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Wir aßen, tranken und stießen miteinander an. Es war gewiß eine seltene Verlobungsfeier, die wir hier begingen auf dem sinkenden Schiff und unter ernsten Gedanken. So oft ich aber das holde Wesen neben mir sah, jubelte es in mir auf und mich überkam eine feste, freudige Zuversicht. Unmöglich konnte doch Gottes Liebe und Barmherzigkeit zugeben, daß dies herrliche Geschöpf seiner Hand von dem schrecklichen Ungeheuer, der See, verschlungen wurde. Glückselige Gedanken ließen mich dann in die Heimat fliegen, wo ich das geliebte Weib an meiner Seite sah. Hierbei fiel mir unwillkürlich der Steward ein, der Frau und Kind zu Haus hatte. Ich nahm sofort von unserm Essen und Getränk, ging zu ihm und forderte ihn auf, es sich schmecken zu lassen. Er nahm, was ich ihm bot, aber der leere Blick, mit dem er mich ansah, und sein blödsinniges Lachen, ließen mich schaudern.
»Mein Gott,« sagte ich, meinen früheren Platz wieder einnehmend, zu meiner Braut, »ich weiß nicht, ob es nicht besser gewesen wäre, wenn ich den armen Burschen nicht gehindert hätte, in die See zu springen, was soll das für ein Wiedersehen für die Frau werden? Sie würde ihn lieber gar nicht zurückkehren sehen, als in diesem trostlosen Zustande.«
»Nein, sage das nicht,« entgegnete sie, »so lange noch Leben ist, ist Hoffnung. Gefällt es Gott, uns in die Heimat zurückzuführen, so wollen wir nach besten Kräften für den armen Menschen sorgen. Es kann doch sein, daß friedliche, ruhige Verhältnisse allmählich die Eindrücke verwischen, welche seinen Geist umnachten, und sein Verstand sich wieder aufhellt. Ach Gott, als ich das russische Schiff abfahren sah, dachte ich selbst einen Augenblick, ich müsse den Verstand verlieren.«
»Und doch hast du, Engel, gerade damals meinen gesunkenen Mut wieder aufgerichtet, mich wieder zum Manne gemacht, mich an meine Pflichten erinnert. Auch jetzt haben wir keine Zeit zu versäumen. Forward, kommen Sie, wir wollen das Boot flott machen.«
Ich streichelte ihr noch einmal zärtlich die Wange, dann ging ich. Als ich im Boot all die Vorräte sah, welche die Meuterer darin verstaut hatten, sagte ich: »Wissen Sie, Forward, wir würden uns doch in einer grausam hoffnungslosen Lage befinden, wenn wir nicht in diesem Boot angegriffen worden wären, und es dabei in unsere Hände bekommen hätten. Sagen Sie um Gottes willen, was wäre aus uns geworden? Das andere, elende, zerschlagene Boot hätten wir doch kaum seetüchtig machen können.«
»Ja, ja, Sir, Sie haben recht, da wäre die Sache doch verdammt faul gewesen; so, wie sie jetzt steht, können wir noch ganz zufrieden sein, zumal sich das Wetter mehr und mehr aufklärt. Ich wünschte nur, der arme Jim wäre noch am Leben, es ist mir beinah, als ließen wir ihn hilflos ertrinken, wenn wir hier fortgehen, ohne ihn richtig einzusenken, und doch sehe ich ein, es wäre Unsinn, das zu tun. Wie viele Leben sind doch zugrunde gegangen, seit wir den Kanal verließen, und wer hat sie auf dem Gewissen? Einzig und allein die Reeder. Nur diese Filze haben alles mit ihrem Geiz verschuldet. Wenn der verfaulte Fraß nicht war, konnte alles anders sein.«
Wir überzeugten uns nun, ob auch alles im Boot vorhanden sei, was wir brauchten. Wir fanden vier Wasserfäßchen darin, mehrere Zinnkisten mit Kajütenzwieback, Fleisch- und Gemüsepräserven, Zucker, Mehl usw., außerdem Nägel, allerlei Handwerkszeug, Fischgerät, Streichhölzer, ein Brennglas, kurz alles, was wir nur wünschen konnten. Die Auswahl war mit viel Überlegung getroffen worden, doch fehlte noch einiges, was den Meuterern allerdings nichts genutzt hätte, für mich aber von großer Wichtigkeit war, nämlich ein Bootskompaß, die Seekarte, ein Sextant, der nautische Kalender, Papier und Bleistift. Ich holte dies alles und verwahrte es sorgfältig in dem Behältnis unter der hintersten Sitzbank.
Bei dieser Arbeit ließ ich mir von meiner Braut helfen, damit sie die Angst vergessen sollte, die das immer tiefer sinkende Schiff selbst dem tapfersten Herzen verursachen mußte. Auch hierbei zeigte sich wieder ihre kluge Umsicht, denn sie war es, welche daran erinnerte, Lampen, Öl und Dochte mitzunehmen, als wir schließlich überlegten, ob wir auch nichts vergessen hätten.
Wir fügten noch einige Kleidungsstücke und Decken hinzu, und schafften zum Schluß noch einen Mast nebst Segel und Zubehör ins Boot. Der Nachmittag war schon weit vorgeschritten, als wir mit unsern Vorbereitungen zu Ende waren, und da der Wind sich vollständig gelegt hatte, das Wasser ruhig geworden war, auch sich ringsumher kein Wölkchen an dem heiteren blauen Himmel zeigte, so hielten wir es für geraten, nunmehr das Boot herabzulassen.
Wir gingen sogleich ans Werk und bald schwamm es längsseit. Forward stieg zuerst hinein, dann mit unserer beiderseitigen Hilfe meine Mary. Darauf eilte ich zu dem Steward, faßte ihn an den Armen und zog ihn schnell nach der Fallreepstreppe. Er leistete zuerst Widerstand, als ihm aber Forward zurief, seine Frau warte auf ihn, lief der Unglückliche so eilig die Treppe herunter, daß er um ein Haar ins Wasser gestürzt wäre. Ich blieb noch einige Augenblicke an der Fallreepstreppe stehen, in Gedanken gewissermaßen Abschied nehmend von der Stätte, auf welcher sich so wechselvolle Erlebnisse für uns abgespielt hatten; da hörte ich mich plötzlich bei meinem Taufnamen rufen. Es war die Stimme meines Herzensmädchens. Als ich mich umdrehte, sah ich Mary mit nach mir ausgestreckten Armen, bangen Blicks im Boote stehen. Ich ließ sie nicht warten, mit ein paar Sätzen war ich bei ihr. Sie streichelte meine Hand und zog mich dicht an ihre Seite auf die Bank nieder. »Ich wäre auf der Stelle wieder zu dir heraufgekommen, hättest du noch länger gezögert, einzusteigen,« flüsterte sie. »Wie konntest du mich nur so ängstigen, du böser Mensch, du, das Schiff konnte ja plötzlich sinken.«
»Oho,« lachte ich, sie überglücklich anblickend, »hat mein kleiner, tapferer Steuermann auf einmal alle seine nautischen Kenntnisse vergessen? Nein,« fügte ich wieder ernst werdend hinzu, »noch hat es eine Weile Zeit, ehe unser alter ›Grosvenor‹ hinabgeht.«
Forward hatte inzwischen abgestoßen und ein Ruder genommen, schweigend ergriff ich das andere. Wir brachten das Boot bis auf ungefähr eine Viertelmeile vom Schiff, dann zogen wir die Ruder ein. Eine tiefe Trauer hatte sich unser aller bemächtigt. Es war uns, als ob wir am Grabe eines treuen Freundes ständen und abwarteten, bis der Sarg hinabgesenkt würde in die Tiefe.
Der schwarze Rumpf stand jetzt nur noch etwa so hoch aus dem Wasser, wie der des Wracks, von dem ich damals Mr. Robertson und seine Tochter rettete. Wie winzig klein kam mir doch jetzt das arme, verstümmelte Fahrzeug vor, gegen die unendlich weite Wasserfläche, und doch, wie brav, wie wacker hatte es sich gehalten gegen alle Angriffe der furchtbaren Wogen, die es zu verschlingen suchten. Gewiß, nur wenige Seeleute können ihr Schiff vor ihren Augen versinken sehen, ohne von ähnlichen Gefühlen überwältigt zu werden, wie sie der Anblick eines ertrinkenden Menschen erregt. Sie sind verwachsen mit ihrem Schiff, sprechen von ihm wie von einem lebenden Wesen, sind stolz auf seine guten Eigenschaften und freuen sich seiner Erfolge. Wenn es aber nach hartem, tapferem Ringen, bezwungen von den Elementen, in trostloser Verlassenheit, still und ergeben dahinsinkt, gleich dem tapferen Krieger auf dem Schlachtfeld, dann beklagen sie es wie einen guten Kameraden.
Auch ich konnte mich einer tiefen Traurigkeit nicht erwehren; unsere Lage erschien mir von neuem in all ihrer Schwere, und mit Schaudern blickte ich auf das kleine, zerbrechliche Fahrzeug, von dem jetzt unser Leben abhing.
Allerdings war ja unser Boot neu und fest und zeigte, in Anbetracht seiner Kleinheit und verhältnismäßig schweren Beladung, noch ziemlich viel Bord, aber trotzdem war es ganz ausgeschlossen, daß es sich bei einem auch nur einigermaßen schweren Seegang halten konnte; nur wenn das Wetter gut blieb, durften wir hoffen, die Bermudas zu erreichen.
Ich hielt es in unserer Lage für Zeitverschwendung, bei dem günstigen Wetter noch länger untätig liegen zu bleiben, nur um gewissermaßen dem ›Grosvenor‹ die letzte Ehre zu erweisen und sprach mich in diesem Sinn gegen Forward aus.
Dieser aber entgegnete: »Was soll es uns nützen, Sir, wenn wir aufbrechen? Mit dem Segel können wir augenblicklich keine, auch nur nennenswerte Fahrt machen, und zu den Riemen zu greifen wegen der zwei oder drei Meilen, die wir durch Rudern erreichen könnten, möchte ich nicht raten. Das würde noch schlimmer sein als Pumpen und unsere Kräfte ganz unnötig vergeuden. Nein, wir wollen lieber den armen Jim nicht verlassen, bis er in seinem Sarge ein richtiges Seemannsgrab gefunden hat.«
Das war wieder ein Zug von dem biederen, braven Menschen, der seine Treue so recht kennzeichnete, und auch im übrigen hatte er recht, das ließ sich nicht leugnen. Wir blieben also ruhig liegen.
Der Steward saß auf dem Boden des Bootes, mit dem Rücken gegen den Mast gelehnt. Er zollte unserm Gespräch nicht die geringste Aufmerksamkeit und sah sich auch nicht um, nur manchmal richtete er seine Blicke längere Zeit nach dem Himmel, wie wenn es ihm wohl täte, ins Blaue zu sehen. Ich war herzlich froh, daß er so ruhig war, doch traute ich ihm nicht ganz, denn ein Verrückter ist stets unberechenbar.
Da der Abend allmählich hereinbrach, und wir schon seit Stunden nichts mehr genossen hatten, öffnete ich eine Büchse mit Fleisch und richtete eine Mahlzeit an. Forward und der Steward langten herzhaft zu, meine Mary aber ließ sich nicht bereden, mehr als etwas Sherry mit Wasser und Zwieback zu sich zu nehmen. Offenbar empfand sie die Gefahr unserer Lage um so tiefer, je mehr sich die Dunkelheit auf das Wasser legte. Öfter erschien es mir, wenn sie meine Hand fester drückte und die Augen zum Himmel erhob, als ob sie betete. Das Wrack war noch immer sichtbar, lag aber schon so tief im Wasser, daß ich jede Minute sein Verschwinden erwartete. Die Sonne hing dicht über dem Horizont und überflutete das Wasser mit purpurnem Glanz.
Eine wahrhaft heilige Stille herrschte in dem Boot. Plötzlich wurde dieselbe durch Forward unterbrochen, der mit trauriger Stimme sagte: »Da geht er hin, der alte ›Grosvenor‹.«
Schon sah man von dem Schiff nur noch die Spieren, die alle nach dem Stern zugeneigt standen. Mir stockte der Atem, als die Masten und Raaen immer tiefer sanken. Jetzt traf der letzte Abglanz des ins Meer tauchenden Feuerballs die obersten Spitzen der zitternden Spieren und dann, auf einmal war nichts mehr zu sehen, Schiff und Sonne waren gleichzeitig verschwunden. Wir waren allein auf der endlosen Wasserwüste, eingehüllt in tiefe Dunkelheit.
»Es ist vorbei,« murmelte Forward in hohlem Ton; »kein lebender Mensch wird jemals den ›Grosvenor‹ wiedersehen!«
Ein tiefer Seufzer entrang sich meiner Brust. Fest zog ich mein Lieb an mich. Ich fühlte, wie das arme Kind schauderte, als es den Kopf an meine Schulter lehnte. »Du liebes Herz,« flüsterte ich, indem ich sie auf die Stirn küßte und ihr Haar streichelte, »du bist ja mein liebes, starkes Mädchen und wirst nicht bangen; ehe die Sonne wieder ins Meer sinkt, können wir schon geborgen an Bord eines Schiffes sein. Halte fest an deinem Vertrauen auf Gott. Er hat bis hierher geholfen und wird auch weiter helfen. Ich werde jetzt Forward sagen, daß er die Schiffslaterne ansteckt und hißt, damit wir schon auf weite Ferne von jedem vorüberfahrenden Schiff gesehen werden können.«
Als ich mich nach diesen Worten Forward zuwandte, um ihm den Auftrag zu geben, sah ich, daß er uns den Rücken zugedreht und die Hände gefaltet hatte; er schien zu beten. Gewiß dachte er an Jim. Um keinen Preis hätte ich den guten, braven Menschen in seinem Gespräch mit seinem Herrgott stören mögen. So machte ich mich selbst daran, die Schiffslaterne anzuzünden und am Mast hinaufzuziehen; gleichzeitig steckte ich auch die Blendlaterne an und stellte sie auf die hinterste Sitzbank des Bootes.
Darauf trat ich wieder zu meinem Mädchen und sagte: »Liebling, ich will dir ein Lager auf dem Boden des Bootes zurechtmachen. Solange das Wetter gut bleibt, haben wir keine Ursache, uns zu ängstigen. Es würde mich glücklich machen, zu sehen, daß du schläfst.«
»Setz' dich wieder zu mir, ich will mich wieder an dich lehnen,« erwiderte sie, wie ein artiges Kind, »da werde ich vielleicht schlafen, da unten auf dem Boden würde ich keine Ruhe finden.«
Es war dies ein so süßes Vorrecht, daß ich natürlich keine Einwendung erhob; ich hüllte sie also erst in eine warme Decke, setzte mich dann wieder und schlang meinen Arm um sie; gleich darauf schloß sie, – wohl mir zu Gefallen, – die Augen.
Die meinigen streiften demnächst über das schwarze Wasser, welches meine Hand berühren konnte. Es durchschauerte mich. Der Gedanke, daß nur die schwachen Bretter des kleinen Fahrzeugs uns von der unermeßlichen Tiefe trennten, daß wir so einsam und verlassen, umhüllt von tiefer Dunkelheit, allen Zufällen, Schrecken und Gefahren des tückischen Elements preisgegeben, dalagen, ließ mich von neuem mehr denn je unsere verzweifelte Lage erkennen. Alles, was ich erduldet und erfahren, seit dem Tage, als Coxon mich in Eisen legen ließ, hatte meine Körper- und Geisteskräfte, meine Widerstandskraft geschwächt. Dies begann zu wirken. Ich sah auf einmal deutlich eine Küste mit unzähligen, funkelnden Lichtern, bald danach sah ich alles wieder plötzlich verschwinden. Ein wildes Entsetzen packte mich, ein Schwindel machte mich wanken, ich fürchtete, wahnsinnig zu werden. Da fiel mein Blick auf das geliebte Wesen an meiner Seite. Ich glaube wirklich, dieser Anblick rettete meinen Geist. Das Glück meiner Liebe kam mir wieder zu vollem Bewußtsein. Unwillkürlich zog ich mein Herzensmädchen noch fester an mich und blickte ihm in das holde Gesicht, auf welches die große Laterne von der Mastspitze her ihren Schein warf. Das wonnige Gefühl, diesen Engel mein nennen zu dürfen, verbannte mit einem Schlage alle Schrecknisse, die mich eben noch so fürchterlich gequält hatten.
Sie schlug die Augen auf, als ich sie so stürmisch an mein Herz drückte und lächelte, ahnte aber nicht, daß sie mich vor einem Geschick gerettet hatte, das tausendmal schlimmer war als der Tod. Wie ein müdes Kind, am Busen der Mutter, schloß sie bald wieder die Augen und schlief nach einer Weile auch wirklich ein.
Um sie nicht zu wecken, saß ich wohl über zwei Stunden mäuschenstill und brachte diese Zeit teils im Gebet, teils mit Gedanken zu, welche die weiteren Maßnahmen betrafen, die ich für unsere Rettung zu ergreifen gedachte.
Der Steward schlief in einer Stellung, wie sie eben nur ein Verrückter aushalten kann, nämlich knieend, den Kopf zwischen den Armen. Forward saß in der Spitze des Boots, mit verschränkten Armen, mir den Rücken zukehrend, den Blick in die Dunkelheit gerichtet. Ich flüsterte ihm einmal etwas zu, er war aber so in Gedanken versunken, daß er mich nicht hörte.
Da ich bei dem klaren Sternenhimmel lebhaft wünschte, zu meiner Orientierung einige astronomische Bestimmungen zu treffen und nicht wußte, wie spät es war, zog ich leise meine Uhr hervor und fand, daß es halb elf war. Obgleich ich die Uhr so vorsichtig als möglich wieder zurücksteckte, wachte meine holde Schläferin doch auf, hob den Kopf und sah sich schlaftrunken um.
»Wo sind wir?« rief sie. Dann kam ihr die Erinnerung. »Du armer Junge,« sagte sie, meine Hand nehmend, »du hast mich die ganze Zeit gestützt und warst müder als ich, aber jetzt bist du an der Reihe, komm, leg deinen Kopf auf meine Schulter, ich werde ganz still sitzen.«
»Nein, noch bist du an der Reihe,« entgegnete ich heiter, »und du sollst mir gleich wieder schlafen, nur einen Moment möchte ich aufstehen, da du gerade wach bist, um schnell zu versuchen, ob ich sehen kann, wo wir eigentlich sind. Du kannst mir die Laterne halten, während ich meine Berechnungen mache.«
Ich holte meinen Sextanten hervor und lehnte mich an den Mast; eben wollte ich das Instrument an mein Auge führen, als Forward plötzlich sehr erregt aufsprang und rief:
»Horchen Sie!«
»Hören Sie etwas?« fragte ich ganz erschrocken.
»St, ja, passen Sie auf!«
Ich strengte meine Ohren an, konnte aber nichts vernehmen als das Schlappen des Wassers an den Seiten des Boots.
»Hören Sie es denn nicht, Mr. Royle?« zischte er ungeduldig, ganz leise den Finger hochhaltend. »Miß Robertson, hören Sie denn auch nichts?«
Wieder entstand eine Pause, dann sagte Mary: »Ja, jetzt höre ich so etwas wie ein Klopfen!«
»So ist es!« rief ich, »gewiß, großer Gott, das kann nur ein Dampfer sein!«
»Bei meiner Seele, ja, es ist kein Zweifel,« schrie nun Forward wieder, in seiner Aufregung auf eine Bank springend, »aber wo ist er?«
Wir lauschten mit angehaltenem Atem und suchten die Dunkelheit mit unsern Blicken zu durchdringen.
Immer deutlicher wurde das pochende Geräusch; es klang genau wie eine Lokomotive bei stiller Nacht auf weite Entfernung. Der Ozean ist bei Windstille ein so feiner Leiter für alle Töne, daß man das Arbeiten der Maschine eines Dampfers schon vernimmt, wenn der Rumpf des Schiffes noch unter dem Horizont ist. Es war deshalb für uns vorläufig unmöglich, ein Urteil über die Nähe des Schiffes zu gewinnen.
»Ha! es wird immer lauter,« jubelte auf einmal Forward. »Nun, Mr. Royle, an die Arbeit, befestigen Sie schnell die Blendlaterne an ein Ruder und schwenken Sie sie hin und her, während ich die Mastlaterne auf- und niederziehe.«
Er war wie ausgewechselt, ein ganz anderer Mensch wie damals, als der Russe in Sicht kam. Eilig stürzte er an den Mast und ließ die Laterne auf- und niedergehen, daß es nur so rasselte. Mir zitterten bei dem Anbinden der Laterne an das Ruder vor Aufregung die Hände derart, daß meine Mary mir helfen mußte. Als ich endlich mit dem Schwenken beginnen konnte, rief ich ihr zu: »Unter dem Sitz am Steuer, in der Ecke linker Hand, liegt ein geladener Revolver, nimm ihn und gib einen Schuß ab, halte aber hoch, damit der Schall weit geht.«
Ohne Besinnen folgte mein tapferes Mädchen meiner Anweisung; kaum eine Minute später krachte der Schuß.
Wir stellten die Bewegung der Laterne ein und standen alle drei wie angemauert. Während der ersten Sekunden hörte ich nichts, dann aber traf wieder, nunmehr völlig deutlich und klar, das Geräusch des ausgestoßenen Rauches unser Ohr.
»Hurra! ich seh' es!« brüllte Forward. »Da, da ist es!« fügte er, mit dem Finger zeigend, hinzu. Ich folgte der Richtung und erkannte nicht allein den Rumpf des Schiffes, sondern auch den Rauch, der aus seinem Schornstein zu den Sternen aufstieg.
»Mary, noch einen Schuß!«
Wieder dröhnte der scharfe Knall durch die Stille der Nacht. Fast gleichzeitig mit diesem flog eine blaue Feuerkugel zum Himmel empor, ihr folgte in kurzen Zwischenräumen eine zweite und dritte. Kurz danach leuchtete ein helles rotes Licht über die See.
»Gott sei gepriesen, sie haben uns gesehen!« rief ich mit vor Bewegung zitternder Stimme; »Mary, Herzenskind, der alte Gott lebt noch! Die Erlösung naht!« Und mit wahrer Wut begann ich wieder meine Laterne zu schwenken.
Meine Anstrengung war aber nicht länger nötig. Das rote Licht kam näher und näher, der Schatten wurde größer, man konnte schon das Rauschen des durch die Räder aufgeworfenen Wassers hören.
Nach kurzer Zeit traten die Umrisse des Schiffes deutlich gegen die Sterne hervor und eine Stimme tönte zu uns herüber: »Hallo! Was ist das für ein Licht?«
Ich rief Forward zu, er solle antworten; meine Stimme wollte mir augenblicklich nicht aus der Kehle.
Er machte seine Hände hohl und brüllte: »Schiffbrüchige in einem Boot!«
Hiernach kam der Schatten schnell näher, und bald konnte ich einen langen schwarzen Rumpf, einen Schornstein, der dichte Rauchmassen, vermischt mit Feuerfunken, ausströmte, spitz zulaufende Masten und zierliches Takelwerk unterscheiden. Ich hörte den dumpfen Ton eines Kommandos durch das Sprachrohr. Die Fahrt des Schiffes verlangsamte sich. Dann vernahm ich den Ruf: »Stopp«. Das Geräusch der Räder hörte auf. Das Schiff glitt noch eine kleine Weile langsam auf uns zu, und dann hielt es an.
»Boot ahoy!« rief uns jetzt eine starke Baßstimme an.
»Hallo!« antwortete Forward.
»Könnt Ihr Euch längsseit bringen?«
»Ja, ja, Sir!«
Ich warf mein Ruder aus, zitterte aber so heftig, daß ich kaum imstande war, es zu handhaben. Wir wandten die Spitze des Boots dem Dampfschiff zu und ruderten ihm entgegen. Es trug ein rotes Licht am Bug und ein weißes Licht an der Backbordseite; außerdem bewegten sich mehrere Lichter an der Fallreepstreppe.
»Hallo! Wie viele seid ihr?« ließ sich die Stimme von vorher wieder hören.
»Drei Mann und eine Dame!«
»Braucht ihr Hilfe, um das Boot heranzubringen?«
»Danke, wird schon gehen, in ein paar Minuten sind wir da,« rief Forward.
Damit hatte er noch mehr versprochen, als er halten konnte. Die Deutlichkeit, mit welcher wir verstanden hatten, was man uns zugerufen, und mit welcher trotz der Dunkelheit die Umrisse des Schiffes zu erkennen waren, hatte uns über dessen Entfernung vollständig getäuscht.
Forward besorgte die Ruderarbeit fast allein; die Gemütsbewegung, die plötzlich über mich gekommen war, nun ich die Rettung vor mir sah, nahm mir alle Kräfte. Nur sehr langsam schlich das Boot über das Wasser, es dauerte fast eine halbe Stunde, bis wir den Dampfer erreichten.
»Wir werden euch ein Tau zuwerfen,« rief einer, »paßt auf!«
Ich blickte an dem hohen Bord des Dampfers hinauf; eine Menge Menschen waren an der Fallreepstreppe versammelt. Viele hielten die Laternen, die sie trugen, so über Bord, daß ihr Licht auf uns fiel. Ein Mann, der ganz vorn stand, wohl der Kapitän, fragte:
»Seid ihr imstande, die Treppe allein heraufzukommen, oder soll ich Leute herunterschicken?«
»Für die Dame und für einen Mann, der den Verstand verloren hat, würde ich Hilfe dankbar annehmen,« erwiderte ich; »wir beiden andern bedürfen keines Beistandes.«
Hierauf wurde die Treppe niedergelassen und zwei Matrosen stiegen zu uns herab.
»Zuerst die Dame,« sagte ich fast tonlos; mir wurde plötzlich so eigen zumute, daß ich mich fest an den Mast klammern mußte, um nicht umzusinken.
Sie faßten sie an den Armen, hoben sie geschickt auf die Treppe und halfen ihr auf Deck.
»Forward, treuer Gefährte!« rief ich mit meiner letzten Kraft, während sich alles um mich drehte, »sie ... sie ist ... gerettet ... ich glaube ... ich sterbe ... Gott segne sie! ... und ... Ihre Hand ... braver Maat ...«
Ich erinnere mich noch, daß ich diese Worte mit großer Anstrengung ausstieß und mit verschleiertem Blick sah, wie Forward auf mich zustürzte. Er fing mich in seinen Armen auf, als ich zusammenbrach.