Joseph Roth
Panoptikum
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Fräulein Larissa, der Modereporter

Fräulein Larissa verfügte zwar über ein Pseudonym, aber anscheinend nicht über einen Familiennamen. Als hätten die Seltenheit und der fremde und schöne Klang ihres Vornamens Larissa von der bürgerlichen Pflicht befreit, noch einen anderen zu führen, oder als hätte sich dieser andere, weil er vielleicht zu simpel, geschämt, sich an die Seite eines Worts wie »Larissa« zu stellen.

Sie war seit undenklichen Zeiten eine treue Mitarbeiterin des Blattes, die man aus Galanterie nicht eine »alte Mitarbeiterin« nennen konnte. Man sagte lieber: eine »langjährige«. In der Tat hatte die Galanterie ausnahmsweise nicht unrecht. Larissa war nicht mehr jung, aber sie blieb jugendlich. Ja, ihre Jugendlichkeit war keineswegs künstlich, sondern eher eine Art zweiter natürlicher Jugend, die mit der ersten die charakteristische anmutige Torheit gemein hatte. Ihr verdankte Larissa gelegentlich Bewegungen, Mißverständnisse, Aussprüche, rührende Manifestationen einer rührenden Ahnungslosigkeit, die den erwachsenen, ältlichen Menschen mit einem Schlag und nur für die Dauer einiger Sekunden in einen charmanten Backfisch verwandelten. Dann war Larissa wie ein junges Mädchen aus einer ganz fernen, verschollenen Zeit. Es war, als wäre sie vor langen Jahren in der Blüte ihrer Jugend gestorben und eben durch ein Wunder aus einem ewigen Schlaf erwacht, um ihre Jugend fortzusetzen. Sie war gleichsam nicht gealtert; sondern im Verlauf der Jahre zu einer Ruhestätte, einer Behausung ihrer eigenen verborgenen eingeschlafenen und nur gelegentlich erwachenden Jugend geworden.

Sie war Berichterstatterin über Modeangelegenheiten. Da aber die Mode allein nicht genug Erträgnisse einbrachte, kümmerte sich Larissa auch um alle jene öffentlichen Dinge, die nach einer weitverbreiteten Meinung der weiblichen Natur »näherliegen« als der männlichen. Zum Beispiel um Mutterschutz, Waisenkinder, Wohltätigkeitsfeste, Lotterien und Scheidungsprozesse, Blumenausstellungen und Obdachlosenasyle. So sehr sich alle diese Angelegenheiten auch voneinander unterschieden, so blieb doch Fräulein Larissas Haltung gegenüber den Demonstrationen des Luxus wie jenen des Elends immer gleich, die Melodie ihrer Berichte – denn sie hatte statt eines Stils eine Melodie – immer dieselbe. Nur das Adjektivische wechselte. Hieß es einmal: »In den prachtvollen Räumen des ...Kasinos fand am 21. dieses Monats« usw., so stand das andere Mal: »In den düsteren Räumen des ... Obdachlosenasyls herrschte am 23. dieses Monats helle Freude ...« usw. Fräulein Larissas schriftliche Berichte waren von einer hellen, optimistischen Sachlichkeit, während ihre mündlichen Berichte sie selbst und den Hörer bis zu Tränen rühren konnten. Sie besaß einen Blick, das Rührende ausfindig zu machen, und eine Stimme, es zu erzählen. Den Worten aber, in denen sie es niederschrieb, fehlten die Wärme und die Anmut, kurz: »die Beseeltheit« ihrer Stimme. Zwischen den Zeilen schwebte verloren der Rest einer persönlichen Melodie, auch nur für sehr feine Ohren vernehmbar. Da der Lokalredakteur aber für »Substantielles im Blatt« war und von zwanzig Zeilen, die Fräulein Larissa geschrieben hatte, vierzehn zu streichen pflegte, entschwebte meist auch der Rest der Melodie für ewige Zeiten. Aus diesen und ähnlichen Gründen blieb Fräulein Larissa ein Objekt, ein Werkzeug, ein Organ des Luxus, auch wenn sie sich mit dem Elend befaßte. Und selbst ihre Berichte über aktuelle Angelegenheiten der öffentlichen Armut blieben liegen, weil man glaubte, es wären Berichte über Blumenfeste.

Von der besonderen Eleganz, die Fräulein Larissa äußerlich kennzeichnete, muß noch einiges gesagt werden:

sie ging, weil sie die besten beruflichen Verbindungen mit den großen Schneidern hatte, nicht etwa nach der »letzten Mode« gekleidet, sondern bereits nach der nächsten. Sie trug schon im Frühling die Sommerpelze und im Herbst die Winterhüte. Und so war sie selbst der zuverlässigste, der bestgelungene »Vorbericht über die nächste Modeseason«. Es gibt keine größere journalistische Vollkommenheit. Sie verwandelte sich selbst in ihre Artikel – und die Zeilen, die sie schrieb und die man ihr strich, waren vielleicht nur deshalb so unbeholfen, weil ihre äußere Erscheinung ihre journalistischen Fähigkeiten vorweggenommen hatte.

Ja, sogar ihre Gestalt schien sich den kommenden wechselnden Moden anzupassen. Sie bekam und verlor verschiedene »Linien«, Hüften, Büsten, Schultern. Und dennoch behielt das, was man ihr »eigentliches Wesen« nennen könnte, gleichsam die innerste körperliche Hülle ihrer Seele, etwas Unzeitgemäßes, Verschollenes, und immer war ein Abstand zwischen »ihr selbst« und der Persönlichkeit, der sie sich abwechselnd anpaßte. Vielleicht machte diesen Abstand ein vollkommener Mangel an Eitelkeit sichtbar. Fräulein Larissa demonstrierte die Kleider, die sie trug, wie etwa ein Physiker Experimente. »Sehen Sie«, konnte sie sagen, »so einen rechteckigen Fehbelag am Ärmel wird man nächstens tragen. Die Schöße werden wieder glockenförmig. So wie bei mir!« Und sie stand auf, machte eine Wendung, und man sah die Glockenform ihres Rocks.

Jeder Witz machte sie verlegen. Denn sie, die niemals eine Doppelsinnigkeit begriff, fürchtete immer eine »Anzüglichkeit«. Und sie wurde auf jeden Fall rot, auch wenn sie etwas Belangloses, Einfaches mißverstanden hatte. Das waren übrigens die Augenblicke, in denen sie schön wurde und in denen man sie hätte lieben können. Die Scham verzauberte sie. Sie war ein junges Mädchen. Ihr verkümmertes Gesicht weckte die Verlegenheit, die gleiche Verlegenheit, die man in der Anwesenheit eines jungen Mädchens empfindet: eine Verlegenheit, gemischt aus Väterlichkeit, Mitleid und Lust.

Fräulein Larissa starb am Typhus während des Krieges. Sie war Pflegerin gewesen. Sie starb in Bukarest. Dort wurde sie begraben. Zum ersten und zum letzten Mal stand ihr voller Name in der Zeitung. Sie hieß Larissa Schorr.


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