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Sechsundzwanzigstes Kapitel.
Das Begräbnis.

Der Wind heulte noch immer, die See ging noch hoch, aber die Nacht war sternenklar. Es wunderte mich, daß das stürmische Wetter so anhielt, denn der Barometer stieg beständig.

Ich zerbrach mir den Kopf mit allen möglichen Plänen, das Schiff zu bergen. Wenn das Wasser nicht schneller eindrang, wie bisher, so konnte die Sache kaum unüberwindliche Schwierigkeiten machen. Der Haupthaken lag in dem Umstand, daß uns nur zwei Teile des Kielraums zugänglich waren, nämlich vorn der Vorderpink und ganz hinten das Lazarett. War zwischen diesen beiden Stellen irgend ein Balken oder eine Planke lose geworden, dann konnten wir der Ladung wegen nicht an den Leck gelangen, diese aber herauszuschaffen, blieb für uns ein Ding der Unmöglichkeit. Vorderhand konnte indessen der Leck, mochte er liegen wo er wollte, noch nicht gerade bedeutend sein. So lange das Wasser innerhalb einer Stunde nur ungefähr einen Fuß stieg, lag keine Veranlassung für mich vor, meinen Wunsch für gänzlich unausführbar zu halten, denn meiner Rechnung nach mußten die Bermudas ziemlich nahe liegen. War dies aber der Fall und wurde das Wetter, wie es den Anschein hatte, besser, dann konnte ich auch mit ziemlicher Sicherheit darauf rechnen, die Inseln zu erreichen, obgleich das Schiff ein Wrack, und seine Mannschaft ganz unzureichend war.

Bald fühlte ich mich von Hoffnung gehoben, bald wieder von Befürchtungen niedergedrückt; so verging mir in Grübeleien die Zeit bis halb zwölf Uhr. Da rief ich den Steward, und dieser weckte Cornish und den Hochbootsmann, obgleich ich nur den letzteren hatte haben wollen. Cornish, welcher dachte, es wäre Mitternacht und seine Zeit, das Rad zu übernehmen, kam, um mich abzulösen. Ich übergab ihm auch gleich das Steuer, denn ich wünschte sehnlichst, den Hochbootsmann zu sprechen, der sich direkt wieder an die Pumpe begeben hatte, um den Wasserstand zu messen. Ich kam gerade zu ihm, als er die Peilstange ins Rohr gleiten ließ. Dieselbe ergab dreizehn Zoll, d. h. also neun Zoll Pumpenhöhe, und somit keine wesentliche Zunahme gegen die früheren Messungen.

Selbstredend mußte aber mit dem Pumpen begonnen werden, denn über einen Fuß durften wir das Wasser nicht steigen lassen, weil jeder Zoll mehr unsere Arbeit verlängert und erschwert hätte.

»Wenn es dabei bliebe,« meinte Forward, »dann wäre es schon gut, aber mit solchem sinkenden Rumpf hat es immer seinen Haken, das ändert sich manchmal im Handumdrehen und man kann dann nur machen, daß man 'rauskommt. Na, vorderhand hält ja aber der alte Kasten noch und deshalb: los, frisch an die Arbeit.«

Er rief den Steward und wir gingen ans Werk; die Schwengel knarrten und klirrten und nur selten gönnten wir uns ein paar Minuten zum Verpusten, bis wir das Schiff wieder ›lenz‹, d. h. leer hatten.

Obgleich uns dies zweifellos bewies, daß, wenn der Leck blieb, wie er war, es uns möglich sein würde, das Wasser in Schranken zu halten, so war doch die Aussicht, jede Stunde pumpen zu müssen, eine äußerst entmutigende.

Wir alle bedurften des Schlafes, um uns aufrecht zu erhalten, und schon schmerzten uns die Knochen im Leibe vor Übermüdung. Unter den obwaltenden Umständen konnten wir aber selbst im besten Fall immer nur auf eine kurze Ruhe rechnen und auch diese, fürchtete ich, würde uns bald nicht mehr vergönnt sein, denn ich empfand schließlich immer von neuem die Sorge um den Zustand des Schiffsbodens; lockerte sich dieser plötzlich, dann war alle Arbeit umsonst, alles vorbei. Ich behielt jedoch meine Befürchtungen für mich und ging nunmehr herunter, um die kurze Zeit auszunützen. Ich warf mich in der Kajüte auf die Matratze, auf welcher der Steward vorher gelegen hatte; dieser selbst schnarchte schon, auf der Bank sitzend, mit dem Kopf auf dem Tisch.

Noch ehe eine Stunde vergangen war, wurden wir von Cornish wieder geweckt. Schlaftrunken, kaum imstande die Augen zu öffnen, taumelten wir zu den Pumpen und begannen wieder unsere Arbeit, mechanisch wie Gliederpuppen.

Die Dämmerung fand mich wieder am Rade. Ich durchforschte den trostlosen, öden Horizont in dem blassen Licht, aber kein Schiff war zu entdecken. Die See, obwohl nicht annähernd mehr so hochgehend wie vorher, war doch immer noch sehr bewegt, und die kurzen, schnell sich folgenden Wogen, schlugen noch oft über Deck.

Seit mehreren Tagen hatte ich meine Kleider nicht mehr ausziehen können, und das Gefühl körperlichen Unbehagens erschwerte in nicht geringem Maße die eintönige anstrengende Arbeit. Meine Übermüdung war so groß, daß ich Schmerzen empfand wie ein rheumatisch Kranker; es bohrte und nagte mir förmlich in allen Gliedern.

Fast ohne Unterbrechung dem scharfen, schrecklichen Winde und dem Spritzen des Seewassers ausgesetzt, war die Haut meines Gesichts hart und trocken geworden, dagegen hatte ich auf dem übrigen Leibe ein unangenehmes Gefühl von Feuchtigkeit, obgleich meine Unterkleider nicht naß waren. Nie in meinem ganzen Leben hatte ich mich so unbehaglich, so zerschlagen und so mutlos befunden, als da ich jetzt im Dämmerlicht hinausblickte auf das weite, unruhige Wassergefilde und kein Schiff sah, welches die Hoffnung neu belebt hätte.

Forward kam, mich am Rade abzulösen, und ich ging wieder pumpen. Nach Beendigung dieses Geschäfts schleppte ich mich mit größter Selbstüberwindung nach dem Vorderkastell.

Ich hatte eine heilige Pflicht zu erfüllen, welche ich nicht länger aufschieben durfte; es handelte sich um die Bestattung von Mr. Robertson. Zu dieser brauchte ich eine Hängematte. In dem von den Leuten verlassenen Raum waren deren zur Genüge. Ich nahm eine noch bisher unbenutzte, holte mir dann in der Werkstatt des Zimmermanns, welcher gleichzeitig Segelmacher gewesen war, noch eine Segelnadel, Fingerhut und Zwirn und trug alles nach der Koje des Toten.

Hierauf rief ich Cornish zu meiner Hilfe. Wir breiteten die Hängematte auf dem Fußboden aus und legten noch eine Wolldecke darauf; dann nahmen wir die Leiche und rollten sie in diese beiden Hüllen ein. Wie hatte sich doch das Gesicht des alten Herrn seit seinem Tode verändert! Mir schien es fast unglaublich, daß es dasselbe sein könne, welches mir noch vor wenigen Stunden so freundlich zugelächelt und gedankt hatte für alles, was ich getan.

›Für alles, was ich getan!‹ Ach! Wie ein furchtbarer Hohn kamen mir jetzt die Worte vor, wenn ich der Ohnmacht des Menschen über Leben und Tod gedachte.

Als die Einwickelung beendet war, zogen wir die Ränder der Hängematte fest, und während ich dieselben stramm hielt, nähte Cornish sie zusammen. Hierauf holte er einige Scheuersteine zur Beschwerung der Leiche; diese befestigten wir in den Falten am Fußende der Hängematte. Das Gesicht ließen wir vorläufig noch frei. In diesem Zustand wurde nunmehr der Tote wieder auf sein Bett gelegt und zugedeckt.

Alsdann schickte ich Cornish nach einem kleinen Gerüst, welches sich auf Deck befand und immer über Bord gehangen wurde, wenn irgend welche Ausbesserungen an der äußeren Schiffswand vorgenommen werden mußten. Es sollte uns jetzt als Bahre dienen. Ein Gitter würde dem Zweck besser entsprochen haben, wir konnten aber kein solches erlangen, da sie alle im Zwischendeck lagen und die Zugänge zu diesem, d. h. die Luken, der Sturzseen wegen fest verschlossen und mit Teerdecken überdeckt waren.

Wir bekleideten die improvisierte Bahre mit der großen Flagge und stellten sie neben das Bett. Dann sagte ich Cornish, er und der Steward sollten sich ihre Sonntagsanzüge anziehen und sich zur Bestattung bereithalten. Ich selbst ging auch, bessere Kleidung anzulegen und trat dann an Miß Robertsons Tür.

Mir schlug das Herz zum Zerspringen, denn die Aufgabe, dem armen Kinde zu sagen, daß alles für das Begräbnis bereit sei, widerstrebte mir noch mehr, als es das Einnähen der Leiche getan hatte. Ich fürchtete auch, in meiner Aufregung nicht die rechten Worte zu finden.

Nach einigem Zögern klopfte ich an, schlich mich aber leise wieder weg, als ich keine Antwort erhielt, denn ich glaubte, sie schliefe, und um keinen Preis wollte ich ihre Ruhe stören. Kaum hatte ich mich aber einige Schritte entfernt, als die Tür geöffnet wurde, Miß Robertson heraustrat und fragte:

»Haben Sie geklopft, Mr. Royle?«

Ich bejahte die Frage, fand aber nicht sogleich den Mut zu sagen, weshalb; mir war der Hals wie zugeschnürt.

Sie sah mich forschend an, und als ich darauf unwillkürlich nach der Tür ihres Vaters blickte, erriet sie, was ich gewollt hatte und bedeckte ihr Gesicht mit beiden Händen.

Nun sie mich nicht mehr ansah, fand ich wieder Worte und sagte leise:

»Ich habe sein Gesicht freigelassen, damit Sie es noch einmal sehen können.« Dann ergriff ich ihre Hand und führte sie zur Tür, trat aber selbst nicht mit ein.

Ich dachte, es würde eine längere Zeit dauern, bis sie wieder herauskäme, sie kehrte aber sehr bald zurück. Das brave Mädchen hatte wohl selbst in ihrem tiefen Schmerz nicht vergessen, daß mir viel daran liegen mußte, das Begräbnis bald hinter uns zu haben, weil das Schiff nicht lange unserer Dienste entbehren konnte.

»Ich überlasse ihn jetzt Ihnen,« sagte sie.

Dieser Entschluß freute mich, denn ich verstand ihre Worte so, daß sie nicht beabsichtigte, dem Begräbnis beizuwohnen; als ich sie aber wieder nach ihrer Kajüte geleiten wollte, fragte sie mich erstaunt, ob denn die Bestattung erst später sein solle. Ich sagte ihr, wie ich sie verstanden hätte, worauf sie erwiderte:

»Ach nein, das habe ich nicht so gemeint; glauben Sie mir, ich fühle mich stark genug, den schweren Gang mitzumachen, ich bin nicht so schwach, als sie vielleicht denken.«

»Gut, ganz wie Sie wünschen,« entgegnete ich. »Ich werde Sie benachrichtigen, sobald alles bereit ist.«

Darauf trat sie wieder in ihre Kajüte, während ich Cornish und den Steward holte, um mit diesen beiden die letzten Vorbereitungen zu treffen.

Zunächst wurde das Kopfende der Hängematte zugenäht, dann die Leiche auf die Bahre gelegt und mit der Flagge überdeckt. Nachdem dies geschehen, überlegten wir, welchen Teil des Schiffes wir am besten wählen könnten, um die Leiche über Bord gehen zu lassen. Für gewöhnlich ist es auf See Brauch, ein Begräbnis in der Nähe der Fallreepstreppe stattfinden zu lassen; dies war aber in unserer Lage nicht möglich, da das Schiff zu heftig schlingerte, und das Hauptdeck überschwemmt war. Wir beschlossen deshalb, den Toten nach dem Hinterdeck zu schaffen. Es geschah dies so feierlich als möglich. Die Bahre wurde mit dem Fußende auf das Geländer hinter dem Backbordseitenboot gestellt. Das Kopfende hielten Cornish und der Steward. Forward stand mit abgenommenem Hut am Rade.

Nunmehr ging ich, Miß Robertson zu melden, daß alles bereit sei, nachdem ich mir vorher noch unter den Büchern des Kapitäns dasjenige über die Begräbnisse auf See geholt hatte.

Ich bat Miß Robertson noch einmal, zu überlegen, ob es nicht weniger angreifend und aufregend für sie sein würde, wenn sie der Bestattung fernbliebe, um die Zeit während derselben allein im stillen Gebet zuzubringen, versicherte sie, daß auch ohne ihre Anwesenheit dem Toten jede Ehre erwiesen werden und alles so zugehen würde, wie ihr Herz es nur wünschen könnte. Sie entgegnete aber: »Nein, das Grab soll meinen Vater nicht aufnehmen, die Fluten sollen sich nicht über ihm schließen, ohne daß mein Gebet sich mit meinem letzten Liebesblick vereinigt.« Damit legte sie ihren Arm in den meinen und gefaßt, mit tränenlosen Augen, aber mit unbeschreiblichem Schmerz in dem schönen, bleichen Gesicht, bat sie mich, sie auf Deck zu führen. Ich tat dies mit wehem Herzen.

Als wir oben angekommen waren, und sie die mit der Flagge überdeckte Leiche, die entblößten Häupter und die feierliche Haltung unserer drei Gefährten sah, da war es einen Moment, als ob der Anblick sie überwältigen wollte; sie stützte sich schwer auf meinen Arm, bedeckte ihre Augen mit der Hand und blieb stehen. Gleich danach faßte sie sich aber wieder und wankte vorwärts. Ich erkannte, daß das Hinabgleiten der Leiche in die Fluten zu viel für ihre Nerven sein würde und daß sie dies nicht sehen dürfe. Deshalb breitete ich schnell eine andere Flagge vor das Nächstliegende Oberlicht und bat sie, auf diese, mit dem Rücken gegen uns, niederzuknieen. Sie tat dies, folgsam wie ein Kind, ohne irgend welche Widerrede.

Ich flüsterte Cornish zu, acht auf mich zu haben, da ich ihm ein Zeichen geben würde, wann die Leiche hinabgleiten solle. Dann trat ich neben die Bahre und begann mit der Leichenfeier.

Es war eine Szene, die sich tief in meine Erinnerung eingegraben hat. Noch heute sehe ich alles deutlich vor mir: das verstümmelte Wrack, mit seinen, wie flehend gen Himmel gestreckten Maststümpfen, das einzige, vom heulenden Winde rund aufgeblähte Segel, das lose, umherfliegende, zerrissene, gekappte Tauwerk, die über Deck schlagenden, schäumenden Wogenkämme, das taumelnde, dabei oft hoch aufbäumende und dann wieder wie in einen Abgrund jäh niederfahrende Schiff. Vor meinem geistigen Auge steht die nervige Gestalt des Hochbootsmanns breitbeinig am Rade, beide Arme straff in den Spaken, er ist barhäuptig, das Haar flattert im Winde, seinen, von ehrlicher Trauer umflorten Blick hält er auf das knieende Mädchen gerichtet und leise murmelte er die Worte mit, die ich in tiefer Bewegung lese, die Leiche liegt auf dem Schiffsbord, zu beiden Seiten neben ihr haben sich Cornish und der Steward aufgestellt, deren abgemattete Gesichter tragen den Stempel der Erregung, welche die Trauerfeier mit ihrer grausigen Umgebung in ihnen hervorgerufen hat.

Alle diese Einzelheiten stehen mir noch heute treu vor der Seele und schaudernd durchlebe ich, während ich dies schreibe, noch einmal die qualvollen Empfindungen, die mich damals fast zu überwältigen drohten, als ich bei dem Plätschern der ins Wasser stürzenden Leiche daran dachte, daß wohl uns alle dasselbe nasse, schauerliche, tiefe Grab bald aufnehmen würde. Dieser Moment war ein doppelt furchtbarer für mich, denn angstvoll schlug mir auch mein Herz bei dem Gedanken, daß das junge Mädchen das Plätschern hören und sich umdrehen würde. Gerade aber, als ich Cornish das Zeichen gab, die Leiche abgleiten zu lassen, übertönte das Rauschen und der Schlag einer unter der Gillung sich brechenden Woge den Fall derselben. Ich dankte Gott für diese Fügung, denn nun war das Schlimmste des ganzen traurigen Aktes vorüber; ich sprach noch ein kurzes Schlußgebet, und die Feier war zu Ende.

Unmittelbar darauf winkte ich Cornish und dem Steward zu, die Bahre wegzutragen; dann wartete ich, daß Miß Robertson sich erheben sollte, sie verharrte aber noch mehrere Minuten im Gebet. Als sie aufstand, war nichts mehr vorhanden, was an die eben beendete Handlung erinnerte.

Sie gab mir mit einem Ausdruck unbeschreiblichen Wehes die Hand und nickte dem Hochbootsmann mit einem so herzbrechenden Blick ihren Dank für seine Teilnahme zu, daß es im wetterharten Gesicht dieses biederen, braven, treuen Menschen krampfhaft zu zucken begann.

Tief ergriffen von ihrem lautlosen Schmerz, führte ich sie schweigend bis an die Tür der Kajüte; hier aber sagte ich, ihre Hand noch einen Augenblick festhaltend: »Eine schwere Stunde liegt hinter Ihnen; Gott gebe, daß es die letzte gewesen ist in der Reihe der schweren Prüfungen, die Ihnen auferlegt wurden. Möge seine Barmherzigkeit Ihnen Kraft und Trost verleihen und seine Vaterhand uns alle gnädig erretten aus den Gefahren, die uns noch umgeben. So lange wir leben, dürfen wir hoffen. Bauen Sie fest auf Gottes Führung; Er wird helfen zu seiner Zeit.«


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