Joseph Roth
Panoptikum
Joseph Roth

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Der Portier

Am Nachmittag, »zwischen den Zügen«, wenn die Halle leer und still ist und ein gelbliches, idyllisches Sonnenlicht in die Portierloge strömt, erinnert mich der Portier an eine Art von goldbetreßtem und beweglichem Heiligen in einer Nische. Er faltet, um die Ähnlichkeit noch vollkommener zu machen, seine Hände über den goldenen Knöpfchen, die seinen Bauch verschließen, und gibt sich einer beharrlichen Betrachtung der Luft hin, dem Spiel der Sonnenstäubchen und wahrscheinlich einigen Gedanken, die sein Privatleben berühren dürften. Schließlich beginnt er sich seiner Untätigkeit vor den Boys zu schämen, die in einer kleinen Gruppe beisammenstehen und in denen sich vielleicht schon der Übermut der Jugend regen könnte, und er erfindet einige höchst überflüssige, exemplarisch gedachte Tätigkeiten, aus moralischen Gründen. So zieht er zum Beispiel seine schwere, goldene Uhr aus der Westentasche und vergleicht sie mit der elektrischen Wanduhr, deren großes, weißes, rundes Angesicht wie ein Hotel-Mond, aufgehängt an zwei grobgeflochteten Ketten, gespenstisch silbern die goldene Atmosphäre des Nachmittags unterbricht. Es ist so still, daß man den großen Zeiger nach jedem Minutenruck ächzen hört, und dieser Klang bekommt etwas Menschliches in der Stille. Lange blickt der Portier auf die Uhren, als wollte er die eine oder die andere auf einem kleinen Sekundenfehltritt erwischen. Dann steckt er mit einer enttäuschten Miene, die ein visueller Seufzer ist, seine Uhr wieder ein. Er legt zwei große Bücher so übereinander, daß ihre Kanten genau übereinstimmen, rückt das Tischtelephon neben das Tintenfaß, rollt mit einer flachen Hand den Federhalter in die für ihn bestimmte Mulde, bläst ein imaginäres Stäubchen vom Tisch, betrachtet lange einen lockeren Knopf an seinem Ärmel und dreht ihn, um sich zu vergewissern, daß er heute noch nicht abfallen wird. Niemand wagt ihn zu stören. In dieser nahezu andächtigen Stunde könnten seine Gehilfen, zwei Männer in Zivil, die schweigsam vor dem Eingang stehen, keine Frage an ihn richten.

Es sind übrigens immer zwei andere Männer, die sich in seiner Nähe aufhalten, und es dürfte ihrer sechs geben. Genau kann ich ihre Zahl nicht nennen, weil sie niemals gleichzeitig und vollzählig vorhanden sind. Wenn die einen kommen, sind die anderen unterwegs, in Konsulaten, Apotheken, Blumenläden, fremden Wohnungen, von den Gelegenheiten in Anspruch genommen, deren Boten, Kunden und Diener sie sind. Ob sie zum besoldeten Hotelpersonal gehören oder zu den protegierten Freunden des Portiers, ist mir seit Jahren festzustellen nicht möglich. Allem Anschein nach ist der und nicht das Hotel ihr Brotgeber, er, der Vater der Gelegenheiten. Sie gehorchen ihm, wie Jagdhunde dem Treiber – und sie mögen sich auf noch so entfernten Wegen befinden, immer ist es, als hielte er sie alle an unsichtbaren, dehnbaren Schnüren und als wäre es ihm möglich, sie jeden Augenblick zu erreichen. Er behandelt sie wie eine Art armer heruntergekommener Verwandter, die man vom Schicksal mitbekommen hat, eine erbliche Krankheit. Ihre Existenz hat zweifellos etwas Rätselhaftes – ein Leben ohne Uniform und ohne Abzeichen. Hier trägt jedermann sonst das Abzeichen seines Dienstes und seiner Bestimmung, nur sie haben die Anonymität eines Zivils, das an die Ränder der Gesellschaft denken läßt, eine Gehetztheit verrät, ein gejagtes Jagen, an Polizei erinnert und gleichzeitig an verbotene Wege.

Genug von ihnen! In dieser stillen Stunde sind sie für den Portier Luft, weniger als Luft, die er immerhin manchmal zu betrachten geneigt ist. Sie aber sieht er nicht an, selbst wenn er zu ihnen spricht. Er hat die Fähigkeit, von dem erhöhten Podium, auf dem er steht, einen Auftrag hinunterzuerteilen, ohne eine bestimmte Person anzusehen, als wäre die Halle bevölkert von Dienstbeflissenen, die nur auf einen Befehl warten. Und nur wenn ein Gast an den Tisch tritt, um eine Bestellung aufzugeben, neigt er sachte den Kopf – nicht etwa um besser zu hören, sondern um seine Überlegenheit zu verbergen, welche die Gäste nicht gerne merken mögen.

Denn er ist ihnen ohne Zweifel überlegen. Ich finde an seinem starken Kopf, der breiten, weißen Stirn, an deren Schläfen die schwarzen Haare schon silbrig zu schimmern beginnen, den weit auseinanderliegenden, hellgrauen Augen, über denen sich die dichten und großen Brauen in vollkommener Rundung wölben, dem tiefen Ansatz der später kräftig vorspringenden, knochigen Nase, dem großen und abwärts gebogenen Mund, den der melierte Schnurrbart in ähnlich vollkommener Wölbung überschattet, wie die Braue das Aug', dem massiven Kinn, in dessen Mitte ein verlorenes, schmales Grübchen liegengeblieben ist als eine Erinnerung an die Kindheit: ich finde an diesem Angesicht gewisse Züge von porträtierten großen Herren wieder, einen bestimmten Ausdruck von stolzer Kälte, einen Hauch, der über das ganze Angesicht gebreitet ist wie ein durchsichtiges, klares Visier aus bitterem Frost. Das Angesicht ist bräunlich gerötet, als käme es aus einem Leben im Freien, aus einem Leben zwischen Korn, Wasser, Wald und Wind, die Haut ist straff – und die wenigen starken Runzeln über der Nase und die vielen zarteren dicht unter den Augen scheinen nicht von alltäglichen Sorgen eingegraben worden zu sein, sondern freiwillig empfangene Zeichen, Tätowierungen des Lebens und der Erfahrungen, ausgeführt von Wind und Wetter ...

Wie er sich jetzt vor dem Herrn verneigt, ist es keine Verbeugung, sondern eine körperliche Herablassung. Wie er einen Auftrag entgegennimmt, ist es, als erhörte er eine Bitte. Wie er so zustimmend nickt, erinnert er an den milden Richter aus amerikanischen Filmen (wo allein noch milde Richter vorkommen). Der Gast macht ihm jetzt einen Vorwurf. Aber es sieht aus, als dächte der Portier nach, wer wohl von allen der Schuldige sein könnte. Und mittels einer kleinen, außerordentlich nebensächlichen Frage wird er aus einem Pflichtvergessenen ein Mitfühlender, und sein Versäumnis verwandelt sich in Teilnahme. Als wäre der Herr zu ihm gekommen, nicht um ihm etwas vorzuhalten, sondern um sich bei ihm zu beklagen! »Heda!« ruft der Portier zu der Gruppe der untätigen Boys hinüber. »Wer von euch hat den Anzug von 375 zum Bügeln getragen?« – Schweigen. – Es war kein Boy, sondern der Hausdiener, den der Portier eben mit dem Autobus zur Bahn geschickt hat. Er erinnert sich sehr wohl an den Protest des Hausdieners, den Anzug, die besondere Dringlichkeit des Auftrags. Aber er hat nicht einen Augenblick ein Schuldbewußtsein. Ich will nicht damit angedeutet haben, daß er etwa kein Gewissen hätte! Es ist nur anders beschaffen! Es ist weiter, räumlicher, vergleichbar dem eines Generals zum Beispiel, von wichtigeren Dingen in Anspruch genommen, von der Sorge ums Ganze erfüllt. – »Marsch hinunter – und den Anzug geholt!« befiehlt er jetzt. Wer gäbe noch was für die Unversehrtheit eines Boys, der in dieser Situation zu fragen wagte: Wo ist der Anzug zu holen?! Es ist jetzt etwas im Auge des Portiers erwacht, etwas, das an einen Peitschenknall im Zirkus erinnert, einen gezückten Dolch, ein Unwetter am Horizont ... Der Boy fragt nicht; er läuft. Über der Gruppe der zurückbleibenden Jungen läßt sich ein brütendes Schweigen nieder, eine verhängte sommerliche Schwüle. Einsam steht der betreßte Meister auf seiner Höhe und atmet eine Wolke stummen Grolls in die Halle ...

Dennoch könnte er sofort wieder lächeln, wenn ein Gast, wie ich zum Beispiel, gerade das Bedürfnis hätte, ihn um etwas anzugehn. Nichts an ihm – der mir durchaus nicht so verständlich ist, wie ich glauben machen will – ist mir so merkwürdig wie seine Gabe, Zorn und gute Laune, abweisende Erhabenheit und dienstbereite Beflissenheit, Gleichgültigkeit und Neugier sehr schnell aufeinander folgen zu lassen. Es scheint mir manchmal, daß jede seiner Stimmungen mit ihrem Gegenteil gefüttert ist und daß er seine Laune nur zu wenden braucht, um sich zu verwandeln. Jetzt, zehn Minuten bevor die ersten Gäste vom »Mailänder Expreß« kommen, rüstet er sich zum Empfang, das heißt: er rückt an der Weste. »Zehn Minuten!« ruft er dem Empfangschef zu. Es ereignet sich etwas Außerordentliches: er verläßt seine Loge. Er steigt von seinem erhöhten Platz und zerstäubt die Gruppe der Boys, von denen jeder an eine bestimmte Stelle läuft, der eine zur Drehtür, ein anderer zum Lift für Gepäck, der zu dem für Personen, jener an die Treppe, zwei zur Garderobe. Noch zwei Minuten – und das erste Automobil fährt vor. Der Portier spitzt die Lippen und läßt einen leise zischenden Schlangenruf ertönen. Aus einem dunklen Seitengang stürzt ein Gepäckträger in grüner Schürze hervor. Schon hört man draußen einen surrenden Motor. Schon kommen die ersten Gepäckstücke. Der Portier wirft einen Blick auf sie, und da es lederne Koffer sind und ein dunkelgraues, grünkariertes Plaid und ein ledergesäumtes Stoff-Etui für Regenschirme und Spazierstöcke, rückt er noch einmal an seiner Weste. Bei jedem neuen Gast tauscht er einen schnellen Blick mit dem Empfangschef – und jeder Blick bedeutet: eine Zimmernummer, ein Stockwerk, einen Preis, eine Mahnung, eine Warnung, Zufriedenheit oder Mißmut. Ja, es gibt Gäste, bei deren Eintritt der Portier ganz sachte ein Auge schließt, so daß ihnen die Auskunft zuteil wird, es sei alles besetzt. Manchmal – aber das kommt höchstens einmal in der Woche vor – macht der Portier eine Verbeugung – und wenn er sich wieder aufgerichtet hat, sieht man, daß ein Lächeln sein Gesicht verklärt, ein ansteckendes Lächeln übrigens, das sich auf alle überträgt wie ein Gähnen. Dann geht der Gast an lauter lächelnden Gesichtern vorbei, wie zwischen zwei Reihen von Lichtern.

Nebenbei gesagt, sehe ich bei dieser Gelegenheit, daß der Portier eine wollige, graue Zivilhose, die zu einem offenbar eleganten Straßenanzug gehört, unter seiner halben Uniform trägt, als wollte er so andeuten, daß er nur zur oberen Hälfte livriert ist, zu jener nämlich, mit der er sich so selten verneigt. Es verrät mir ein wenig von seinem Privatleben, von dem ich einiges zu wissen glaubte. Es ist eine kleine Enthüllung mehr, bilde ich mir ein. Gewiß hat er seine Beziehungen zu Schneidern, und es ist sogar anzunehmen, daß sich Handwerker um seine Gunst bemühen und ihm besonders billige Kleider liefern. Am Abend, nach sechs Uhr, verschwindet unser Freund in der Garderobe, aus der er nach fünf Minuten mit einer fremden, verwandelten Würde wieder heraustritt. Zum ersten Male sieht man ihn Grüße erwidern. Den schwarzen Stock mit dem silbernen Knauf in der grau behandschuhten Linken, lüftet er mit der Rechten den schwarzen Halbzylinder, den er mit vornehmer konservativer Treue immer noch trägt, lüftet ihn höflich, aber flüchtig vor den Boys, die sich sehr tief vor ihm verneigen. Leutselig plaudert er noch eine Weile mit dem Nachtportier. Gäste, die in der Halle sitzen oder die ihm in den Weg kommen, würdigt er nicht eines Blickes. Noch einmal schweift sein Auge durch das Rund des Raumes, entdeckt mich und sprüht mir einen Funken Freundlichkeit herüber. Dann begibt er sich endgültig zur Drehtür. Und an der gravitätischen Schwere, mit der jetzt ihre Fächer langsam rotieren, merkt man erst, wer eben das Hotel verlassen hat ...


 << zurück weiter >>