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Viertes Kapitel.
Wieder in Fahrt.

Am folgenden Morgen kam unter Führung eines Matrosenmaklers die neue Schiffsbesatzung aus London an.

Duckling war an Land gegangen, hatte sie auf der Bahnstation in Empfang genommen und in demselben Boot, welches die alte Mannschaft gestern weggebracht hatte, dem ›Grosvenor‹ zugeführt.

Die Leute machten den nämlichen Eindruck wie die entlassenen; die meisten waren schlecht bekleidet, nur vier hatten richtige Seekisten, die übrigen Säcke. Ein wahrer Riese befand sich unter ihnen, ein Kerl, neben welchem die andern wie Zwerge erschienen. Er hielt sich gerade und trug gute Stiefel; man hätte ihn für einen desertierten Gardisten halten können, wenn ihn nicht ein unbeschreibliches Etwas in der Haltung seiner Arme und in seinem Gange als Blaujacke gekennzeichnet hätte.

Noch ein anderer Kerl fiel mir besonders auf, der, als er über die Schiffsseite kletterte, mit einer Rabenstimme nach seinem ›kostbaren Mantelsack‹ krächzte. Er war eine sehr ungewöhnliche Erscheinung; die Hinterseite seines Schädels war kolossal und mit Haar straff wie Hanfgarn bedeckt, das ihm über die Ohren fiel und sich mit einem struppigen Backenbart mischte, der den unteren Teil seines Gesichts umgab. Aus diesem Haarwust blickte ein Gesicht, so klein, wie das eines Knaben, mit halb geschlossenen Schlitzaugen, einer winzigen Stumpfnase und einem breiten Mund, dem vier Vorderzähne fehlten. Der Körper, welcher zu diesem auffallenden Kopf gehörte, war wunderbar kräftig, trotzdem aber in hohem Maße mißgestaltet: die langen Arme reichten bis über die Knie herab, der Rücken war, ohne einen Höcker zu haben, so rund wie eine Schildkrötenschale und maß von Schulter zu Schulter wohl eineinhalb Meter. Diesen sonderbaren Burschen besah ich mir mit großer Neugier. Auch zwei Holländer und einen dunkelfarbigen Mann von afrikanischem Typus bemerkte ich; die übrigen Leute waren sämtlich Engländer. Alle zeigten eine große Behendigkeit, als sie vom Boot an Bord stiegen.

Der Matrosenmakler blieb in dem Boot und überwachte mit Argusaugen das Anbordgehen der Mannschaft. Als der letzte Mann den Kutter verlassen hatte, lüftete er seinen Hut gegen Duckling und fuhr mit vergnügterem Gesicht ab, als er gekommen war.

Kaum hatte der Maat den Abschiedsgruß des Maklers erwidert, als er auch schon dem Hochbootsmann Befehl gab, ›alle Mann zum Ankerlichten‹ aufzupfeifen. Dann wandte er sich mit einem häßlichen Lächeln und listigen Augenblinzeln zu mir und sagte: »Wenn das Essen etwa wieder Streit hervorrufen sollte, wollen wir ihn diesmal auf hoher See ausfechten.«

Eine leichte Brise aus Südost blies gerade kräftig genug, um die leichteren Segel zu füllen und uns gegen die Flut, welche den Kanal hinaufströmte, vorwärts kommen zu lassen. Die Leute, welche wie alle ›Neuen‹ voll Eifer waren, kamen schnell aus dem Kastell gestürzt, als sie die Pfeife des Hochbootsmanns vernahmen, und bemannten die Ankerwinde. Der Lotse stand mit dem Kapitän auf dem Hüttendeck; letzterer sah sehr vergnügt aus, als er das scharfe Klirren beim Einhieven der Ankerkette und den heiseren Gesang der Leute hörte. Glied nach Glied kam die Kette durch die Klüsen binnen-bord, und als sie klar um das Bratspill lag, meldete ich: »Anker steht auf und nieder.« Darauf kam von Duckling der Befehl:

»Außen Klüver los! Bramsegel lösen!« Und während er hierbei die Mannschaft beobachtete, rief er: »So, immer fix, Kerle, hinauf mit dem Klüver.«

Die Leute waren in der Tat munter bei der Arbeit, alles ging ihnen schnell von der Hand. Die Bramsegel waren bald gesetzt und fingen den Wind, und der aufgewundene Anker war flink verkettet und vertäut. Nach Verlauf einer Viertelstunde hatte die Brigg den Ankerplatz verlassen und ihren Kurs genommen.

Während der Fahrt wurden die Segel nach und nach vermehrt. Wir steuerten in einem runden Bogen um Süd-Foreland herum und erblickten nach kurzer Zeit den Hafendamm von Dover und die großen weißen Klippen mit ihren grünen Gipfeln.

In dem Maße, als wir vom Lande abkamen, frischte die Brise auf und unsere Schnelligkeit wurde größer; die Leute schienen sichtlich erfreut darüber.

Um halb drei Uhr nachmittags hatte der ›Grosvenor‹ all seine Leinwand entwickelt, die Decks geklärt und seine Mannschaft in Wachen abgeteilt. Ich hatte den Befehl über die Steuerbordwache erhalten und befand mich deshalb auf Deck. Die Mannschaft war zum Essen gegangen.

Ich bemerkte jetzt, daß der dunkelfarbige Mann, den ich erwähnt hatte, der neue Koch war. Die Leute tauschten Scherze mit ihm aus, als sie sich ihr Essen, Erbssuppe mit Schweinefleisch, aus der Küche holten und nach dem Vorderkastell trugen. Ich schloß daraus, daß sie bis jetzt die Qualität der Speisen noch nicht entdeckt hätten, oder genügsamer als ihre Vorgänger wären.

Zu meiner Wache gehörte der große kräftige Mensch, den ich mit einem Gardisten verglichen hatte. Ich traute ihm nicht viel Gewandtheit zu, da er mir zu kolossal erschien. Beim Setzen der Segel hatte ich aber gesehen, wie man sich täuschen kann. Der Kerl führte mit seinen langen Beinen Dinge aus, die ich nicht für möglich gehalten hätte. Er bewegte sich im Takelwerk wie die Spinne in ihrem Netz und nichts schien ihm Schwierigkeiten zu verursachen. Ich sah ihn jetzt als letzten aus der Küche kommen, plötzlich stehen bleiben, das rauchende Essen argwöhnisch betrachten, es dann an seine Nase führen und gleich danach angewidert ausspucken. Einer war also schon unzufrieden.

Die Brise hatte sich inzwischen immer mehr verstärkt, und das Schiff machte im Verhältnis hierzu immer bessere Fahrt. Das Ufer auf unserer Steuerbordseite glitt bei dem herrlichen Sonnenschein in allen Farben spielend wie ein Panorama an uns vorüber. In der Kajüte waren sie beim Mittagessen und so oft ich an dem Oberlicht vorüberging, konnte ich sehen, wie der Kapitän mit erfreutem Gesicht hinauf nach den Segeln blickte.

Als ich zufällig bei meinem Hin- und Hergehen auch wieder einen Blick nach der Küche warf, sah ich den Kopf des Kochs, der mit einer wunderbaren Mütze bedeckt war, aus derselben hervorlugen; seine kleinen Augen fixierten mich, als überlegte er, ob er mich ansprechen solle; ich nahm jedoch keine Notiz davon. Auf meinem Gange wieder umdrehend, gewahrte ich, daß er mich noch immer beobachtete. Endlich trat er aus der Tür, blieb aber an derselben stehen und sah unverwandt zu mir herauf.

Ich machte rasch kehrt, um mein Lachen zu verbergen, denn sein Gesicht hatte einen unbeschreiblich komischen Ausdruck; er stand da mit gerümpfter Nase, einem widerwillig verzogenen Mund, und schielte mich mit schmerzlichen Blicken an. Als ich mich wieder umwandte, sah ich ihn, um meinen Ernst zu bewahren, gar nicht an, er aber kam plötzlich auf mich zu und hielt den rechten Arm weit von sich gestreckt, an seiner Hand baumelte an einem Bindfaden ein Stück fettes Schweinefleisch.

Am Fuß der Hüttendecktreppe faßte er Posto und hielt das Fleisch in die Höhe. Jetzt blieb mir freilich nichts übrig, als meinen Gang zu unterbrechen, über das Geländer zu ihm herabzusehen und ihn zu fragen, was er wolle. Er antwortete:

»Sie ties sehen, Sar?«

»Ja,« erwiderte ich.

»Ich gehören zu ein Land, wo Mensch nix von schmutzig Schwein essen,« sprach er mit einem gewissen Stolz, und dabei einen Blick tiefsten Abscheus auf das Stück werfend, welches er hochhielt.

»Welches Land ist das?« fragte ich.

»Heißes Land, Sar,« entgegnete er; »ich auf Schiff auch will Schweinefleisch essen.«

»Das macht Ihr recht.«

»Aber ich will nicht Schwein essen, was stinken,« rief er hitzig.

»Ist denn das Stück verdorben, welches Ihr da habt?«

»Verdorben? Weiß nix von verdorben, Sar; ich sagen, es stinken, und Brühe, in der ich es kochen, stinken noch mehr. Komm Sie sehen, Sar, komm Sie rieken, werden nix kosten davon, wird Sie von Geruch schon übel werden. Ganz Vorderkastell voll Gestank sein, Leute fluchen und sagen, ich darfen nicht wieder geben verfaultiges Fraß. Ich sein serr ein gutten Koch, aber zu machen gut rieken, was stinken, kann ich nich.«

Nach diesen Worten drohte er dem Fleisch unter einer höchst drolligen Grimasse mit dem Finger, wirbelte es an der Schnur durch die Luft und schleuderte es über Bord.

»Tas war mein Ratscha,« sprach er, »möchte nich Fisch essen, ter tas runterschlucken;« und sich umwendend ging er fort.

Ein paar Minuten später entstieg der sonderbar aussehende Mann mit dem kleinen Gesicht dem Vorderkastell und trottete mit einer seltsam schlenkernden Bewegung seiner Beine auf mich zu.

»Bitte um Verzeihung, Sir,« sagte er mit einer linkischen Verbeugung und heiseren Stimme, »aber das Fleisch an Bord dieses gesegneten Schiffes ist verteufelt schlecht.«

»Ich kann das nicht ändern,« erwiderte ich, ärgerlich darüber, schon wieder diese Klagen hören zu müssen. Coxons Vorwurf, daß ich der Vertraute der Mannschaft sei, erschien dadurch wirklich gerechtfertigt. »Ihr müßt Euch mit solchen Beschwerden an den Kapitän wenden.«

»Keiner von uns kann das Fleisch essen, und der Koch, der sich doch auf solche Sachen verstehen muß, schwört, er will sich lieber lebendig schmoren lassen, als ein Lot davon runterschlucken.«

»Das mag ja sein, ich aber kann hier gar nichts tun, nur der Kapitän vermag Abhilfe zu schaffen; ich sage Euch noch einmal, bringt bei dem Eure Klage an.«

»Der Hochbootsmann meint, das würde nicht viel nützen.«

»Was der meint, geht mich nichts an; wollt Ihr meinem Rat nicht folgen, dann ist Euch eben nicht zu helfen.« Mit diesen Worten trat ich vom Geländer zurück und ließ den Mann stehen. Die Unterhaltung war mir im höchsten Grade peinlich, denn betraf mich der Kapitän dabei, dann konnte ich die ganze Geschichte wieder ausbaden. Noch hatte ich diesen Gedanken kaum zu Ende gedacht, als der Teufel den Kapitän auch schon zur Stelle hatte. Es war mir, als ob ich eine Ohrfeige bekäme. Der verdammte Kerl mit seinem Fleisch hatte sich nicht vom Fleck gerührt, der Kapitän sah ihn natürlich sofort und fragte mich mit finsterem Blick:

»Was will der Mann?«

»Er beschwert sich über das Fleisch, Sir; ich habe ihn an Sie verwiesen.«

Die Augen Coxons sprühten bei dieser Antwort Zornesflammen auf mich, indes, vor dem Manne mochte er es wohl für klug halten, sich zu beherrschen. Er trat an das Geländer und sagte mit ruhiger sanfter Stimme:

»Was gibt es, mein Sohn?«

»Na, Sir, ich bin von meinen Maats aufgefordert, hierher zu gehen und anzuzeigen, daß das Fleisch, welches wir bekommen haben, in sehr schlechtem Zustand ist, es ist faules Aas in stinkender Salzlake.«

»Ei, das tut mir ja leid zu hören,« entgegnete der Kapitän in sehr gütigem Tone, und sich zu mir umwendend, sagte er: »Ich will den Steward sprechen.«

Der Mann, von mir herbeigerufen, kam eilfertig das Quarterdeck entlang, blieb dann unter dem Hüttendeck stehen und sah in einer Weise zu seinem Herrn auf, daß mir der Gedanke kam, er spiele eine ihm eingelernte Rolle.

»Was ist das mit dem Schweinefleisch, Steward?«

»Was soll damit sein, Sir?«

»Die Leute klagen, es röche stark; so sagtest du doch, nicht wahr, mein Sohn?«

»Das stimmt, ja man könnte es dreist verwest nennen.«

»Na, das begreife ich nicht, wie sollte das möglich sein,« erwiderte der Steward mit einem ganz verblüfften Gesicht. »Im Faß ist es doch ganz frisch; vielleicht liegt der Fehler am Kochen.«

»Mit dem Kochen hat das nichts zu tun, Maat,« sagte der Mann entrüstet, »das müßtest du doch wissen.«

»Solltest du doch am Ende ein Faß geöffnet haben, welches nicht mehr gut ist,« wandte sich der Kapitän wieder an den Steward; »überzeuge dich genau davon und ist es so, wirfst du es sofort über Bord, denn ich will nicht, daß die Leute vergiftet werden. Der Koch soll mir von dem nächsten Faß eine Probe schicken, und du setzest sie mir auf den Tisch, hörst du?«

»Werde es besorgen, Sir.«

»Gut, und du,« fuhr der Kapitän zu dem Manne gewandt fort, »gehe nun zu deinen Maats zurück und erzähle ihnen, was ich gesagt habe.«

Der Mann ging und offenbar ganz befriedigt. Ohne Zweifel teilte er dem Schiffsvolk mit, was für ein biederer, freundlicher Herr der Kapitän und was für ein Schuft der Steward sei.

Am nächsten Morgen um 7 Uhr waren wir der Insel Wight gegenüber. Ein mäßiger Südostwind führte uns bis Eastbourne, von da ab ließ er nach und blieb die ganze Mittelwache hindurch schwach; um vier Uhr ging er wieder auf und wurde sogar recht kräftig, trotzdem behielten wir aber alle unsere Segel bei und braßten nur in der Nähe von Ventnor in den Wind, um den Lotsen an Land zu setzen.

Der ›Grosvenor‹ lief infolge seiner Schwere ziemlich ruhig, ein bißchen zu ruhig vielleicht, denn er schöpfte das Wasser über seinen Steuerbordbug, ohne sich zu heben; er erinnerte an ein schwer beladenes Lastschiff, welches durch die entgegenstürzenden Wogen hindurchpantscht, ohne besonders zu stampfen.

Auf ein von uns gegebenes Signal kam ein zierlich getakelter Kutter vom Lande herbeigeschossen. Er bot ein hübsches Bild; manchmal war er im Gischt ganz begraben, dann aber hüpfte er wieder so flink von einem Wellental ins andere, daß man seinen Vordersteven ganz außerhalb des Wassers sah.

Ich war froh, daß der Lotse nun endlich das Schiff verließ; er war ein gemeiner Speichellecker und mir bei dem Kapitän durchaus nicht von Vorteil gewesen. Die Fallreepstreppe war für ihn klar gemacht worden. Der Kutter, welcher sich längsseit gelegt hatte, tanzte wie ein Pfropfen auf den Wogen, bald war er in gleicher Höhe mit dem Deck, bald zwölf bis vierzehn Fuß unter diesem. Der Lotse stand auf der Treppe, bereit, in das Boot zu springen, sowie es sich zu ihm heben würde. Da rief ich boshafterweise auf einmal: »Jetzt!« – er sprang, fiel aber, da das Boot gerade im Niedergehen war, tief herunter, und wälzte sich alsbald unter einem Haufen Netzwerk und andern Geräten. Zwei Bootsleute mußten ihm zu Hilfe springen, um ihm wieder auf die Beine zu helfen. Sowie er stand, schwenkte er im schnellen Davonsegeln seinen Hut gegen den Kapitän, welcher, den Gruß erwidernd, gleichzeitig das Umbrassen befahl.

Als der Wind die Segel wieder gefüllt hatte, donnerten die Wogen gegen das Schiff, und es holte stark über. Einige Schiffe auf unserer Luvseite zogen verschiedene Segel ganz ein und kürzten andere, denn es wehte scharf von der Seite und jedes Segel war geschwellt.

Duckling war ganz selig, zu sehen, wie viel Leinwand mehr wir bei dem Winde trugen als andere Schiffe. Er hatte fortwährend seine Augen nach oben und drehte seinen Kopf wie ein Wendehals.

»So ist's recht!« rief er mit seiner rauhen Stimme einigen Leuten zu, die er noch eine Verbesserung in der Stellung der Segel hatte vornehmen lassen. »Wir wollen zeigen, wie man den Kanal heruntersaust. Mir scheint, wir haben nun genug Windstille gehabt, und wenn die Scillyinseln morgen um die zweite Hundewache nicht ein paar Meilen hinter uns liegen, so will ich Mönch werden. Habt ihr's gehört, Mönch will ich werden,« schrie er voller Vergnügen, lachte aus vollem Halse und die Leute lachten auch.

Wir steuerten West-Südwest und der Gischt spritzte uns nur so um die Ohren. Es war jetzt dunkel und am Himmel jagten sich die Windwolken. Die Sterne schimmerten trübe hindurch, nur mit angestrengtem Auge vermochte man das Groß-Oberbramsegel zu unterscheiden.

Ich fühlte mich wie neugeboren bei der raschen Fahrt. Bald hatten wir die breitere See erreicht, und die Wogen wurden schwerer. Das Wasser phosphoreszierte; bei dem Aufspritzen des Schaumes war es, als wenn zahllose Lichter uns umtanzten; unser breites Kielwasser funkelte bis auf zwanzig Faden hinter uns, wie die Milchstraße. Der Kapitän war noch auf Deck; er wollte durch die forcierte Fahrt offenbar die verlorene Zeit wieder einbringen. Auch als ich um 10 Uhr nach unten ging, um noch etwas zu ruhen, ehe ich Duckling ablösen mußte, blieb er noch oben. Zu der Zeit befanden sich zwei Mann am Rade und zwei auf dem Auslug. Unsere Lampen brannten hell; die Lichter am Ufer und dieses selbst hatten wir schon längst weit hinter uns gelassen.

Ich schlief fest und wurde um Mitternacht von Duckling geweckt. Das ist der unangenehmste Teil im Seemannsleben, dieses sich immer wiederholende, zeitweilige Herausreißen aus den warmen Betten, um vier Stunden auf dem Deck herumzuwandeln. Die Schärfe der Nachtluft ist durchaus nicht stärkend für einen Menschen, der eben noch in tiefem Schlafe lag und todmüde ist. Ganz verteufelt ungemütlich ist es, wenn man hinaufkommt und von allen Ecken und Enden angeblasen wird, denn wenn der Wind auch noch so leise fächelt, Zug ist überall, von unten, von oben und von den Seiten. Zu gleicher Zeit fährt es einem in die Ohren und in die Augen, durch die Hosen die Beine hinauf und vom Halskragen am Hemd hinab. Da hilft kein Drehen und Wenden, man schüttelt sich und fröstelt. Es dauert nicht lange, da ist einem das Haar über die Augen geweht und – plautz, – kriegt man einen Schauer von Gischt auf den Ölrock, daß es nur so prasselt, und eine Wassersalve ins Gesicht, daß man nicht mehr aus den Augen sehen kann. ›Ach Gott,‹ denkt man da, ›was in aller Welt hat dich nur bewegen können, diesen vermaledeiten Beruf zu ergreifen. Unglücksmensch, wie konntest du auf die hirnverbrannte Idee kommen, Maat zu werden?‹ Solche und ähnliche Gedanken plagen einen, wenn man an das warme Bett denkt, dem man eben entstiegen. Und man beneidet schließlich die Mannschaft, die es in dieser Beziehung immer besser hat, selbst die Deckwache. Man glaubt nicht, wie es diese Kerle verstehen, sich während der Nacht ins Kastell zu stehlen und dort auf ihrem Kasten oder sonst auf irgendeinem versteckten Plätzchen auf dem Deck ein Schläfchen zu machen; der Maat im Dienst dagegen muß seine vier Stunden stets umherwandelnd aushalten, darf nicht müde werden, muß alles über sich ergehen und jede Tücke an sich vorüberlassen, mit welcher die Elemente seine wehrlose Person quälen und peinigen wollen.

Vier solche Stunden hatte ich jetzt vor mir, als ich auf Deck kam. Ich fand den Kapitän noch immer oben, er stand in der Nähe des Rades. Es blies recht ordentlich aus Ost-Südost, und die See ging hoch. Die Raaen waren, wie ich bemerkte, mehr nach hinten gebracht worden, sonst aber hatte sich nichts verändert, seit ich hinuntergegangen war. Schon zu dieser Zeit hatte ich gedacht, daß das Schiff zu viel Leinwand trüge, jetzt aber, wo der Wind sich noch wesentlich verstärkt hatte, begriff ich den Kapitän nicht, daß er immer noch nicht daran dachte, einige Segel streichen oder wenigstens reffen zu lassen. Das Schiff hätte sehr gut sämtliche Oberbramsegel missen können, ohne meiner Meinung nach in der Geschwindigkeit der Fahrt etwas einzubüßen. Es war mir unverständlich, wie er ohne ersichtlichen Grund ein Vergnügen daran finden konnte, mit derart überliegenden Masten zu fahren; ein Teil der Segel schleppte im Wasser.

Ich musterte meine Wachmannschaft und schickte die Ablösungen für Rad und Ausguck ab. Hierauf nahm ich mein Nachtglas und überflog den Horizont, aber es war nichts zu erblicken, dann ging ich nach hinten, um zu sehen, wie das Schiff steuerte, denn diese kurzen, sich schnell folgenden Seen spielen manchmal den Schiffen böse Streiche. Es steuerte jedoch ganz ruhig, obschon das Stoßen der Wogen unter der Gillung selbst ein Schiff von 2000 Tonnen hätte unruhig machen können. Es hob sich bei seinem Tiefgang schließlich noch besser, als ich gedacht hatte, aber doch nicht behende genug, um zu hindern, daß die Kämme einiger nachstürzenden schweren Seen die Seeschanzung bis zur Küche überschlugen; auf der Windseite blieb das Deck aber trocken.

Coxon stand am Geländer und rauchte aus einer großen holländischen Pfeife. Er trug eine Roßhaarmütze mit Klappen über den Ohren und Seestiefel. Ich stand lange und sah aus der Ferne zu ihm hinüber, konnte aber nicht entdecken, daß er etwas anderes tat, als zuerst eine Rauchwolke in die Luft zu paffen und darauf nach den Segeln zu sehen, dann wieder eine Wolke von sich zu stoßen und wieder nach den Segeln zu sehen. Er schien dies schon seit neun Uhr so getrieben zu haben, deshalb dachte ich, er müsse dieser Unterhaltung nun endlich müde sein, näherte mich ihm und sagte verbindlich:

»Wie schön das Schiff seine Segel trägt, Sir.«

»O ja,« antwortete er langsam und mürrisch, »ich habe vierundzwanzig Stunden verloren; der Kanal müßte jetzt hinter uns liegen.«

»Die Fahrt ist ausgezeichnet, Sir; wir machen, schätze ich, gut zwölf Knoten.«

Auf diese Antwort schien er gar nicht mehr zu hören; seine Blicke schweiften über den Stern, dann ins Takelwerk, und er benahm sich gerade so, als wenn ich gar nicht vorhanden wäre. Ich ärgerte mich furchtbar, daß ich so einfältig gewesen war, ihn anzureden; die Art, wie er mich behandelte, war mir nur ein neuer Beweis, daß dem Menschen jede feinere Bildung fehlte. Eben wollte ich mich mit verächtlicher Miene entfernen, als er mir barsch zurief:

»Gehen Sie nach vorn, achten Sie darauf, daß die Leute scharfen Auslug halten, und passen Sie selbst auch gut auf.«

Natürlich erwiderte ich dem Grobian nun kein Wort mehr; unwillkürlich machte ich eine Faust in der Tasche und ging hoch aufgerichtet nach dem Vorderdeck. Ich traf die beiden Leute auf ihrem Posten; sie lehnten, in ihre Ölmäntel gehüllt, an dem Geländer und starrten vor sich in die dunkle Nacht. Da es vorn noch ein gut Teil schärfer wehte als hinten, wurde mir sehr kalt; ich sprang deshalb einen Augenblick in meine Koje, um mir einen Shawl zu holen.

Als ich wieder herauskam und kaum die Kajütentür geschlossen hatte, hörte ich einen lauten Schrei vom Vorderdeck her. Beide Matrosen brüllten gleichzeitig: »Segel voraus!«

Ich sah, wie Coxon eilig nach dem Hüttendeckgeländer schritt und versuchte, das fremde Schiff in Sicht zu bekommen. Dann ging er auf die andere Seite und guckte unter dem Großsegel durch; bald darauf rief er: »Ich sehe nichts, wo ist es?« Und gleichzeitig schrie auch ich durch meine Hände: »Auf welchem Bug?«

»Grad voraus!« kam die Antwort.

Es entstand eine kurze Pause, dann rief einer der Leute angstvoll: »Ruder über! Wir segeln direkt drauf los! Es scheint ein Kutter oder eine Schmacke zu sein!«

»Hart backbord! Hart backbord!« brüllte nun Coxon dem Steuermann zu.

Ich sah die Speichen des Rades herumfliegen, in demselben Augenblick aber fühlte ich auch einen plötzlichen Stoß; ein sonderbares Gefühl überkam mich, als wenn auf einmal der Wind eine Pause machte.

»Allmächtiger Gott!« gellte eine Stimme, »wir haben sie übersegelt!«

Mit einem Sprunge war ich auf der Wetterseite, beugte mich über das Geländer und sah einen Mast und ein dunkles Segel, das flach auf dem schäumenden Meere lag, rasch vorübergleiten; sie verschwanden, während ich noch hinsah, in dem tiefen Wellengrab. Aus meiner Bestürzung wurde ich herausgerissen durch das Donnern der über mir schlagenden Segel, das Stöhnen der Masten, das Zittern des Takelwerks und den alles übertönenden Ruf des Kapitäns:

»Zurück das Ruder! Steuerbord, rasch Steuerbord!«

In demselben Moment sah ich ihn auch nach dem Rade stürzen, einen der Männer dort beiseite stoßen und selbst mit aller Kraft in die Spaken fassen. Das Schiff gehorchte mit wunderbarer Schnelligkeit; wie ein mit Verstand begabtes Wesen wendete es ruhig herum und jagte gleich wieder mit frisch gefüllten Segeln weiter.

Ich atmete wieder auf; einen Moment lang hatte ich eine schreckliche Katastrophe befürchtet. Gab das Schiff dem Steuer nicht auf der Stelle nach, so wurden die Segel gegen den Mast geweht, und bei dem ungeheuren Druck der Leinwand, die wir trugen, verloren wir unfehlbar die meisten, wenn nicht alle unsere Spieren.

Nachdem diese Gefahr glücklich vorüber war, gedachte ich gleich wieder des von uns übersegelten Schiffes, vielleicht kämpften in unserem Kielwasser Menschen um ihr Leben, die ihre einzige Hoffnung noch auf unsere Hilfe setzten.

»Wollen Sie keinen Versuch machen, die Verunglückten zu retten, Sir?« fragte ich sehr erregt den Kapitän.

»Eher laß ich mich hängen; bleiben Sie mir mit so müßigen Fragen vom Leibe. Warum, zum Teufel, wichen die Leute uns nicht aus; sie sind selbst an ihrem Unglück schuld.«

Ich fühlte mich so angewidert durch die Roheit und Unmenschlichkeit dieser Antwort, daß ich kurz kehrt machte und wegging. Doch hafteten meine Blicke fort und fort wie gebannt an der Stelle, wo meiner Vorstellung nach das Schiff auf den Grund gesunken war und die Ertrinkenden mit den Wogen rangen.

Der Kapitän war zu eifrig in Betrachtung des Kompasses vertieft, um mich zu beachten; er gab den Leuten am Ruder mit leiser Stimme Befehle, während seine Augen auf die Windrose gerichtet waren.

Auf einmal rief er mir im gröbsten Tone zu:

»Rufen Sie den Zimmermann, er soll die Pumpe peilen.«

Dies war bald getan; ich kehrte zurück und meldete kurz: »Trockener Boden.«

»Loggen Sie, Sir!« schnauzte er mich jetzt an.

Ich biß die Zähne zusammen, um nicht eine Insubordination zu begehen, fluchte aber innerlich ganz fürchterlich, als ich mir Leute heranholte, die mir bei dem langweiligen und mühsamen Geschäft, die Fahrt des Schiffes mit Leine und Sandglas zu messen, helfen sollten. Die Loggrolle klapperte gewaltig in den Händen des Mannes, der sie hielt; ich dachte, die ganze Leine würde ablaufen, ehe der Mann mit dem Logg-Glas ›Stopp!‹ rief.

»Wie steht's?« fragte Coxon.

»Dreizehn Knoten, Sir.«

Er sah über Bord, als wolle er sich überzeugen, daß die Berechnung richtig wäre, dann befahl er:

»Groß-Oberbramsegel einnehmen und beschlagen!«

Also endlich sollte die Leinwand doch eingezogen werden. Es war nachgerade hohe Zeit, daß ein Anfang gemacht wurde, denn der starke Wind war inzwischen mächtig angewachsen, und ein Blick auf den Himmel versprach noch vor dem Morgen einen ganz echten, regelrechten Sturm. Nachdem das Groß-Oberbramsegel festgemacht war, kam der Befehl, Fock- und Kreuz-Oberbramsegel zu bergen.

Dies gab der Wache Arbeit. Auf dem Deck fing es an lebendig zu werden von den umherlaufenden Leuten, ihrem Gesang beim Aufholen und den Rufen: »Immer fest – rauf damit – zieht doch, Kerle« etc. Das Einziehen der kleinen Segel verminderte aber den Druck des Windes nur wenig. Der ›Grosvenor‹ führte die altmodischen einfachen Marssegel, und diese ungeheuern Stücke Leinwand faßten eine Masse Wind. Wir hätten sie jetzt reffen sollen, aber statt dessen wurde nur das Groß-Bramsegel gestrichen. Man kann ein Schiff vorwärts treiben, es zur äußersten Anstrengung zwingen, ihm gewissermaßen Peitsche und Sporen gleichzeitig geben, man kann ihm aber auch auf diese Weise die Masten ausreißen. Durch das bißchen Leinwand, welches wir jetzt eingezogen hatten, war die Fahrt ganz sicher kaum um einen halben Knoten vermindert. Das Schiff schien mit der Schnelligkeit der sich überstürzenden Wogen zu wetteifern. Der inzwischen sich immer mehr zum Sturm steigernde Wind fuhr mit furchtbarer Gewalt durch das Takelwerk, in allen Tonarten durcheinander, vom dumpfen Donner und schrecklichen Geheul bis zum leisen Stöhnen und Seufzen brach seine Wut hervor. Es war, als ob alle Teufel der Hölle losgelassen wären.

Nun endlich fand sich der Kapitän bewogen, den Befehl zu geben, den ich schon längst erwartet hatte.

»Alle Mann zum Segel reffen!« donnerte seine Stimme durch das Wetter.

Die Pfeife des Hochbootsmanns schrillte, die Freiwache stürzte in Hast und Eile auf Deck, ein wirres Umherlaufen, Stoßen und Drängen entstand.

Nachdem der Kapitän bis jetzt mit einer wahrhaft wagehalsigen Tollkühnheit drauflos gefahren war, verfiel er jetzt, von den raschen, scharfen Windstößen, welche das Schiff trafen, erschreckt, ins andere Extrem, d. h. er konnte sich nun nicht schnell genug von der gefahrdrohenden Menge Segel befreien. Er befahl, die Falls der drei oberen Marssegel loszuwerfen. Dies geschah sehr schnell, führte aber auch, da die Kräfte zum gleichzeitigen Reffen der Segel nicht vorhanden waren, zu einer entsetzlichen Verwirrung ... Die beiden Segel, zu denen die nötigen Hände fehlten, wurden von dem sie peitschenden Sturm wütend hin und her geschlagen. Die Folge hiervon war, daß jeder schrie, so laut er konnte, um sich verständlich zu machen. Der Lärm machte auch die Schweine noch aufgeregter, als sie ohnehin schon waren; sie grunzten und quiekten daher aus Leibeskräften. Zwischendurch rollten einige losgerissene Fässer über das Deck, – rechnet man nun zu alledem das Heulen, Sausen und Pfeifen des Sturms, das Brausen des Meeres und das dumpfe Dröhnen der gegen die Schiffswände schlagenden Wogen, so wird man sich einen ungefähren Begriff von dem Höllenlärm machen können, der zurzeit auf dem Schiffe herrschte. Nach und nach kam aber schließlich doch alles in Ordnung.

Als die Morgendämmerung anbrach, befand sich der ›Grosvenor‹, den Verhältnissen nach, ganz gut getakelt, sein Deck aber strömte von den Sturzwellen, die über die Wetterseite schlugen.

Die Freiwache war wieder entlassen worden. Ich befand mich jetzt allein auf Deck und freute mich auf den Moment, wenn es vier Uhr sein und auch ich wieder zur Ruhe kommen würde. Der Kapitän hatte nun endlich auch seine Kajüte aufgesucht. Ich war froh, ihn nicht mehr zu sehen, denn seine fortwährende Gegenwart war mir nicht allein lästig, sondern geradezu ein Ärgernis gewesen.

Die See bot in dem Dämmerlicht einen wunderbaren Anblick. Die schäumenden Kämme der hochgehenden Wogen wurden von dem bleichen Licht getroffen, aber die Wellentäler blieben noch dunkel. Wenn man, sobald das Schiff sich hob, auf der bewegten weißen Fläche entlang blickte, so konnte man glauben, zahllose Reihen offener Höhlen in einer öden, unendlichen Schneewüste zu sehen. Am Himmel erblaßte das matte Licht der Sterne mehr und mehr, lange Linien rauchartiger, zerrissener Wolken jagten darüber hin. Das Wasser strömte nach dem düster aussehenden Horizont. Da, wo sich die Dämmerung mit ihrem kalten Licht erhob, färbte sie See und Himmel bleigrau.

Mich stimmte die auf der Natur ringsumher liegende Schwere und Düsterheit melancholisch. Ich mußte an das von uns übersegelte unglückliche Schiff denken, gleichzeitig aber auch an die unmenschliche Gefühllosigkeit des Kapitäns. Der eine Gedanke machte mich frösteln, der andere erfüllte mich mit tiefer Erbitterung. Mit welcher erschreckenden Plötzlichkeit war das ganze Unglück geschehen! Nicht ein einziger Todesschrei war zu hören gewesen in dem Toben des Windes! Ohne die Leute auf dem Ausguck würde keine Seele unter uns gewußt haben, daß wir lebende Wesen so plötzlich in einen schrecklichen Tod gejagt hatten.

Unsere Reise hatte unheilvoll begonnen, das weiß Gott! Ich sah nach Osten, wo das Licht des Morgens über dem bleichen, sturmbewegten Horizont erglänzte, und eine sonderbare Niedergeschlagenheit, ein trübes Vorgefühl überkam mich, welches mich auch später nicht mehr verließ; ich hatte die Empfindung, daß Gefahren, Leiden und Tod uns bevorständen, und daß ich gestern abend mit meinem letzten Blick auf die englische Küste unbewußt Abschied genommen hatte von Bildern, die ich nicht mehr wiedersehen sollte.


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