Joseph Roth
Panoptikum
Joseph Roth

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Briefe aus Deutschland

1

Lieber Freund,

ich habe Ihnen das letztemal – es ist etwas lange her – versprochen, von einigen Eindrücken in einem Neunkirchener Warenhaus zu erzählen, dessen liebenswürdiger Besitzer mir erlaubt hatte, in seinen Räumen nach meinem Gutdünken zu tun und entweder hinter den Ladentischen als Verkäufer oder vor ihnen als Käufer aufzutreten. Ich wählte wegen meiner Unfähigkeit, das eine und das andere zu sein, die etwas schwer zu definierende Rolle eines Beobachters, den man für einen »stillen Teilhaber« halten mochte oder für einen (in Neunkirchen überflüssigen) Detektiv oder für einen Direktor und Personalchef.

Es war der Nachmittag eines Tages, an dem die Arbeiter Geld bekommen. Das sind, wie Sie wissen werden, die Feiertage des Proletariats. Der Mensch ist imstande, nicht nur eine Tugend, sondern sogar noch einen Feiertag aus der Not zu machen. Und statt an den Vorräten eines Warenhauses zu erkennen, wie wenig sie eigentlich einkaufen kann, denkt die Frau eines Arbeiters nur an den Ort, in dem man überhaupt einkaufen kann. Sie hat so wenig und so selten Geld, daß sie geneigt ist, es zu überschätzen.

Es war also ein Nachmittag, und ich ging durch die Hauptstraße von Neunkirchen, deren verrußte Traurigkeit ich Ihnen schon einmal beschrieben habe. In kleinen Gruppen, Kinder an der Hand, gingen Frauen. Sie blieben vor den Schaufenstern stehen, ehe sie in die Läden traten. Ich kam an dem Denkmal des Industriellen Stumm vorbei, des »König Stumm«, wie er im Saargebiet heißt – und zum erstenmal blieb ich stehen, es zu betrachten. Das Denkmal ist bescheidener als die Rolle, die der lebendige Mann gespielt hat. Es steht seitwärts, vor dem Eingang zum Stummschen Werk, weniger sichtbar, als ein Denkmal gewöhnlich ist, und eher beobachtend, wie ein Mensch auf einem Posten. Ja, es ist immer noch so, als stünde der tote Stumm da, um das Gehen und Kommen seiner Angestellten und Arbeiter im Auge zu behalten, er erfüllt seine Pflicht als sein Denkmal und erhält so doppelt sein eigenes Andenken. Da steht er nun, in einem verewigten Zivil, ohne monumentale Geste, mit der ganzen äußeren Bescheidenheit seiner Lebzeiten, kein lauter Imperator, ein stummer König, König Stumm. Der Eingang zu seinem Werk ist imposanter als er, er selbst bleibt im Schatten, respektive im Feuer seiner Hochöfen. Ein Bürger, mit bürgerlichem Hut, im länglichen Rock, der auch ein Überzieher sein könnte. Ruß, Staub und Regen regneten auf ihn. Kein lebendiger Portier möchte so dastehen. Sie werden mir ohne weiteres glauben, daß ich nicht dazu neige, Großindustrielle als solche zu lieben. Aber ich kann beim Anblick dieses Denkmals (das übrigens zu kunstlos ist, um schlecht zu sein) eine gewisse Achtung auch vor der absichtlich demonstrierten Demut des Mannes nicht unterdrücken. Die Industrie-Diktatoren seines Schlages posieren zwar eine bescheidene Zurückhaltung, und auf die patriarchalische Herzensgüte, mit der sie den Ertrag steigern, gäbe ihnen heutzutage kein Arbeiter einen Vorschuß Pietät. Aber es liegt eine gewisse versöhnende Naivität in dieser Pose, in der sie sich dem eigenen Ruß ausliefern, und in ihrer heiligen Überzeugung von ihrem Gottesgnadentum, aus dem sie, wie Stumm, das Recht herleiteten, das Privatleben und das Wahlrecht ihrer Arbeiter zu bewachen. Man kann in diesem Denkmal Stumms (dessen Erbe übrigens nicht unversehrt noch ungeteilt geblieben ist) ein Denkmal einer ganzen Zeit, eines ganzen Unternehmergeschlechts sehen. Es war das Geschlecht der patriarchalischen Herzen aus Eisen und Stahl.

Schräg gegenüber ist das Warenhaus. In kleinen Trupps kommen die Frauen und Töchter und Kinder der Arbeiter. Sie sehen, wenn sie eintreten, noch schmaler aus, kleiner, enger, denn das Haus ist hoch und groß, viele Waren liegen da, die Preise obenauf, jeder Strumpf nennt ungefragt seinen Wert. Vieles ist hier zu haben, aber nichts umsonst, Verkäufer warten, Waren warten, gläserne Kasten warten, auf Geld, auf Geld, auf Geld. Vielleicht fühlen erst jetzt die Frauen, während sie eintreten, wie wenig sie haben. Denn was zu Hause noch kein Bedürfnis war, kann hier plötzlich eines werden, es liegt ein Stück da und erinnert daran, daß es gebraucht wird. Jeder neue Schuh gemahnt an den alten, zerrissenen, den man leider trägt, jeder wollene Strumpf an den baumwollenen, in dem man leider friert, jeder warme Mantel an den alten, kalten, in dem man leider steckt.

Ich beschloß, eine einzige Frau, die einen Knaben führte, von Stand zu Stand zu begleiten, und ich will versuchen, sie Ihnen zu beschreiben. Sie trug ein langes Kleid, schwarz, einen schwarzen, glockenförmigen Mantel darüber, hohe Männerschuhe, keinen Hut, war zwischen Vierzig und Fünfundvierzig. Ihr Haar war mit Sorgfalt frisiert, fahlblond, aus der Stirn gekämmt, oben von einem breiten, gelben Kamm gekrönt und gehalten, rückwärts aus dem Nacken gezogen, ebenso straff wie vorne aus der Stirn, in der Mitte geknotet und noch einmal von einem breiten Kamm abgezäunt, so daß es aussah wie ein Haarberg zwischen zwei Mauern. Man sah viele Falten auf der hohen, künstlich erweiterten Stirn, sie waren klar, fast wie Tätowierungen, von gleichsam sehr gewissenhaften Sorgen eingebrannt. Die Augenlider waren zu schwer für die kleinen hellen, flachen Augen, sie hatten einen Überschuß an lockerer Haut. Über einem weichen, guten Mund aber, der an einen nach oben geöffneten, sanften Bogen erinnerte, lag eine feine, schmale Rinne in der Oberlippe, darüber eine kräftige Nase mit breiten Flügeln, stark, sinnlich und gut. Diese Partie des Gesichts hätte für sich allein sehr schön sein können. Aber die obere Gesichtshälfte lag über der unteren wie eine Wolke über dem Sommer, wie das Alter über der Jugend, wie das Verhängnis über einem Glück. Aus schmalen, schwarzen Ärmeln kamen hellgraue Zwirnhandschuhe. Die linke Hand hielt den metallenen Mund einer alten Lacktasche fest, eine zweite, große, gestrickte Tasche hing am Arm. Als die Frau die Tür öffnete, ließ sie den Knaben vorgehen, und da ihre Linke so wichtige Dinge bewahrte, mußte sie eine Vierteldrehung vollziehen, ehe sie ganz eintrat. Es war rührend, wie sie den Versuch machte, die Tür, die selbst zufiel, auch noch persönlich zu schließen. Ich stellte mir vor, wie leicht es wäre, sie in eine Dame der guten Gesellschaft zu verwandeln. Ich schnitt ihr Haar und ihren Rock um gute anderthalb Meter ab, warf eine Haarwelle über ihre Stirn, steckte schwarze Halbschuhe aus Wildleder an ihre Füße. Schon stand sie da in dunkelgrauen, seidenen Strümpfen, trat frei durch Türen, die nicht nur selbst zufallen konnten, sondern sich auch selbst geöffnet hatten – und sie war eine Bürgerin wie etwa die Frau eines Ingenieurs. Warum nicht? Wie gering kann der Unterschied zwischen den Frauen der verschiedenen Schichten sein! Oder wie leicht ist er zumindest zu verwischen!

Sie blieb vor den Strümpfen stehen, zog einen Handschuh aus, legte ihn in die gestrickte Tasche, verwahrte ihn vor Verlust und Einbruch und besichtigte Strümpfe zu 15 Francs. Sie sprach kein Wort. Sie zog einen Strumpf nach dem andern über die Hand, führte ihn nahe an die Augen, streifte ihn wieder ab. Sie besichtigte Fersen, Nähte, Sohlen, ließ den Knaben ihre Lacktasche halten und prüfte mit beiden Händen die Haltbarkeit, und es dauerte eine Viertelstunde; da hatte sie ein Paar, schlangenfarbig, mit Zick-Zack-Linien, nicht schön, aber fest. Hierauf ging sie, ohne zu kaufen, Decken sehen. Sie prüfte jede, fragte nach den Preisen, legte sie wieder zurück. Ging hinauf in die Knabenabteilung. Verlangte ein paar blaue Höschen, in der Farbe sollten sie zum Rock des Kindes passen. Nun zeigte man ihr Hosen, sie ging hinter den Ladentisch, zum Fenster, verglich die Hose mit dem Rock. Aber den Rock hatte das Kind schon sechs Monate getragen, er war blaß geworden, und die neuen Hosen waren dunkel, doppelt dunkel. Sie waren so billig, daß der Verkäufer sagen durfte: »Im Tragen läßt die Farbe nach.« – Wie verschieden, dachte ich, können die Vorzüge einer Ware sein. Wäre diese Frau jene Dame, in die ich sie früher verwandelt hatte, käme sie mit einem edlen Knaben und womöglich mit einem Hund, der Verkäufer würde sich beeilen zu versichern: »Diese Farbe läßt im Tragen nicht eine Spur nach, gnädige Frau!« Dieser Frau half die Wahrheit gar nichts. Denn nicht einmal diese Hose, die 25 Francs kostete, konnte sie kaufen. Sie wollte nicht, daß die Hosen anders aussehen als der Rock. Einen ganzen Anzug konnte sie nicht kaufen. Aber es sollte doch aussehen wie ein einziger Anzug, aus einem Stück. Dabei besaß sie dem Verkäufer gegenüber nicht genug Autorität, und gegen seine Wollkenntnis konnte sie nicht aufkommen. »Es ist ganz genau die gleiche Qualität«, sagte er. »Es ist eine andere Farbe«, erwiderte sie. »Die Farbe wird dann nach kurzer Zeit genauso«, widersprach er. Und als ich mich näherte, begann die Arme zu fürchten, daß sie jetzt endlich erliegen würde. Hatte sie dem Verkäufer noch standhalten können – einem Mann, der da so herumging wie ein stiller Teilhaber und seine kostbaren Kräfte für schwierige Kunden aufsparte, konnte sie nichts entgegensetzen. Deshalb log sie, als ich am Tische stand, und wurde rot: »Ich bin nämlich gar nicht die Mutter! Wenn ich seine Mutter wäre, aber, Sie verstehen, für ein fremdes Kind kann ich mich nicht entschließen.« Und sie nahm beide Taschen vom Tisch und ging zur Kasse und bezahlte 15 Francs, nachdem sie anderthalb Stunden zu kaufen versucht hatte.

Sie ging, ging wie jemand, der eine Prüfung nicht bestanden hat. Alle diese Frauen stehen ja vor dem Einkauf wie vor einer Prüfung. In diesem Warenhaus ist es leicht zu verkaufen. Die Menschen sehen zu den Verkäufern auf wie zu Helfern und Ratgebern, die Verkäufer stehen am Rand der höheren sozialen Schicht und besitzen die Autorität der Modegelehrten, der um Sitte und Brauch Bescheid Wissenden. »Wie steht mir dieser Mantel?« fragt in der Frauenabteilung die Arbeiterin das Mädchen. »Ich empfehle Ihnen« und »Ich rate Ihnen« sind die üblichen Formeln der Verkäufer.

Entsinnen Sie sich, wie wir vor drei Jahren zusammen durch die großen Modehäuser der großen Stadt gingen, die an Wintergärten erinnern? Wie die schönen, kleinen Verkäuferinnen (sie sahen alle aus wie Blumenmädchen) unter der ebenso schönen, stolzen, tyrannischen Souveränität der Käuferinnen seufzten? Wie diese Frauen mit spitzen, spielenden und im Spiel grausamen Fingern die Schleifen, die Stoffe, die Seiden und die künstlichen Blumen hoben und fallen ließen, noch schätzten und schon mißachteten, noch liebkosten und schon verwarfen, schon zu Neuem hingezogen, wieder zum Alten heimkehrten, kommandierten und fragten, mit der Freiheit, die nicht immer nur vom Geld kommt, sondern von der Schönheit, dem Selbstbewußtsein, dem siegreichen Blick und der anmutigen Handbewegung? Warum nicht hier?

Warum? Als ich wieder an dem bescheidenen Denkmal des bescheidenen Königs vorbeikam, dachte ich (ein keineswegs zum Richten Befugter, einer, der sich nur zu ahnen erlauben darf), daß Zusammenhänge bestehen zwischen Denkmal und Einkaufsfurcht im Warenhaus und Subalternität; Zusammenhänge zwischen einer demütigen Unsicherheit, die sich bis ins dritte und vierte Geschlecht fortpflanzt, und einer patriarchalischen Erziehung durch einen Unternehmer, der sich um Ehe und Verlobung, Wochenlohn und politische Gesinnung, Kindertaufe und Sargbeschaffenheit der Untertanen kümmert. Der die »väterliche Hand« zur »eisernen Faust« schließt und die »spartanische Zucht« zu einer nationalen Tugend erhebt. Man muß – – – was muß man?

Es bleibt mir noch übrig, Ihnen über zwei Besuche im Saargebiet zu berichten: über ein Werk und über die Kirche. Ich schreibe Ihnen darüber im nächsten Brief.

Ich begrüße Sie herzlich,

Ihr J. R.

2.

Lieber Freund, ich erinnere Sie an das Wort von Pierre Hamp, das Sie mir einmal zitierten, als wir vom »Segen der Arbeit« sprachen: »Par le travail, où l'on ne chante plus, se fait un grand œuvre d'abatissement humain. L'ouvrier n'aime plus son métier, et cela ébranle le monde.« Das schrieb Pierre Hamp in einem Lande, dessen Menschen schwieriger vielleicht als andere ein friedliches Verhältnis zur Technik finden können – die Begründung bleibe ich Ihnen vorläufig schuldig, sie gehört in ein anderes Kapitel – und in einer Zeit, in der die Maschine nur erst als ein brutaler, Menschen verzehrender Mechanismus erschien (ähnlich, wie sie in manchen heutigen verspäteten, romantisch-sozialen Kunstwerken dargestellt wird) und noch nicht als das komplizierte Produkt menschlichen Geistes, von dem allein es abhängt, ob der Mechanismus ein Freund oder ein Feind des Menschen werde. Ich glaube, mich überzeugt zu haben, daß Pierre Hamp nicht überall und nicht unter allen Umständen recht hat. Der Arbeiter singt nicht mehr, weil der weit mächtigere Gesang der Maschine ihn zum Schweigen gebracht hat, und in seinem Lauschen liegt heute vielleicht ebensoviel andächtige Lust wie ehedem in seinem Lied. Der intelligente Arbeiter von heute liebt sogar sein »métier«. Man muß nur sehen, wie interessiert er alle technischen Entwicklungen beobachtet, die sein Spezialfach angehen. Ja, es scheint, daß seit der Zeit, in der das Mechanische sich dem Organischen anzunähern beginnt, die Symbolkraft des »sausenden Rads« schwächer und eine Art Nervensystem der Maschine erkennbar wird, sie langsam aufhört, ein »feindliches Element« zu werden. Nebenbei gesagt ist unter anderem auch deshalb die Romantik jener Literatur, die ich nach dem berüchtigten Film die »Metropolis-Literatur« nennen möchte, vollkommen falsch, die Romantik, die gehirnlose Maschinenmenschen voraussieht und das Menschliche im Mechanischen nicht erkennt; die nicht weiß, daß es ein Stadium gibt, in dem nicht der Mensch sich der Maschine, sondern umgekehrt sie dem Menschen sich anpaßt.

Denkt man daran, das heißt: befreit man sich von den überlieferten Vorstellungen: »Sklaven der Maschine«, so ist der Besuch eines Werks nicht trauriger als der eines Spitals zum Beispiel, eines Waisenhauses oder einer Arbeiterkolonie. Er ist allerdings auch nicht »erhebend«, wie ihn die Fanatiker der »rauchenden Schlote« und die Besinger der »flammenden Hochöfen« nennen mögen. Das Werk ist grau und gewöhnlich, wie der Tag war, an dem ich hinging. Man erzeugt dort keine Gedichte, sondern Schienen, Drähte, Eisen, Stahl. Die Tendenz der Werkbesitzer ist: Geld zu verdienen, und der Wunsch der Werkarbeiter: ihr Leben zu fristen. Lauter alltägliche Angelegenheiten.

Das Tor ist breit und offen. Ich vermisse hier die gewohnte Warnung: Unbefugten ist der Eintritt verboten. Aber es scheint, daß eine so mächtige Institution eines solchen Verbots nicht mehr bedarf und daß nicht damit gerechnet wird, es könnte ein Unbefugter Lust bekommen, hier einzutreten. Links hinter dem Eingang steht übrigens schon das Häuschen des Pförtners. Niedlich fast, gelb-rot, aus Ziegelchen, ein Wetterhäuschen wie in einem Schaufenster. Dahinter ist das Verwaltungsgebäude. Noch vor dem Eingang arbeitet ein Motor. Eisenfunken sprühen – ich weiß nicht, welchen Zweck er hat – und eine Tafel mahnt: »Vorsicht!« Er erinnert mich, der ich seinen Zweck nicht verstehe, an eine Art mechanischen Wachhundes. Das Verwaltungsgebäude ist hell, klar, kahl. Livrierte Botenjungen, Glockensignale, Nummern, die auf Täfelchen herausspringen, Wartezimmer, Herren, die mit der üblichen Würde über den Korridor gehen, Schlüssel am Zeigefinger. Es ist still wie in einem Spital. Wartende rascheln mit Zeitschriften. Eine Glocke schnarrt. Man holt mich.

Zehn Minuten später verlasse ich durch eine rückwärtige Tür das Verwaltungshaus. Vor mir liegt das Werk. Wirr und öde für einen, der sich nicht auskennt. Hochöfen und Schornsteine nehmen sich in der Ferne sehr regelmäßig aus, aufgerichtet nach einem genauen und leicht übersichtlichen Plan. Tritt man in ihre Nähe, ist die Symmetrie dahin. Ein planloser Haufen sind sie. Willkür scheint sie errichtet zu haben. Dennoch ist sicherlich die Wirrsal jetzt ebenso scheinbar, wie es früher die Planmäßigkeit gewesen ist. Der größte Teil dieses Werkes liegt frei. Ich weiß nicht, ob es in allen Werken so ist. Hier jedenfalls geht ein Wind wie durch Ruinen. Keine Wände, ihn zu lindern. Der Boden: Schutt, Geröll und Asche. Hellgrauer, zäher Schlamm. Deutliche Räder- und Fußspuren. Wüßte ich nicht, daß hier gearbeitet wird, ich könnte glauben, es würde hier aufgeräumt. Das Tageslicht, obwohl Wände nicht seinen Einbruch hindern, bekommt hier eine ungewohnte Schattierung. Es wird braun und grau. Es saugt Eisensplitterchen und Rauchmoleküle auf, wie ein Löschblatt Tinte. Es liegt alles so zufällig nebeneinander wie auf einem Bauplatz, nicht wie zum Beispiel in einer Fabrik. Es ist, als arbeitete man hier nicht in einem bereits Errichteten, sondern an etwas zu Errichtendem. Der Raum ist gleichsam nicht eingefangen, er ist zügellos, sich selbst überlassen und seiner eigenen, brutalen Willkür, sich rohe, barbarische Formen zu schaffen. Über mir, vor mir, hinter und neben mir rollen an Seilen Wägelchen, eiserne Kränchen, leere und beladene, sicherlich einem Ziele zu. Dennoch ist es so, als hätten sie keines. Vielleicht täuscht mich ihre Wirrnis und ihre Überzahl, vielleicht aber auch ihre Langsamkeit. Denn sie ziehen durch die Luft mit der Trägheit schwerer Insekten und eine Art grollendes Summen begleitet ihr Schweben. Dazwischen klingt der quietschende Aufschrei eines unwilligen, wahrscheinlich rostigen Gelenks. Über den kleinen Wagen ziehen große, schwere, schwarze Kräne ihre Viertel- und halben Kreise, ganz langsam und fast pathetisch. Wüßte man nicht, daß oben in einem kleinen Glashäuschen ein Mann sitzt, der sie lenkt, man fände die intelligente Sicherheit, mit der sie ruhen und sich wieder in Bewegung setzen und wieder ausruhen, unheimlich. Sie bleiben still, lassen eine riesige Zange sinken, wie einen lockeren, aber starken Arm mit gespreizten zwei Fingern, ergreifen kneifend einen Block Eisen, ziehen den Arm wieder ein, drehen sich langsam zurück, lassen den Block weich und sachte in einen Wagen fallen, legen ihn nieder, behutsam, als könnte er sich weh tun. Es ist, als würde nicht Eisen auf Eisen gelegt, sondern eine Flocke auf Kissen. Eine gewisse Würde, fast von einer Symbolkraft, offenbart sich in diesen fünf, sechs langsam hin- und zurückschwebenden großen Kränen, unter denen die nur wenig gelenkigen kleinen Kränchen wie spielende Kinder aussehen. Es ist in den großen die Langsamkeit eines Zeremoniells. Sie symbolisieren sozusagen die »Weihe der Arbeit«

Ich steige eine schmale, bebende Wendeltreppe hinauf, sie ist ein bißchen rührend; zart, gebrechlich scheint sie, obwohl sie aus Eisen besteht, – und sie erinnert trotzdem an eine Schlingpflanze, frei, in der Luft emporgerankt zu einer Art Terrasse. Es wird heiß, obwohl es ringsum frei ist und man den Himmel sehen kann. Ich stehe auf Brettern, gelegt auf einen Grund aus Schlamm, Lehm, Sand. Von irgendeinem fernen, sachten und dennoch sehr starken, gleichsam verpackten Gepolter schüttert der Boden, auf dem ich stehe, mit mir. Zuweilen ist es, als stünde ich auf der Plattform einer Lokomotive. Vor mir sehe ich einen riesigen, schwebenden Kessel, eine Art überdimensionalen Kochtopf, dessen Öffnung sich mir langsam zuzuwenden beginnt. Flüssiges Feuer kocht in diesem Kessel. Langsam, gewichtig und dennoch mühelos dreht er sich. Jetzt gähnt mir sein Mund entgegen. Jetzt sehe ich, geblendet, was er enthält: einen silberweißen, bläulich durchsprenkelten, rötlich durchzuckten, spröden, knisternden Brei aus Feuer. Eine merkwürdige Art von Brei. Er hat die Elastizität, aber nicht die behagliche Weichheit eines Schlamms. Er ist zähflüssig wie dieser, aber nicht so klebrig. Es ist, als bewahrte das Feuer seinen Stolz, seine gefährliche schneidende Härte, seine Schwert-, Lanzen- und Messerähnlichkeit auch noch dort, wo man es fast für Wasser halten könnte. Und wo ein gewöhnlicher Schlamm vielleicht Blasen bilden würde, sprüht dieser Feuerschlamm Funken. Sie spritzen mir entgegen, auf mein Gesicht, auf meine Kleider, meine Haare. Aber sie haben ein kurzes Leben. An der Peripherie der dichtesten, komprimiertesten Hitze gleichsam sterben sie schon, und der Elan, mit dem sie aus dem Kessel sprangen, eine Welt in Brand zu setzen, war vergeblich. Dennoch wäre es mir peinlich, den Platz jenes Arbeiters einzunehmen, der unmittelbar vor dem Kessel steht, eine Uhr in der Hand, ein Kommando rufend, in einem feuersicheren Kleid, merkwürdigerweise ohne Brille. Wenn man zehn Jahre lang jeden Tag vor diesem Kessel steht, muß das Blut, so denke ich, ein anderes Tempo bekommen haben, es rollt nicht mehr, wie von der Natur vorgesehen, durch die Adern, den Körper beherrschen andere Temperaturgesetze, und selbst das Gehirn denkt nach anderen Normen. Ich stelle mir vor, daß die Gedanken dieses Mannes einen jäheren Flug und eine kürzere Dauer haben müssen. Derlei hat die Wissenschaft wahrscheinlich noch nicht ergründet, und es wird infolgedessen von der sozialen Gesetzgebung auch gar nicht in Betracht gezogen.

Und immer wieder neigt sich ein anderer der drei nebeneinander schwebenden Feuerkessel und schüttet seinen Inhalt aus. Dann bricht für einen Augenblick ein weißer Glanz aus, ein Glanz wie von einem der flüssigen Himmelskörper, die wir uns nur vorstellen können. Oben aus dem Hochofen regnet es in diesem Augenblick Feuer gegen den Himmel, und ich sehe heute die Ursache – die ich übrigens nicht verstehe – jenes Schauspiels, das mich Nacht für Nacht beschäftigt hat. Mir ist, als hätte ich nun den Schleier eines Geheimnisses in der Hand, aber nicht gelüftet. Ich wüßte, wollte ich weiterforschen, wohin die Schlacke kommt und wohin die überflüssigen, übrigens immer auch noch verwendbaren Gase. Aber ich suche ja gar nicht nach diesen Realitäten. Wenn ich wüßte, was in diesem Augenblick in der Seele des Arbeiters vorgeht, der geradewegs ins weiße Feuer sieht! Aber ich erführe doch nur, was mit der Schlacke geschieht!

Hinunter zu den Plätzen, wo die Schienen entstehen, die Stangen, die Drähte! Das sind die großen, ein wenig schiefen Ebenen, auf denen in vorgeschriebenen, gewundenen Bahnen die Eisen hervorschießen, zischend, glühendrot, zornigen Schlangen gleich, ein Spektakel, das sich zehnmal in der Minute wiederholt und dessen man niemals müde wird. Am besten gefallen mir die dünnen Drähte. Ihre Kurven sind die elegantesten und lebendigsten, es ist wirklich, als gehörten sie eher in das Bereich der Zoologie als in das der Technik, sie entspringen im Hintergrund ganz schmalen Löchern, lassen ein leises, geradezu distinguiertes Zischen vernehmen und sind die Aristokraten unter den feurigen Schlangen. Mit einem kühnen, grellroten Elan springen sie in die Welt. Mit einer hurtigen, sechsmal gewundenen, edlen Zartheit schlängeln sie sich die Bahn abwärts, verändern schnell das grelle Rot in ein dunkles, purpurenes, schließlich in ein braunes, sie werden alt, aber sie würden trotzdem noch eine Weile sich so fortwinden im schlanken, schießenden Lauf, ergriffe sie nicht ein aufmerksamer Mann mit einer scharfen, schneidenden Zange. Er zwickt sie ab, eine Schlange nach der anderen, er lauert ihnen auf, gerade wenn sie mitten im schönsten Bogen sind, unterbricht er ihren Lauf und ihr Leben, trägt sie seitwärts, löscht sie aus. So ähnlich schlängeln sich vielleicht unsere Lebensfäden in der Unterwelt, und die Parze steht da mit der Zwickzange. Eine Viertelstunde später sind es keine Schlangen mehr, es sind Drähte, aus denen man Gitter machen kann und Rattenfallen und allerhand Dinge.

Sechs- bis neunhundert Francs verdienen die Werkarbeiter im Saargebiet, nicht mehr, eher weniger als die in den Kohlengruben. Ich sprach beim Mittagessen mit dem Beamten eines andern Werks darüber, der mein Entsetzen merkte und mich zu trösten versuchte: »Da sind so viele Arbeiter, sie laufen auf dem großen Werk herum, viele drücken sich, arbeiten gar nichts – das wäre in den Gruben unmöglich.« »Ja«, erwiderte ich, »aber geben Sie zu, daß es kein Vergnügen ist, in diesem Werk spazierenzulaufen. Es sieht nicht aus wie ein Sanatoriumspark.« Es kam als Antwort das Argument, das ich natürlich vorausgeahnt hatte: »Es ist Gewohnheit.« So lautet der Trost der Gedankenlosigkeit. Es gibt eine ganze Lehre, die sich auf der Theorie von der »Gewohnheit« aufbaut. Man könnte von einer nationalökonomischen Richtung der Gewohnheitstheoretiker sprechen. Als ob die Gewohnheit mit dem Schlimmen schon das Gute entbehrlich machte! Und als ob zum Beispiel einer, der sich ans Frieren gewöhnt hätte, die Wärme entbehren könnte! Der Hinweis auf die »Gewohnheit« ist der Trost der unzulänglichen Herzensgüte.

Merkwürdig war, daß derselbe Beamte ebenfalls über seine schmalen Einkünfte klagte. Er bekam 1600 Francs, hatte eine geschiedene Frau und eine neue, drei Kinder, zwei Häuser zu versorgen. Nach seiner eigenen Theorie hätte er doch eigentlich schon daran »gewöhnt« sein müssen. Aber offenbar kann sich niemand selbst an das Leid gewöhnen, obwohl jeder glaubt, just der andere könnte es.

Es war ein Samstag. Und ich beschloß, am nächsten Tag in die Kirche zu gehn – wo bis auf weiteres immer noch der Trost gefunden wird, den die Sozialpolitik nicht geben kann.

Ihr J. R.


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