Joseph Roth
Panoptikum
Joseph Roth

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Bemerkungen zum Tonfilm

Der sprechende Film verstärkt nicht etwa die Täuschung, daß die beweglichen Schatten lebendige Menschen sind, sondern überzeugt viel eher von der Tatsache, daß sie Schatten sind. Die Stimme kommt gleichsam aus einer anderen, uns, den lebendigen Zuschauern, näheren Dimension. Die menschliche Stimme scheint eine sehr körperliche Demonstration zu sein, körperlicher als der Körper, dem sie entströmt. Die Stimme des Sängers im Konzertsaal überwölbt, verhüllt, ja verdrängt manchmal die Erscheinung des Sängers. Schon der sprechende Mensch ist eine doppelte körperliche Existenz. Oft verwandelt sich der Schweigende vollkommen, sobald er zu sprechen beginnt. Was wir von ihm hören, verändert den Eindruck, den wir hatten, als wir ihn nur sahen. Die Stimme »geht uns näher«. Sie scheint unmittelbarer zu sein als das Angesicht, die Hand, die ruht. Ja, die Stimme ist eine direkte körperliche Berührung. Es nützt wenig, daß im Tonfilm die Bewegungen der Lippen, der Gesichtsmuskeln, der Hände genau mit den gehörten Lauten übereinstimmen. Ja, man könnte sagen: je genauer die sichtbare Artikulierung ist, desto deutlicher wird der Eindruck, daß ein Schatten artikuliert, desto größer wird die Distanz zwischen der Unmittelbarkeit der gehörten Laute und dem Schattenhaften der gleichzeitigen Bewegung.

Zwar ist die Stimme ebenso nur »aufgenommen« wie der lebendige Schauspieler. Da aber schon die originale Stimme direkter war als der originale Körper, ist auch die Wirkung der »aufgenommenen« unmittelbarer. Ihr kommt die Bereitwilligkeit zustatten, mit der wir gewohnt sind, uns den Sprecher (den Sänger) »vorzustellen«, wenn wir nur seine Stimme hören (durch das Telephon oder aus dem Grammophon); beinahe den Blitz zu sehen, wenn wir nur den Donner hören: jene natürliche Eigenschaft also, der zufolge der Gehörsinn die visuelle »Vorstellungskraft« stärker und flinker in Funktion setzt als jeder andere Sinn.

Im Tonfilm erscheint also die Stimme näher als das Photo, als das bewegte Photo. Sie erfüllt den ganzen Raum, berührt jeden Zuschauer körperlich, gelangt fast gleichmäßig stark an jeden Platz im Saal. Das Bild bleibt gefesselt an die Leinwand, gefangen in seiner Zweidimensionalität. Als ihm die Stimme noch fehlte, als nur die Musik noch seine Bewegungen begleitete, befruchtete die Beweglichkeit dermaßen unsere »Vorstellungskraft«, daß wir selbst die fehlende dritte Dimension dem Schatten ausliehen, also: »andichteten«. Nun aber scheint nicht die Stimme die Bewegung zu begleiten, sondern umgekehrt die Aktion der Schatten die Modulationen der Stimmen. Und erst, da wir den Tonfilm haben, wissen wir, wieviel der Film der Begleitmusik zu verdanken hat. Sie macht nicht nur die Stimme überflüssig, sie ersetzt gleichsam die dritte Dimension (im Verein mit unserer Phantasie) – weil sie aus einer »andern Welt« kam, um eine nachbarliche zu unterstützen. Eine nachbarliche, aber doch eine fremde. Die Begleitmusik kommt also gewissermaßen aus einer solchen Fremde her, daß sie in der Tat »nur« begleiten kann und die wichtigste Funktion der Beweglichkeit und der Täuschungsfähigkeit des Schattens verbleibt. Die Stimme aber ist die siegreiche Konkurrenz des Bildes.

Nur gelegentlich vermag der Eindruck des sprechenden Bildes ebenso unmittelbar zu sein wie der seiner Stimme; in der »Großaufnahme« etwa. Also das Bild des sprechenden Mundes muß schon einen erheblich großen Teil der Leinwandfläche ausfüllen, um mit seinen eigenen Lauten zu konkurrieren. Man beachte im Tonfilm etwa die normale Aufnahme eines rollenden Wagens und vergleiche den Anblick der Räder mit dem Geräusch des Rollens. Dies scheint von den Rädern gelöst zu sein, weil artikulierende Bewegungen nicht vorhanden sind. Die Räder rollen lautlos, wie im gewöhnlichen Film, über die Leinwand. Über dem Bild von den Rädern ertönt das Rollen, nicht aus dem Bild selbst. Das Ohr des Zuschauers wird empfindlicher als sein Auge. Neben dem suggestiven, betäubenden Lärm wird die Suggestionskraft der gesehenen Drehung bedeutungslos. Das Geräusch erweist sich als körperlich, die Drehung als nicht genug täuschend.

Aktuell scheint also die Frage: Was muß der Film tun, um das Bild ebenso suggestiv zu machen wie seine akustische Äußerung?

Der »Film«, das bewegte Bild, erhält, wie wir gesehen haben, keine Unterstützung vom gleichzeitig aufgenommenen und wiedergegebenen »Ton«, sondern im Gegenteil eine Abschwächung. Die Herstellung des beweglichen Bildes hat also nichts zu erwarten von der neuen Erfindung. Das Bild wird versuchen müssen, selbständig eine Perfektion zu erlangen, die ihm eine Konkurrenz, also eine Übereinstimmung mit seiner eigenen akustischen Äußerung gestattet. Vielleicht ist die Zeit gekommen, wo der Maler den Photographen zu ersetzen beginnt. Beziehungsweise, wo sich die Photographie die körperliche Wirkungskraft von der »Kunst« leihen muß.


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