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Am Morgen stand vor dem Hotel ein Hund. Mit dem flüchtigen Blick eines Schriftstellers, dem Individuen vertrauter sind als Gruppen, Gattungen und Rassen, sah ich den Hund für einen Fox an. Er sprang an mir hoch, leckte meine Hand, erwartete, daß ich ihm etwas zum Spielen hinwerfe. Er hatte ein weißes Fell und unter dem linken Auge einen schwarzen Fleck. Während ich seine Ohren betrachtete, mit denen er wedeln konnte, gewann ich den Eindruck, daß es die Ohren eines Jagdhundes waren; und weil ich die Mischungen höher schätze als die mühsam gezüchteten Abkömmlinge reiner Rassen (die auch durch Mischungen entstanden sind) und weil ich – vielleicht im Gegensatz zur Naturwissenschaft – glaube, daß die Ereignisse einer zufälligen, unkontrollierten und obdachlosen Leidenschaft intelligenter sind als die einer sorgfältig vermittelten Tier-Ehe, wurde mir der gleichgültige und fremde Hund sympathisch. Er war kein Fox. Aber er war ein Hund.
Kein Zweifel, daß er herrenlos war. Er trug zwar ein Halsband, aber keine Marke. Es war ein gutes, ledernes Halsband, mit kleinen quadratischen Metallplättchen verziert. Solche Halsbänder kaufen nur wohlhabende Hundebesitzer. Diese aber hängen auch Marken an die Halsbänder. Wenn der Hund zwar noch ein Halsband, aber keine Marke mehr besaß, so war anzunehmen, daß ihn sein Herr nicht verloren, sondern verlassen hatte. Ich nahm es jedenfalls an, weil ich nicht glaube, daß der Mensch gut ist. Ich nahm an, daß der Herr den Hund gekauft hatte – in der Meinung, es sei ein Fox. Als der Herr aber sah, daß der Hund die Ohren eines Jagdhundes bekam, beschloß er, das Tier loszuwerden. Er führte es – es war noch jung, und Millionen Gerüche verwirrten es – in eine abgelegene Straße, ließ es stehn, sprang in ein Auto und verschwand. Denn nicht alle Menschen denken so über Mischlinge wie ich.
Außerdem war der Hund krank. Über seiner Stirn war ein dünner, rötlicher Ausschlag verstreut – nicht häßlich, nicht ekelhaft, eher harmlos und vom Aussehen einer harmlosen obligaten Kinderkrankheit – aber immerhin ein Ausschlag. Er roch nach einer Salbe, mit der man ihn noch jüngst behandelt haben mußte. Dieser starke Duft – er war wie Lavendel und Karbol – mochte die unerfahrene Nase des Hundes noch mehr verwirrt haben, so daß er nicht mehr nach Hause fand und einen fremden Menschen für einen bekannten hielt. Den Entschluß des Besitzers, den Hund zu verlassen, hatte diese Krankheit sicherlich gefestigt, wenn nicht hervorgerufen. Denn ich traue der Güte eines Menschenherzens noch immerhin so viel zu, daß es einen Mischling erträgt. Aber einen kranken Mischling gesund zu pflegen, und wäre es auch nur mit einer Salbe, geht über seine Kraft. Schließlich ist man nur ein Mensch.
Am Nachmittag dieses Tages mußte ich den Ort – ein Kurort in Südfrankreich – verlassen. Ich hatte eine lange Reise vor. Achtzehn Stunden in einem Güterwagen, an jeder Station von geschäftigen und vielleicht auch gehässigen Trägern gestoßen oder geworfen: das ist für einen kranken Hund zu viel. Ich hätte mich freilich um ihn kümmern, ihn vielleicht im Kupee verbergen können. Aber auch mein Herz hat nur menschliche Qualitäten.
Ich ging mit dem Hund ins Restaurant. Er bekam einen Knochen, Gemüse und Wasser. Den Knochen nahm er mit, als wir weitergingen. Wir kamen zur Polizei, in die »Abteilung für gefundene Gegenstände«. In einem kahlen und feuchten Zimmer saß ein Beamter an einem langen und breiten Tisch. Dieser Tisch, schwarzbraun, von Holzwürmern zernagt, von Millionen Federn zerstochen, bildete zugleich die Barriere zwischen dem Beamten und dem Publikum. Um auf seinen Stuhl zu gelangen, mußte der Mann über den Tisch klettern oder durch eine verborgene, absichtlich geheim angebrachte Tür das Zimmer betreten, ähnlich, wie Schauspieler die Bühne. Es schien mir auch, daß der Beamte hinter dem Tisch gar nicht seinen nüchternen Beruf ausübte, sondern daß er eine Rolle spielte – eine Nebenrolle allerdings. Er saß vor einem schmalen Buch, einem Tintenfaß, einem grünen Federhalter – den einzigen Gegenständen auf dem breiten, wüsten Tisch –, und er schrieb nicht einmal. Er wartete. Vielleicht verließ er dieses Zimmer überhaupt niemals. Vielleicht wartete er seit der Begründung der Polizei. Er hatte runde, goldbraune und sehr schnelle Augen. Sie erinnerten an die kleinen, gläsernen Spielkugeln der Kinder. Nach allen Richtungen rollten sie hurtig – von allen Körperteilen, die den Beamten ausmachten, schienen sie allein frei und beweglich zu sein. Denn selbst die Hand, die der Beamte mit der Feder zum Tintenfaß und dann zum Buch führte, bewegte sich nicht dermaßen, daß man sagen könnte, es wäre eine freie Hand gewesen. Es war, als könnte sie überhaupt keine andere Bewegung vollführen als die von der Weste zum Tintenfaß und vom Tintenfaß zum Buch. Es war eine rötliche, dünne Hand mit blauen Adern und stumpfen Nägeln, und von den Fingern waren nur Daumen und Zeigefinger gebrauchsfähig. Die andern drei Finger hingen nutzlos an der Hand wie Berlocken. Der Arm steckte ebenfalls fest an der Schulter, nicht durch eines der üblichen Kugelgelenke mit ihr verbunden, sondern wie ein Riegel in sie geschoben.
Der Hund spielte unter dem Tisch mit dem Knochen. Zwar war er kein Gegenstand, aber er gehörte doch in die Abteilung für gefundene Gegenstände. Während der Beamte aber, Brieftaschen zu behalten, das Recht und die Pflicht hatte, blieb ihm, einen Hund zu bewahren, überhaupt keine Möglichkeit. Vielmehr bestimmte das Gesetz, daß ich, der Finder, den Hund 24 Stunden zu behüten, zu pflegen und zu ernähren habe. Meldete sich nach Ablauf dieser Frist der Eigentümer nicht, so konnte ich den Hund laufen oder töten lassen.
Ich sagte dem Beamten, daß ich gegen dieses Gesetz zu handeln und heute noch abzureisen entschlossen sei, vielleicht mit dem Hund, wahrscheinlich aber ohne ihn. »Wie Sie wollen!« sagte der Beamte. Denn es war nicht seine Pflicht, mich von einer Übertretung zurückzuhalten. Ich war bereits erwachsen und konnte tun, was ich wollte. Er legte seine Seh-Kügelchen einen Augenblick auf mein Gesicht. Er sah mich an, wie einen, der ins Feuer rennt. Andere, nicht an Schreibtische gebundene, auf Automobilen dahinsausende Beamte waren dazu da, mich irgendwo zu ergreifen und den Gerichten zu überliefern. Ihm selbst blieb nichts mehr übrig, als dem Hund unter dem Tisch einen Fußtritt zu versetzen. Er konnte es sich leisten, weil es ja ein herrenloser Hund und ein gefundener Gegenstand war. Er mußte es sogar tun, denn wie sollte man einem Tier anders beibringen, daß es bereits eingetragen sei? Vielleicht benützte der Mann auch die Gelegenheit, mir zu zeigen, daß er noch einen Fuß bewegen könne. Denn er saß, wie gesagt, schon lange auf seinem Platz.
Auf der Straße riet mir ein Mann, ich sollte mit dem Hund zum Tierschutzverein. Ich läutete an dem eisernen Gitter einer Villa. Auf der Stiege kam mir ein Herr entgegen, dessen Gesicht ich nicht sehen konnte. Er verbarg es im Schatten, der den oberen Teil der Stiege verfinsterte. Ich sah nur seine Weste, seine dunkle Hose, seine roten Pantoffeln, ein Stückchen von seinen gelben Strümpfen. Ich hörte nur seine Stimme, eine sanfte, tiefe Stimme, aus einem eingefetteten Hals. Die Worte rollten auf geölten Rädern. Die Stimme wies mich ab. Sie wäre zwar, sagte sie, der Präsident des Tierschutzvereins. Aber sie könne nur in der Saison, wenn die Engländer kämen, Tiere annehmen, für die sich unter den Kurgästen ein Käufer finde.
Ich fragte in den Schatten hinauf, ob es einen Tierarzt in der Nähe gäbe. Ja, kam es zurück, aber einen, den man zahlen müßte. Offenbar wurde oben angenommen, daß jemand, der einen falschen Fox gefunden habe, eine Konsultation zu bezahlen nicht imstande sei. »Ich werde bezahlen!« rief ich empor. Und erfuhr die Adresse.
Es war aber bereits zehn Minuten nach vier, als ich zum Tierarzt kam. Seine Frau öffnete, erkannte sofort die schlechte Rasse des Hundes, zählte auch mich ihr zu und sagte: »Mein Mann arbeitet nur bis vier. Sie können ja lesen!« Es war eine hübsche, blonde, vollbusige, junge Frau, geschnürt, gepudert, das Haar gewellt, die Lippen geschminkt, so übertrieben tadellos angezogen, als wäre sie bei sich selbst zu Besuch. Ich ahnte, während ich sie betrachtete, die peinliche Sauberkeit ihrer Zimmer, ihren Abscheu gegen Staub, Armut, Motten und Revolution, ihre Sparsamkeit, ihre eheliche Treue, den Mangel an Gelegenheit und den ständigen Verkehr mit Tierärzten, die nichts anderes waren als ihr Mann – denn die Frauen lieben manchmal den Wechsel der Berufe mehr als den der Männer. Ich sah sie zu früher Morgenstunde aufstehn, Nippessachen abstauben, Aschenbecher putzen, die von nackten Nymphen aus Kupfer gehalten waren, silberne Kaffeelöffel abzählen, Mittagessen vorbereiten, ich sah sie nach dem Essen im Schaukelstuhl sitzen und im »Echo de Paris« von den Greueln der Bolschewiken und den neuen Rüstungen der Deutschen lesen. In den zwei Minuten, die sie brauchte, um mich hinauszuwerfen, erkannte ich sie und ihre Tugenden – denn im Gegensatz zum Hund gehörte sie einer ganz bestimmten Gattung an, einer Rasse, möchte ich sagen, deren Angehörige in allen Ländern der Welt die gleichen Eigenschaften auszeichnen.
Wir fanden einen andern Tierarzt, der bis fünf Uhr ordinierte. Es war ein kleiner, flinker, gefälliger Mann, er sah eher einem Schnellphotographen ähnlich. Wenn er den Hund prüfte, so schien es mir, daß er über eine günstige Art, das Tier aufzunehmen, und nicht über seine Krankheit nachdachte. Es sei nicht schlimm! meinte er. Außerdem gäbe es einen guten Ausweg! Vor zwei Wochen sei ein neuer Tierarzt gekommen, ein städtischer, der die Hunde nicht töten lasse. Er käme jeden Tag zum Wasenmeister, pflegte die Hunde bis zur Versteigerung. Seien sie aber unheilbar, so töte er sie auf eine humane Weise.
Es blieb noch eine Stunde Zeit bis zu meiner Abfahrt. Ich begab mich mit dem Hund zum Wasenmeister. Es war ein großer, starker, heiterer Mann mit einer Amtsmütze. Dieses Lächeln, sagte ich mir, kommt nur von einem guten Gewissen. Dieser Wasenmeister sollte Präsident des Tierschutzvereins sein. Sein gutes Herz liegt ihm auf der Zunge. Die Hunde wissen ihn gar nicht zu schätzen. Er ist zu stark, um feig zu sein. Er ist zu simpel, um schlecht zu sein. Sieh, wie sein Gesicht breit ist, ein Teller voll Güte! –
Der Hund aber – er stand zu tief, um das Angesicht des großen Mannes sehen zu können – roch an dem Wasenmeister nur tausend gefangene Hunde und nichts mehr. Der Hund ließ sich von ihm nicht anfassen. Ich selbst mußte das Tier in den Käfig sperren. Es nahm noch den Knochen mit. Ich gab dem Wasenmeister ein Trinkgeld und drohte, daß ich mich nach einigen Tagen nach dem Schicksal des Hundes erkundigen werde. –
Ich fuhr weiter. Ich lebte, einer Arbeit hingegeben, in einer fernen Stadt im nördlichen Frankreich, eine Woche, zwei Wochen. Eines Tages begann ich, an den Augenblick zu denken, in dem ich den Hund in den Käfig gesperrt hatte. Diese Erinnerung hatte gar keinen vernünftigen Anlaß. Sie kam wie ein stiller Wind. Vor meiner strengen Prüfung nahm sie zwar bald das Gesicht einer Sentimentalität an. Aber als ich noch strenger prüfte, fiel es mir schwer, eine »Sentimentalität« zu definieren. Was war das? Vor elf Jahren habe ich drei Sturmangriffe erlebt. Einmal sah ich rings um einen Brunnen, der vom Feind »eingeschlossen« war, ein Dutzend toter Kameraden liegen, deren Durst stärker gewesen war als die Furcht vor dem Tode. Ich erinnerte mich an die sterbenden Pferde an den Rändern der Wege, die wir gezogen waren. Was war eine »Sentimentalität«? War die Reue über den Verrat an einem Menschen selbstverständlich und die über den Verrat an einem Hund »sentimental«?
Ich kam zu der Überzeugung, daß ich sozusagen sentimental sei. Und ich telegraphierte dem Wasenmeister: Wenn der Fox, am Soundsovielten samt Trinkgeld übergeben, gesund und am Leben, so bitte ich um Bescheid, wann er gegen eine angemessene, hohe Belohnung abzuholen wäre. Ich bezahlte die Antwort.
Sie lautete – kurz und bündig, wie es der Stil der Wasenmeister erfordert: »Pas de fox.« Das heißt: Kein Fox! Oder noch besser: Keine Spur von einem Fox! ...
Und ich verstand den Sinn dieses Telegramms. In einem Brief hätte mir der Wasenmeister etwa folgendes mitgeteilt: Weil der Hund kein rassereiner Hund war, also kein Fox, also wahrscheinlich nicht zu verkaufen, habe ich ihn, der noch hätte leben können, getötet. Es ist nicht der erste Hund, es ist auch nicht der letzte Hund. Nur keine Sentimentalitäten! –