer das Lager angegriffen hätten. »Was war das?«
»Inmitten des Gehölzes wird gekämpft, Kapitän!« erklärte Stiller.
»Die Indianer müssen andere weiße Männer angegriffen haben.«
»Vielleicht den Gouverneur mit seinem Gefolge?«
»Wahrscheinlich!«
»Es ist durchaus nicht nach meinem Sinne, daß er von Indianern getötet wird!«
Wieder ertönte in der Ferne wütendes Geschrei, wie von einem ganzen Rothäutestamm. Dann schwieg alles.
»Der Kampf scheint beendet«, sagte der Spanier lauschend. »Für den Gouverneur würde ich nichts unternehmen, aber für meine Landsleute, die mir leid tun.«
»Ich möchte doch wissen, ob mein Todfeind noch lebt!« rief der Flibustier. »Du kennst ja den Weg, Katalone!«
»Die Nacht ist sehr dunkel, Herr, jedoch ...«
»Können wir nicht Gummibaumzweige anzünden?«
»Dann würden wir ja die Aufmerksamkeit der Indianer erregen.«
»Unser Kompaß kann uns doch führen!«
»Der zeigt nicht! Wie können wir die hunderttausend Hindernisse überwinden, die dieser dichte Wald bietet! ... Ich weiß einen Rat: Dort sehe ich Cucuyus! Komm mit, Mokko!«
Er begab sich zu einer Baumgruppe, in der große grüne Punkte leuchteten, die wie Phantome durch die Finsternis flogen. Dann machte er Sprünge, bald rechts, bald links, als ob er dieselben erjagen wollte.
Nach zwei Minuten kehrte der Spanier schon ins Lager zurück, die Mütze mit der Hand bedeckend. Er holte einige Insekten hervor, die ein schönes blaßgrünes Licht ausstrahlten und die Dunkelheit wirklich ein wenig erhellten.
»Binden wir immer zwei dieser Leuchtkäfer an den Beinen zusammen, wie es die Indianer machen! Wer hat einen Faden?«
»Ein Seemann hat immer Bindfaden«, sagte Carmaux. »Gib her!«
»Aber nicht zu fest!«
»Du hast ja noch Reserven, deine Mütze ist voll!«
Die Flibustier banden nun behutsam die Cucuyus an die Fußknöchel ihrer Gefährten. Diese nicht leichte Aufgabe erforderte eine gute halbe Stunde. Endlich waren alle mit den kleinen lebenden Kerzen versehen und schritten durch dichtes Gestrüpp und Lianengirlanden weiter. Sie glitten über riesige netzbildende Wurzeln hinweg und turnten über Baumstämme, die vom Alter oder Blitz gefällt worden waren.
Die Gewehrschüsse hatten aufgehört. In der Ferne jedoch vernahm man ab und zu Indianergeschrei. Zwischendurch Flötentöne und dumpfe Trommellaute.
Die Schlacht schien beendet.
Den Spanier drängte es, das Schicksal seiner Landsleute zu erfahren; er fürchtete, daß einige von ihnen lebend in die Hände der Menschenfresser gefallen wären.
Jetzt war das Geschrei nicht mehr weit. Da stolperte Carmaux über eine Masse und fiel zu Boden, wobei er die an seinen Füßen befindlichen Cucuyus zerdrückte.
»Donnerwetter!« schrie er, sich langsam wieder erhebend. »Was ist denn das? Ein Toter?«
Ein langer Indianer, die Hüften mit einem dunkelblauen Röckchen bekleidet, den Kopf mit Arafedern geschmückt, lag zwischen getrockneten Blättern und Wurzeln. Ein Schwertstoß schien ihm den Schädel gespalten und eine Kugel die Brust durchbohrt zu haben. Er mußte erst vor kurzem getötet worden sein, denn aus der Wunde strömte noch Blut.
»Hier hat ein Zusammenstoß stattgefunden!« sagte Stiller. »Da liegen ja auch Keulen und Pfeile.«
Statt der Landsleute fand der Spanier noch einen anderen Indianer im Dickicht. Zwei Kugeln hatten ihn durchbohrt.
Die Verfolger setzten ihren Weg fort. Immer näher kamen die Indianerstimmen, und die Flibustier berechneten, daß es nur noch eine Viertelstunde bis zum Lager der Menschenfresser sein konnte.
Die Arawaken schienen wirklich einen Sieg zu feiern, denn heitere Flötentöne mischten sich in das Geschrei.
Da sah man ein helles Licht durch das Laubwerk. Es loderte eine Flamme auf.
»Sollten das die Indianer sein?« fragte der Korsar und blieb stehen.
»Ja!« sagte der Spanier. »Aber wen mag man da auf dem Feuer braten?«
»Vielleicht einen Gefangenen?«
»Ich fürchte!«
»Kanaillen!« murmelte der Korsar, den unwillkürlich schauderte. »Kommt, Freunde, wir wollen sehen, ob van Gould dem Tode entronnen ist oder ob ihn die Strafe für seine Missetaten ereilt hat!«
Ein entsetzliches Bild bot sich den Flibustiern, als sie sich den Bäumen näherten, die das Lager der Indianer umgaben.
Eine Schar Arawaken saß um ein Kohlebecken und röstete an einem langen Spieß ihre Speise. Wenn es sich um ein Stück Wild, einen Jaguar oder einen Tapir gehandelt hätte, würden die Flibustier sich nicht beunruhigt haben, aber der Braten bestand aus menschlichen Kadavern, aus zwei weißen Männern, wahrscheinlich von van Goulds Eskorte.
Den beiden Unglücklichen waren soeben die Eingeweide herausgenommen worden, was einen ekelhaften Geruch verbreitete.
»Hölle und Teufel!« rief Carmaux schaudernd. »Ist es möglich, daß es Menschen gibt, die sich von ihresgleichen nähren! Puh! – Diese Bestien!«
»Es sind zwei unserer Soldaten, ich täusche mich nicht, obwohl die Bärte schon verbrannt sind!«
Er sah den Kapitän flehend an.
»Du möchtest sie gern diesen Ungeheuern entreißen und ihnen ein ehrliches Grab geben? – He, Carmaux, Stiller, ihr seid gute Schützen, verfehlt euer Ziel nicht! Feuer!« befahl der Korsar.
Zwei Schüsse knallten. Der eine Indianer fiel über den Braten, und der zweite, der die große Gabel hielt, sank mit zerschmettertem Schädel hintenüber.
Die andern waren hastig aufgesprungen. Aber sie mußten wohl von dem plötzlichen Überfall so erschreckt worden sein, daß sie nicht gleich an eine Verteidigung dachten. Der Spanier und Mokko machten sich diese Verwirrung zunutze und feuerten mitten in die Schar hinein.
Als die Arawaken ihre Leute fallen sahen, wandten sie sich zur Flucht, ohne sich weiter um ihre Speise zu kümmern.
Der Spanier hatte mit wuchtigem Schlag den Bratspieß umgestoßen, während Stiller das Feuer löschte. Mokko und Carmaux hatten sich zweier Schaufeln bemächtigt und gruben hastig in dem weichen, feuchten Erdboden ein Loch, in das sie die Kadaver legten. Indessen hielt der Korsar am Rande des Gehölzes Wache.
Da sich kein Indianer mehr hören noch sehen ließ, befahl der Korsar, den Marsch fortzusetzen. Der dichte Wald bestand hauptsächlich aus Miritenpalmen mit riesigen Stämmen, an denen scharfe Dornen saßen, welche die Kleider der Flibustier zerrissen, und aus Kandelaberbäumen. Die Vögel wurden seltener, und Affen fehlten ganz.
Nach mehreren Wegstunden erhielt der Wald ein anderes Aussehen. Statt der Palmen Rohrgebüsch, Bombax, Käsebäume – nach ihrem weißen, käsigen Holz benannt –, dazu Orchideen, Farn und Passifloren. Der bisher trockene Boden war jetzt mit Wasser vollgesogen und die Luft voller Feuchtigkeit.
Tiefe Stille herrschte unter diesen Pflanzen. Kein Vogelsang oder Affenschrei, noch das Maunzen des Jaguars war zu hören.
»Hölle und Teufel!« rief Carmaux. »Wir scheinen über einen Kirchhof zu gehen!«
»Diese Feuchtigkeit dringt mir in die Knochen«, sagte Stiller. »Sollte das der Anfang eines Sumpffiebers sein?«
»Bah, wir haben ein dickes Fell!« tröstete Carmaux.
»Wenn wir nur etwas zu essen hätten!« bemerkte Mokko. »Hier gibt es aber weder Wild noch Früchte, nur Schlangen!«
»Aber Gevatter!«
»Donnerwetter! Wenn wir nichts anderes haben, kochen wir sie und denken, es seien Aale.«
»Puh!«
Auch unter diesen Gewächsen war die Hitze groß und entkräftend, so daß die Flibustier aus allen Poren schwitzten.
Der Weg wurde von Zeit zu Zeit durch breite Pfuhle unterbrochen, die voller Wasserpflanzen und schwärzlichen, übelriechenden Wassers waren. Oft mußten sie nach einem Übergang suchen. Es wimmelte hier von Reptilien, welche die Nacht erwarteten, um Frösche und Kröten zu jagen.
Nachdem sich die fürchterliche Hitze um drei Uhr etwas gelegt hatte, nahmen die Flibustier nach einer kurzen Rast ihren Marsch durch die von Myriaden Mücken umschwirrten Sümpfe wieder auf.
Zuweilen sanken sie tief in den Boden ein.
Manchmal hob sich der Kopf einer Wasserschlange aus den stehenden Gewässern heraus, oder es erschien eine Schildkröte mit dunkelbraunem, rötlich gesprenkeltem Panzer, um sofort wieder unterzutauchen.
Immer noch fehlten die Wasservögel, welche die gefährlichen Nebel nicht vertragen konnten.
Gegen Abend machten die Wanderer eine Entdeckung, die ihnen den Beweis lieferte, daß sie sich wirklich auf der Spur der Flüchtlinge befanden.
Sie entdeckten am Fuße einer Simarube, die sich einsam mit ihrer Blütenlast erhob, die Leiche eines spanisches Soldaten. Die Füße waren bereits von Schlangen oder Termiten angefressen. Das Gesicht war aschfahl, mit Blut bespritzt, das aus einer kleinen Wunde der rechten Schläfe floß.
Der Katalonier hatte sich über den Unglücklichen gebeugt.
»Pedro Herrera!« rief er bewegt. »O Herr! Es war ein tapferer Soldat und ein guter Kamerad!«
»Die Indianer werden ihn getötet haben!«
»Vielleicht nur verwundet, aber sein Mörder war eine Fledermaus. Seht Ihr nicht das kleine Loch an der Schläfe, aus der noch Blut fließt? Das ist von einem Vampir ausgesogen.«
»Wann ist der Soldat denn gestorben?« »Vielleicht heute früh. Wäre er schon seit gestern tot, hätten ihn die Termiten bereits aufgefressen!«
»Also ist unser Feind in der Nähe!« rief der Korsar. »Morgen wirst du hoffentlich dem Gouverneur die fünfundzwanzig Stockhiebe heimzahlen können! Jetzt ruht euch aus; wir werden nicht eher wieder rasten, bis wir van Gould erreicht haben!«
Carmaux, Stiller und der Spanier streckten sich unter einer Simarube aus und schwatzten noch eine Weile.
Der Kapitän lag abseits von ihnen und hörte sie nicht.
»Der Kommandant läßt uns ja wie die Pferde laufen«, sagte Carmaux.
»Er will doch so bald als möglich seine Rache vollziehen«, meinte der andere.
»Und seine ›Fólgore‹ wiedersehen!«
»Und die junge Herzogin!«
»Wahrscheinlich auch.«
»Schlafen wir, Carmaux!«
»Schlafen!... Hast du nicht gehört, was der Katalonier von den Vögeln erzählte, die das Blut aussaugen? ... Donnerwetter! ... Wenn wir um Mitternacht ganz ausgesaugt würden! Mit dieser Vorstellung werde ich nicht ruhig schlafen können.«
»Der Katalonier hat sich doch über uns lustig machen wollen, Carmaux!«
»Nein, Stiller! Auch ich habe von Vampiren sprechen hören.«
»Und was sind das für Wesen?«
»Es scheinen ganz häßliche Vögel zu sein. Hallo, Katalonier, siehst du nichts in der Luft? ...«
»Ja, die Sterne«, antwortete der Spanier.
»Ich meine, ob du Vampire siehst!« »Es ist noch zu früh. Sie verlassen ihre Verstecke erst dann, wenn die Menschen und Tiere behaglich schnarchen.«
»Was sind denn das für Wesen?« fragte Stiller.
»Das sind Fledermäuse mit langer, vorstehender Schnauze, großen Ohren und weichem Fell; auf dem Rücken sind sie rotbraun und auf dem Bauche gelbbraun. Ihre Flügel haben eine Länge von vierzig Zentimetern und mehr.«
»Und du sagst, daß sie das Blut aussaugen?«
»Ja, und das machen sie so zart und vorsichtig, daß man es nicht gewahr wird, da sie einen solch feinen, dünnen Rüssel besitzen, daß sie die Haut durchstechen, ohne einen Schmerz zu verursachen.«
»Ob welche hier sein werden?«
»Wahrscheinlich.«
»Und wenn sie auf uns herabkämen?«
»Ach, eine Nacht genügt nicht, um mir mein Blut auszusaugen. Das würde nur ein Aderlaß sein, der in diesem Klima mehr nützlich als schädlich wäre. Es ist aber wahr, daß die Wunden erst lang danach heilen.«
»Ist dein Freund nach einem Aderlaß in die andere Welt eingegangen?« fragte Carmaux.
»Na, wer weiß, wieviel Blut er schon vor der Verletzung verloren hatte! Gute Nacht, Caballero, um Mitternacht gehen wir weiter!«
Carmaux ließ sich ins Gras nieder; doch bevor er die Augen schloß, sah er lange nach den Zweigen der Simarube hinauf, um sich zu überzeugen, daß da nicht ein gieriger Blutsauger versteckt wäre.