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Zweiundzwanzigstes Kapitel.
Fortsetzung.

Daß vier Menschen bei solchem Sturm ein großes Schiff wie das unsere, dicht an den Wind gebracht hatten, ohne eine Spiere zu verlieren, war eine Leistung, die ich nicht für möglich gehalten hätte. Wir durften stolz auf uns sein, wenn wir bedachten, daß noch vor wenigen Stunden das Schiff vollständig in Segel eingehüllt war und wir es soweit entkleidet hatten, daß es imstande war, einem wütenden Orkan zu begegnen.

Wie das Schiff jetzt lag, bot die Bedienung des Rades keine Schwierigkeit; wäre keine schlimmere See zu fürchten gewesen, als in diesem Augenblick, so hätten wir das Steuer und das Schiff ruhig liegen lassen können. Da die zerrissenen Segel einen unerträglichen Lärm machten, befahl ich Cornish, sein Messer zu nehmen und mir zu helfen, die Leinwand loszuschneiden. Wir zogen die Brassen fest an, um den Raaen mehr Halt zu geben, stiegen dann ins Takelwerk und entfernten in kurzer Zeit die Fetzen der Segel. Sie flogen davon wie Papier und wurden beinahe eine halbe Meile fortgetragen, ehe sie ins Wasser fielen.

Während dieses Geschäfts hätte uns der Sturm fast von unserem schwanken, hohen Standort in die Tiefe hinabgeschleudert; es war, als ob er uns die Seele aus dem Leibe blasen wollte. Ich war froh, als ich wieder auf Deck war, nicht allein um des größeren Schutzes willen, sondern auch wegen der Fock- und Vorbramstengen, welche bei dem Schlingern des Schiffes ganz bedenklich schwankten; ich fürchtete jeden Augenblick, daß sie mit der ganzen Last der Raaen herunterbrechen würden.

Jedoch weder Cornish noch ich hatten vorderhand Kraft genug, die Stengen durch Stützen besser zu befestigen. Unser Aufstieg, unser Aufenthalt im Takelwerk und unser Kampf mit dem Sturm hatten uns gänzlich erschöpft. Bei Cornish stellte sich vor Übermüdung jene stumpfe Gleichgültigkeit ein, wie sie Schiffbrüchige zeigen, die zuletzt aus Überanstrengung umsinken und in eine ähnliche Betäubung verfallen, wie Menschen, die den Tod des Erfrierens sterben.

Da ich einige Zeit Ruhe genossen hatte, so war es nicht mehr als billig, daß ich nunmehr das Rad übernahm und Forward und Cornish schlafen gehen ließ. Ich wies dem letzteren die Koje an, welche Stevens bewohnt hatte und bat Forward, dem Steward zu sagen, daß er aufpassen solle, wenn ich riefe, um sogleich heraufzukommen.

Als die beiden mich verlassen hatten, war ich allein auf Deck. Zu meiner Bequemlichkeit und um dem Ruder mehr Halt zu geben, legte ich die Steuerkette fest; dann kauerte ich mich nieder, um etwas Schutz gegen die furchtbare Gewalt des Windes zu gewinnen.

Ich fand nun Zeit zum Nachdenken, und unsere Lage kam mir zum vollen Bewußtsein. Bisher hatte mich die Arbeit ganz in Anspruch genommen; jetzt übersah ich alles und erschrak. Die Verwüstung im Takelwerk war eine entsetzliche.

Mein Blick fiel auf das große Marssegel; ich betrachtete es mit Sorge, denn von ihm konnte möglicherweise unser Leben abhängen; außerdem hatten wir zurzeit als einzig brauchbares Segel nur noch das Fockstengen-Stagsegel. Riß der Sturm das große Marssegel fort, dann fiel aller Wahrscheinlichkeit nach das Schiff mit seiner Spitze sogleich ab und trieb aus Mangel an genügender Leinwand ziellos vor den Wogen her, welche über den Stern schlagen und das ganze Deck überschwemmen würden.

Ebenso drohte uns die andere Gefahr, die Fockstenge zu verlieren, da sie das ganze Gewicht des Stagsegels zu tragen hatte. Wenn das geschah, so ging auch dieses Segel verloren, das Schiff drehte sich und trieb dann über Steuer fort.

Wären mehr Hände an Bord gewesen, so hätte ich einen Teil der Ladung aus dem Schiffsraum schaffen und über Bord werfen lassen, um das Schiff zu erleichtern und dadurch die Spannung zu verringern. Mit der nötigen Mannschaft wäre es auch leicht gewesen, ein Schnausegel an Stelle des verlorenen Marssegels zu setzen, Bürgpardunen an Fockmast und Fockstenge zu befestigen und die Oberbramraaen herunterzunehmen, um die Masten weniger zu gefährden. Aber was konnten wir vier Menschen, die kaum noch die Finger vor Ermattung zu regen vermochten, von alledem ausführen? Uns blieb vorläufig nichts übrig, als abzuwarten, was noch über uns hereinbrechen würde.

Umgeben von dem tobenden, heulenden Sturm und dem Donnern der schweren See, deren Wassermassen über die Schiffsseite stürzten, fühlte ich mich recht mutlos und verlassen.

Ich verblieb auf meinem Posten am Rade, denn ich wünschte sehnlichst, daß der Hochbootsmann und Cornish durch einen erquickenden Schlaf wieder zu Kräften kommen möchten. Falls einer der beiden zusammenbrach, dann, in der Tat, war das Schiff verloren, und wir mit ihm.

Noch waren beide keine Stunde unten, als eine ungeheure Woge das Schiff auf dem Steuerbordbug faßte und Ströme von Wasser über das Deck ergoß. Der Stern des Schiffes sank in ein schwarzes Wellental und als gleich darauf die Riesenwoge unter der Gillung hinlief, den Stern wieder hebend, da stürzte der Bug in eine tiefe Mulde hinab. Noch ehe sich das Schiff wieder ganz gehoben hatte, rollte eine zweite, mächtige Welle heran und erdrückte es fast durch den Wasserschwall, der das Vorderdeck überflutete.

Noch eine solche Woge, und unser Schicksal war besiegelt. Glücklicherweise waren solche Wogen Ausnahmen, kleinere folgten und das kämpfende, arbeitende Schiff war immer noch am Leben. Am Leben, aber verstümmelt. Der letzte schreckliche Anprall hatte den Klüverbaum dicht an der Spitze des Bugspriets weggerissen und die Vorbramstenge unmittelbar über der Vorbramraa abgebrochen. Die Stenge hing im Tauwerk noch fest, der Klüverbaum war aber leewärts weggetrieben.

Das Unglück war nicht groß; im Gegenteil, mir wäre es ganz lieb gewesen, wenn alle drei Oberbramstangen über Bord gegangen wären, denn das Gewicht ihrer Raaen, die in großen Schwingungen hin- und herschaukelten, machte die unteren Masten lose und gefährdete die Decks.

Die größte Sorge flößte mir jetzt die Fockstenge ein, an welcher die abgebrochene Stenge hing, und außerdem die noch stehende Vorbramraa, welche das heftige Zerren des Fockstengen-Stagsegels auszuhalten hatte.

Da ich die Folgen fürchtete, die der Verlust dieses Segels nach sich ziehen mußte, rief ich den Steward und befahl ihm, den Hochbootsmann und Cornish zu wecken.

Forward erkannte auf den ersten Blick die Gefahr. »Die Fockstenge ist verloren, wenn wir nicht die Stagsegelfalls loswerfen und die Vorbramstenge fallen lassen,« brüllte er mir ins Ohr.

»Tun Sie das,« erwiderte ich.

Sie eilten fort, aber es dauerte eine Ewigkeit, bis sie auf dem Vorderdeck erschienen. Kein Wunder; sie hatten sich auf dem Hauptdeck durch schwere Sturzseen hindurch arbeiten müssen.

Ich wäre ihnen gern behilflich gewesen, das Stagsegel niederzuholen, konnte aber jetzt vom Rade nicht weg, da das Schiff Neigung zum Abfallen zeigte. Mich packte aber auf einmal die Angst, daß wenn die Fockstenge mit dem fallenden Segel herunterkäme, ein Unglück passieren könnte. Ich schrie und winkte deshalb aus Leibeskräften. Endlich verstand Forward die bezeichnenden Bewegungen meiner Arme, ich sah, wie er Cornish beiseite schickte, dann selbst nach der Leeseite lief, hier die Schoten des Segels loswarf und dasselbe schließlich zum Niederfallen brachte.

Der Lärm war furchtbar, als Segel und Mast herunterkamen, er übertönte sogar das Geheul des Sturms. Es war ein schrecklicher Anblick, als Mast und Raaen an den Wanten hingen, vom Sturm hin- und hergeschleudert wurden, und Sturzsee auf Sturzsee dieses Gewirr überflutete.

Das Segel lag halb im Wasser und jeder Woge sich entgegenblähend, zog es die Spitze des Schiffes noch kräftiger herum, als im regelrechten Zustand. Von dem Tauwerk noch gehalten, war der heruntergekommene Mast nebst Segel eine furchtbare Gefahr für das Schiff.

Die Taue mußten gekappt werden, um diese Gefahr zu beseitigen.

In dem Hochbootsmann hatte ich einen herrlichen Verbündeten. Klug, sicher und unerschrocken, ein Seemann vom Scheitel bis zur Sohle, ging er sogleich mit Cornish ans Werk, nachdem sie sich Beile geholt hatten.

Ich würde nie das Herz gehabt haben, den Befehl zu der Arbeit zu erteilen, denn unter den gegenwärtigen Verhältnissen war das Unternehmen schrecklich lebensgefährlich. Bald auf dem Vorderdeck, bald auf den Püttingen stehend und mit dem Sturm ringend, dann hinaus auf das vom Wasser glatte Bugspriet kriechend, hackten und schlugen die beiden furchtlosen Menschen mit den Beilen in das Gewirr des Tauwerks hinein, ohne darauf zu achten, daß sie bald tief hinunter ins Wasser tauchten, bald hoch in die Luft gehoben wurden. Wie sie sich dabei zu halten vermochten, war mir ein Rätsel. Heute noch, während ich dies schreibe, stockt mir der Atem, weil ich die schreckliche Szene nur allzu deutlich vor mir sehe. Ich muß die Augen schließen, wie ich damals tat, als ich die hohen, schäumenden Wogen sah, die sie begruben; denn ich wagte nicht aufzublicken vor Angst, zu entdecken, daß sie verschwunden waren. Ich höre noch das Heulen des Orkans, das Ächzen des überlasteten Schiffes, vor allem aber das schwache Hurra, welches diese Wackeren ausstießen, als das letzte Tau gekappt war, die Trümmer von Spier- und Tauwerk über Bord gingen und von den Wellen fortgeführt wurden.

Nach der heldenmütigen Aufopferung der braven Männer bekam ich das Schiff wieder in die Hand, und es vermochte dem furchtbaren Anprall der schweren See Trotz zu bieten.

Als Forward und Cornish zu mir kamen, drückte ich ihnen stumm aber herzlich die Hand; sie verstanden wohl die Gefühle, die mich tief bewegten, denn ein schwaches Lächeln glitt über ihre abgematteten Gesichter.

»Wie wunderbar,« dachte ich, als ich Cornish gerührt und dankbar ins Auge blickte, »noch gestern ein verruchter Meuterer und Mörder, und heute ein treuer, aufopferungsvoller Kamerad, ein wahrer Held im Kampfe.«


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