Joseph Roth
Panoptikum
Joseph Roth

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Der Nachtredakteur Gustav K.

Gustav K. war ein Nachtredakteur.

Das Blatt erschien jeden Morgen um drei Uhr. Jede Nacht um elf Uhr dreißig erschien der Nachtredakteur.

Er war frisch rasiert, frisch gewaschen, ausgeruht, nach Seife duftend und Menthol. Ein vorausgeeilter Teil des nächsten Morgens.

Er schien die Müdigkeit der anderen nicht zu begreifen. Erfrischt von seiner Morgenwanderung durch die nächtlichen Straßen betrat er ahnungslos die Gesellschaft der Erschlafften, klopfte den Stehenden auf die Schultern, den Sitzenden auf die Knie und wunderte sich, daß sie zusammenfielen, morsche Gerüste.

Er schien sich für den Gesundesten zu halten. Ja, es war, als ob er sich jede Nacht aufs neue seine eigene Stärke absichtlich demonstrierte, um sein schwächliches Aussehen, seine mageren Glieder, sein blaßgelbes Gesicht zu dementieren.

Zwei Stunden später war auch er verwandelt. In zweimal sechzig Minuten hatte er einen zwölfstündigen Arbeitstag zurückgelegt.

In seinem dünnen Angesicht flossen die Schatten der Sorgen mit den zufälligen fetten Spuren der Druckerschwärze zusammen, die ein achtloser Finger hinterlassen hatte. Die gescheitelten dünnen, schwarzen Haare standen wie Drähtchen und winzige Spirälchen. Die Ränder der Fingernägel waren auf einmal schief geschnitten, wenigstens schienen die lila Flecken unaufhörlich nachgespitzter Tintenstifte die Unregelmäßigkeit der Nagelformen sichtbar zu machen. Als wäre die Arbeit am Schreibtisch ein unfehlbares Haarwuchsmittel, begann der Bart des Nachtredakteurs, kaum eine Stunde, nachdem er rasiert worden war, üppig und grauschwarz aus den Poren der Wangen zu dringen. Die weißen Manschetten klebten am Handgelenk, dahin war ihr halbgesteifter Glanz. Der Knoten der Krawatte wurde locker, schob sich zwischen die Wände des »Stehumlegkragens« und ließ ein glänzendes goldenes Knöpfchen sehen, an dem nicht nur der Kragen und das Hemd, sondern auch die ganze Kleidung des Mannes, ja er selbst zu hängen schienen. Erhob sich Gustav K. aus seinem Lehnstuhl, so sah man plötzlich die Holzwolle aus einem Loch im dünnen Lederbezug dringen – und zwar mit einem solchen Ungestüm, daß man glauben konnte, das Loch wäre früher nicht dagewesen, sondern erst von der Wirbelsäule des Redakteurs ausgebohrt worden. Er selbst ging mit vorgeneigtem Oberkörper und lockeren, seitwärts schlendernden Beinen die Stiege zur Setzerei hinauf. Er erinnerte an einen Lahmen, der die Krücken abgelegt hat. Oben, in der Setzerei, lehnte er sich mit aufgestützten Ellenbogen an einen der langen, metallbeschlagenen Tische, einen Kopierstift zwischen den Lippen, den er hin- und hergleiten ließ wie eine natürliche Fortsetzung der Zunge. Der Bleistift begleitete so die Bewegungen der Augen, die einen Bürstenabzug lasen. An der und jener Stelle blieben sie haften, und auch der Bleistift stand still. Manchmal löste sich die Hand von der Wange, der Ellenbogen vom Tisch. Gustav K. ergriff ein Stück Papier, zerknüllte es langsam, formte es zu einem Ball und schleuderte es einem der ahnungslosen Setzer zu, der eine erschrockene Bewegung machte. Das war ein Witz gewesen. Es war, als hätte sich der Nachtredakteur nur überzeugen wollen, ob er noch zielen könne. Einen Augenblick nur hatte sein Angesicht den Ausdruck einer knabenhaften Verspieltheit gezeigt. Man konnte ihn sehen, wie er in kurzen Höschen vor dreißig Jahren am Ufer eines Wassers Steinchen in die Wellen schleudert.

Er wurde sofort wieder ernst. Er vergaß nicht einen Augenblick, daß er die »ganze Verantwortung« für »das Blatt« trug und daß er unaufhörlich Gefahr lief, eine falsche Nachricht für eine richtige zu halten, eine richtige für falsch, eine wichtige für belanglos, eine Kleinigkeit für wichtig.

Er kannte die ganze Welt, obwohl er nur einen kleinen Teil von ihr gesehen hatte. Wenn ein Telegramm aus Peru meldete, eine Brücke wäre eingestürzt, so schien es Gustav K., weil er mit Peru so vertraut war, daß der Einsturz der Brücke wichtig genug sei, in Borgis gesetzt zu werden. Kam ein Bericht über Heuschrecken im Kaukasus, so hätte Gustav K., weil er die Heuschrecken so genau kannte und den Kaukasus, am liebsten einen Aufsatz von einem Naturforscher gebracht. Für ihn gab es keine geographische Ferne. Er beschwerte »das Blatt« mit fünfzig überflüssigen Nachrichten. Hielt ihm der Chefredakteur am nächsten Abend vor, daß die Nachricht über den General Correira in Mexiko niemanden etwas angehe, so erwiderte Gustav K.: »Sie täuschen sich! Der General Correira hat eine außergewöhnliche Laufbahn! Im Jahre 1874 geboren, ist er 1894 schon Oberst der Truppen von Vera Cruz, und der nächste Aufstand macht ihn zum Kommandanten der Hauptstadt. Sogar seine Feinde achten ihn. Und jetzt hat er eine schwere Rippenfellentzündung ..!« Ging es schon nicht an, die Rippenfellentzündung in Petit zu bringen, so erschien sie wenigstens in Nonpareille unter den »Vermischten Nachrichten«. Eine Tollwut unter den Hunden von Konstantinopel hatte Anspruch auf zehn Zeilen auf der dritten Seite, links oben, weil die Hunde in Konstantinopel eine Gefahr für die ganze Menschheit werden konnten. »Unter Umständen«. – »Unter Umständen«, pflegte Gustav K. zu sagen, »kann so eine Tollwut die Matrosen großer Dampfer erreichen«. Es gab also nichts »Unwichtiges«. Wenn der Nachtredakteur eine Nachricht über ein kleines Ereignis in einem weit entfernten Lande schon in den Papierkorb getan hatte, so bückte er sich nach fünf Minuten, holte das zerknüllte Papier hervor, glättete es und wandelte es künstlich wieder in den Zustand einer eben eintreffenden, noch unbekannten Nachricht. Er zwang sich, sie zu vergessen, um sie hierauf noch einmal zu erfahren. Noch einmal tauchten die alten Argumente gegen ihre Veröffentlichung auf; und noch einmal warf er sie weg.

Aber wahrscheinlich tat sie ihm noch lange leid. Und fand er sie am nächsten Tag in einem anderen Blatt, so empfand er Gewissensbisse über seine Gleichgültigkeit der Zeit und ihren Ereignissen gegenüber, und er beneidete seinen Kollegen, der die Nachricht »ins Blatt« gebracht hatte. Ja, es ist anzunehmen, daß er in solchen Augenblicken beschloß, bei dem »Umbruch« der folgenden Nummer vorsichtiger mit den kleinen und vermischten Nachrichten umzugehen. Aber saß er dann wieder vor dem aufgehäuften »Material«, las er die Berichte aus der näheren Umgebung, so erinnerte er sich mit einem wehen Schrecken an die unbarmherzige Wirklichkeit einer in Nationen, Staaten, Länder, Städte aufgeteilten Welt und an die Tatsache, daß er selbst der Redakteur eines bestimmten national bestimmten Blattes war, das in einer bestimmten Stadt erschien. Daß es also Grenzen gab zwischen nahen und den fernen Ereignissen und daß »der Leser« kein Kosmopolit war, dem die ganze Erde ein gleichmäßig interessantes Angesicht bot, sondern ein festgesessener Mensch, den der Nachbar mehr interessierte als der Ausbruch des Vesuvs. Und er sortierte die Ereignisse, wie es seine Pflicht war, nach nahen und fernen, nach Garmond, Borgis, Petit und Nonpareille, und die nächsten Dinge bekamen die größten Schriften.

Gegen drei Uhr morgens wusch er sich die Hände an der Wasserleitung in der Setzerei, langsam, gründlich, mit Streusand und scharfer Seife. Dann warf er noch einen Blick in den halberblindeten Spiegel, fuhr mit den Fingern über das Haar und wischte mit einem Taschentuch die schwarzen Flecken aus seinem Angesicht. Er erinnerte an einen Schauspieler, der sich abschminkt. Im Sommer war, wenn er die Straße betrat, der Himmel schon klar. Die ersten Amseln begannen zu flöten. Die Milchwagen ratterten. Die Bäckerjungen flatterten weiß von Haus zu Haus. Gustav K. begab sich in ein Kaffeehaus in der Nähe des großen Marktes. Es öffnete sich sehr früh, der Händler wegen. Über dem Büfett brannte trüb und gelb die Lampe, ein schon gestorbenes Licht von gestern. Der Redakteur, dem gestern nacht bereits der heutige Morgen gewesen war, erinnerte heute morgen an die gestrige Nacht. Er saß zwischen den rüstigen ländlichen Frauen und Männern, die nach Rüben und Karotten rochen, doppelt bleich, zehnfach einsam, der intellektuelle Repräsentant der Stadt, der echteste aller Städter: ein Redakteur. Er entfaltete das erste der Morgenblätter, und sofort vertrieb die Druckerschwärze den Geruch der Rüben und Karotten. Es war der Geruch der Stadt. Er erinnerte an den des schmelzenden Asphalts und des Terpentins und des Pechs, mit dem die Straßen ausgebessert wurden. Gustav K. wartete auf die anderen Morgenblätter, fand in ihnen kleine Nachrichten, die er selbst nicht »gegeben« hatte, und ging verärgert zur Haltestelle der Straßenbahn. Mit dem ersten Wagen, der frisch und munter aus der Garage kam, fuhr er nach Hause.

Nur einmal im Monat, am Dreißigsten, kam er am hellen Mittag in die Redaktion, um auf den weißen Umschlag zu warten, in dem der kümmerliche Rest eines Gehalts lag. Auf dem Umschlag stand der Name Gustav K. unversehrt neben der schwerverletzten, durch Subtraktionen mißhandelten Summe. Gustav K. war sauber, rasiert, feucht gekämmt, wie um Mitternacht. Aber ernst und nicht zu kräftigen Späßen aufgelegt. Ein rebellischer Geist erfüllte ihn. War es die ungewöhnliche Stunde, zu der er das Bett verlassen hatte? War es das geringe Gehalt, dessentwegen er aufgestanden war? – Um die Mittagsstunde eines jeden 30. verkündete Gustav K. kommunistische Grundsätze. Er verfluchte die demokratische Gesinnung des Blattes. Er nannte den Chefredakteur einen »Lakaien der Finanz«. Er schwor, nächstens sozialistische »Kuckuckseier« ins Blatt zu legen. Und nach einem Monat zu kündigen. Ja, er trat mit dem weißen Umschlag in der Hand in das Konferenzzimmer, wo einige Redakteure saßen, und sagte: »Ich kündige, meine Herren!« Niemand sah auf. Alle hatten es schon zwanzigmal gehört. »Ich arbeite nicht mehr in diesem Schweinestall!« fuhr Gustav K. fort.

Da ereignete es sich manchmal, daß einer sagte: »Haben Sie gelesen, wie uns die Sozialdemokraten heute angreifen?«

»Wo steht das?« sagte der Nachtredakteur. »Diese Bande! Sehen Sie, wie schlecht sie das Blatt aufmachen! Daß überhaupt jemand dieses Blatt liest! Das sind keine Journalisten! Das sind ...« und Gustav K. suchte lange nach einem beleidigenden Ausdruck, bis er endlich die schimpflichste aller Bezeichnungen fand: »Parteipolitiker sind sie! ...«

Und er steckte den Umschlag in die Tasche.


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