Joseph Roth
Panoptikum
Joseph Roth

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Der Patron

Es gehört zu den Eigentümlichkeiten des Hoteldirektors, daß man sein Alter nicht schätzen kann. Dem und jenem mag es unheimlich vorkommen, um elf Uhr vormittags einen etwa fünfzigjährigen Hoteldirektor zu sehen, der um drei Uhr nachmittags ein guter Vierziger und spät in der Nacht wieder ein Fünfziger wie am Vormittag zu sein scheint. Nicht so rapide wie seine Physiognomie, aber immerhin verwunderlich schnell genug verändert sich die Haar- und Bartfarbe des Direktors. Es gibt Zeiten, in denen sich in den tiefschwarzen Schnurrbart einzelne silbergraue Härchen zu stehlen beginnen. Ein paar Tage später sind sie verschwunden. Manchmal sieht man auf seinem Kopf den Anfang einer Glatze. Eines Tages erscheint er wieder mit der gewöhnten sanften, seidig-weichen, etwas frauenhaften Haarfülle.

Obwohl er ein durchaus mondäner Hoteldirektor in einem mondänen Hotel ist, spricht das Personal nicht anders von ihm als vom »Patron«. Es mag den armen Menschen, obgleich sie ihr ganzes Leben in der Nähe des modernen Kapitals verbringen, sehr mühsam sein, sich eine Aktiengesellschaft als Brotgeber vorzustellen, einem abstrakten Begriff, hervorgesprungen aus den dünnen Kolonnen des Kurszettels, zu dienen und den Mann, der sie aufnimmt und entläßt, der ihnen das befiehlt und jenes verwehrt, ebenfalls nur für den Angestellten einer geheimnisvollen Aktiengesellschaft zu halten. Es ist einfacher, ihn für den Patron zu halten. Wäre er nun wirklich der Besitzer, ja, wäre er auch nur an der Aktiengesellschaft beteiligt, er würde – wie ich ihn kenne – sich den populären und provinziellen und die ganze Größe des Betriebs beleidigenden Titel nicht gefallen lassen. So aber behagt dem Direktor die Anrede »Patron«, sie schmeichelt ihm sogar.

Derlei Geheimnisse seiner Seele, die ich manchmal zu erraten glaube, aber auch noch andere sichtbare Eigenschaften des Charakters haben mich lange gehindert, den Direktor sympathisch zu finden – so, wie ich es gewollt hätte. Denn die schriftstellerische Objektivität erfordert eine ganz bestimmte Art von Sympathie für die zu beschreibenden Menschen, eine literarische Sympathie, deren sich unter Umständen auch ein Schuft erfreuen kann. Aber mein privates Herz schlägt in einer sentimentalen (und jüngst wieder etwas unmodern gewordenen) Weise für die kleinen Wesen, denen man befiehlt und die gehorchen, gehorchen, gehorchen, und läßt mich selten zu der Objektivität für die großen gelangen, die befehlen, befehlen, befehlen. Was den Direktor betrifft, so wiederhole ich mir manchmal den mildernden Umstand: auch ihm wird befohlen; von der Aktiengesellschaft, das ist wahr! Aber die Befehle, die er empfängt, werden ihm einmal im Jahr, für alle 365 Tage gegeben, es sind Generalbefehle, auf einem schönen Bogen Papier niedergeschrieben, beinahe Dokumente. Er kann sie übrigens auf eine beliebige Weise nach unten hin verstreuen und, wenn sie ihm hart erscheinen, wie es üblich ist, in einer noch härteren Form weitergeben, wodurch ihm sein Los, vergleicht er es mit dem eines ihm Gehorchenden, bedeutend leichter erscheint. Soweit die Leiter, die zur Aktiengesellschaft hinanführt, sichtbar ist, steht er, der Direktor, auf ihrer höchsten Sprosse.

Dennoch hätte ich mich damit längst abgefunden, wenn es nicht zu seinen Gewohnheiten gehörte, sehr leise an Orten aufzutreten, an denen man ihn nicht erwartet. Plötzlich erscheint er in dem abgelegenen Teil eines Korridors. Es ist immer so, als wäre er lange dagestanden und als setzte er sich erst in Bewegung, sobald er einen kommen hört. Ein anderesmal geht er mit schnellem Schritt, den Kopf gesenkt, durch die Halle, wie um zu demonstrieren, daß er sich um niemanden kümmere. Aber ich weiß wohl, daß seine Augen, die seitwärts, nahe an den Schläfen eingefaßt sind wie die eines Vogels oder eher einer Eidechse, rasch und sicher die Bilder der ganzen Umgebung mitnehmen und daß der Direktor nach so einem kurzen Ausflug ganz genau weiß, wer in der Halle sitzt, was der Portier macht und ob alle Liftboys und Boten anwesend sind. Sein Blick verhakt sich harpunenartig in den Bildern. Es ist, als hätte er sie mitgenommen, in sein Kontor, um sie zu entwickeln oder in ein Album zu legen.

Er hat die Gewohnheiten, die Bewegungen, die Eigenschaften eines Detektivs. In der Levante geboren und ein Kind griechischer Eltern, besitzt er wahrscheinlich die geistige Hurtigkeit, die man Griechen und Levantinern zuschreibt. Was er erblickt, sieht er, was er sieht, kennt er. Alle Sprachen spricht er mit der gleichen Geläufigkeit. Aber in keiner einzigen kann er einen fehlerlosen Brief schreiben. Seiner Sekretärin diktiert er nur Stichworte, gescheite Stichworte wahrscheinlich; ihr bleibt die Stilisierung überlassen. Von mittlerer Größe, aber so dünn, daß er zuweilen sehr groß erscheinen kann, sieht er aus wie ein edles Mitglied einer sehr fernen und sehr fremden Rasse. In seinem dunkelbraunen, schmalen und zu beiden Seiten wie abgeplatteten Gesicht erinnert die hagere Nase an eine Waffe, ein gebogenes Messer aus Knochen und Haut. Die schmale Stirn verdeckt rechts eine Welle des schwarzes Haars. Der dünne Schnurrbart wölbt sich wie ein schwarzer Faden – er ist am oberen und unteren Rand rasiert – über dem Mund und liegt beinahe in der Mitte der langen Oberlippe. Der Mund öffnet sich nur sehr wenig, auch wenn der Direktor spricht. Wenn er zahnlos wäre, man würde es nicht bemerken.

Dieser Mann hat ohne Zweifel die Phantasie, die den sogenannten »Luxus« erzeugt und nährt. Wenn es überhaupt ein Wesen gibt, das ganz genau weiß, was »Bequemlichkeit« heißt, so ist es der Direktor. Ihm sind alle bequemen Einrichtungen zu verdanken. Es gibt in diesem ganzen Hotel keinen Tisch mit erhabenen Rändern, die den Unterarm lähmen, wenn man sich stützt. Die Nachtlampen neben den Betten stehen in Greifhöhe in kleinen Wandnischen wie in Safes, und das Brett, auf dem sie ruhen, ist hinauszuschieben. So liegt man nicht in der Angst, daß die Lampe zerbricht, wenn man nach einem Wasserglas greifen will. Alle Aschenbecher sind tief, breit und schwer. Vor jedem Bett ist ein Vorhang, der es am Tag unsichtbar macht. Zwischen den zwei Türen, die in den Korridor führen, ist der Raum so groß, daß der Kellner einen kleinen Tisch mit den bestellten Speisen stehen lassen kann, für den Fall, daß sein Eintritt ins Zimmer stören sollte. Mit der Post bringt man des Morgens dem Gast viele Zeitungen mehrerer Länder zur Auswahl. Nie kann ein Postbote mit eingeschriebenen Sendungen kommen, ohne telephonisch angekündigt worden zu sein. Die ganze Nacht ist die sogenannte »kleine Küche« in Betrieb, bei der man Obst, Tee, Kaffee und Cognac haben kann. Die große Drehtür ist die ganze Nacht offen, so daß man nie zu läuten braucht und einen Schlafenden zu wecken. Auch um drei Uhr morgens brennen alle Lichter wie um neun Uhr abends. Diese Einrichtungen verdanken wir dem Direktor.

Und dennoch ist mir die Art, in der er etwa einem Liftboy befiehlt, ihm ins Kontor zu folgen, sehr peinlich. Er sagt nicht etwa: Kommen Sie! Er winkt auch nicht mit der Hand oder mit den Augen! – Er bleibt vor dem Unglücklichen stumm stehen, sieht ihn an, entfernt sich einen Schritt und wendet sich wieder um. Ich weiß nicht, was hinter der geschlossenen Tür im Büro vorgeht. Aber ich sehe die Männer herauskommen. Sie rücken an den Uniformen, drehen die Köpfe in den Kragen, als hätten sie etwas einzurenken, und geben sich einen Ruck, ehe sie wieder an den Dienst gehen, als kämen sie aus einer ganz, ganz anderen Welt und als gälte es, sich erst in dieser zurechtzufinden. Und sie waren doch kaum länger als zehn Minuten drinnen! Man könnte jetzt eine Frage an sie richten – sie würden nichts hören. Immer noch tragen sie in ihren Ohren einen furchtbaren Klang, in dem alle neuen Geräusche ersticken.

Auch diese Sitten sind vielleicht nur natürlich. Unnatürlich aber ist die Art, immer die gleichen Belanglosigkeiten zu sagen und Fragen zu stellen, auf die man nicht antworten kann. »Sind von weit her gekommen? Hoffentlich gute Zeit gehabt? Freue mich, Sie wiederzusehen, freue mich wirklich sehr!« Und je nach dem Wetter und der Jahreszeit: »Trüber Sommertag heute! Es wird regnen!« Oder: »Schöner, klarer Herbst. Das Beste für die Gesundheit. Wünsche viel Vergnügen!« Und zum Schluß mit einer Verbeugung, die aus dem Körper ein etwas mangelhaft konturiertes Fragezeichen macht: »Safe und Kasse immer zur Verfügung! Empfehle mich!«

Und dennoch sah ich einmal folgendes:

Gegen zehn Uhr vormittags kam ein Mann durch die Drehtür in die leere Halle. Der Direktor stand gerade vor der Tür des Empfangschefs und wollte sich bereits entfernen. Der arme Mann blieb in der Mitte stehen, als hätte ihn jemand hingestellt und wieder verlassen. Er trug einen viel zu langen Überzieher. Die sichtbaren Reste der roten Hände, die aus den Ärmeln kamen, erinnerten eher an Stümpfe. Das Gesicht war mager, aber peinlich rasiert und sogar frisch geschnitten. Der dünne Hals wackelte im viel zu weiten, aber steifen und sehr weißen Kragen. Etwas tiefer ahnte man (aber man sah nicht) ein weiches, blaugestreiftes, nicht mehr ganz sauberes Hemd.

Der Direktor sagte zu dem Mann: »Gehen Sie hinaus, aber kommen Sie wieder durch die Seitentür für Gepäckträger herein!«

Das tat der Mann. Er trat wie aus einer Kulisse. Er benahm sich überhaupt wie auf der Bühne. Er schnallte ein Gummiband von einer Brieftasche und entnahm ihr einige Papiere.

Der Direktor befahl dem Mann, sie selbst zu entfalten. Er nahm sie nicht, strich nur mit einem seiner hurtigen Blicke darüber. Dann schüttelte er den Kopf.

Der arme Mann ging. Da sagte der Direktor ganz leise: »He!«

Der Arme wandte sich um.

»Kommen Sie dennoch heute zu Mittag, pünktlich zwölfeinhalb!«

Der Arme lächelte und versuchte, auf dem Teppich eine Art Knicks zu machen. Dann ging er wieder.

»He!« sagte der Direktor noch einmal leise.

Der Arme wandte sich etwas schneller um, zutraulicher als das erstemal.

Da sprach der Direktor zum Portier: »Lassen Sie ihm einen Milchkaffee geben, komplett!« und entfernte sich schnell. Mitten im Gehen blieb er plötzlich stehen und rief, ohne sich umzuwenden, über die Schulter zurück:

»Mit Schlagsahne!« –

Und verschwand im Kontor.

Seitdem glaube ich zwar noch nicht, daß der Mensch gut ist. Aber ich habe endlich die nötige literarische Objektivität gegenüber dem Direktor. –


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