Joseph Roth
Panoptikum
Joseph Roth

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Brief aus Polen

Lieber Freund,

ich komme eben aus einem der interessantesten Gebiete Europas. Ich meine jenen Teil des kleinpolnischen Landes, in dem sich die berühmten Petroleumquellen befinden. Es liegt, wie Sie wissen, im Süden Mittelgaliziens und am nördlichen Rande der Karpathen, und sein Mittelpunkt ist die sehr merkwürdige Stadt Boryslaw. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts wird hier Petroleum gewonnen. Auf einem Gebiete von etwa 15 Quadratkilometern stehen die dunklen, hölzernen Bohrtürme. Vergleiche ich sie mit den Bohrtürmen von Baku, so erscheinen sie mir weniger grausam und gewissermaßen der Erdoberfläche weniger gefährlich. Die Erde des kaukasischen Petroleumgebiets nämlich trägt auf ihrem Angesicht jenen Fluch, der wie ein Ausgleich für den Segen in ihrem Innern ist. Sie hat kein Grün, nur wüsten, gelbgrauen Sand und braune, schmutzige Tümpel, die niemals trocknen wollen, obwohl sonst alles in der südlichen Sonne dorren muß. Hier in Boryslaw, das man das »polnische Baku« nennt, ist die Sonne gemäßigt, sind die Bohrtürme schütter und trotz ihrer tausendfachen Zahl noch immer nicht die einzige Vegetation des Landes. Noch gibt es Wälder, die nur zögernd vor den Türmen weichen und sie eher friedlich zu umgeben als feindselig zu fliehen scheinen. Der Blick darf von den verschalten Quellen weg zu den grünen Hügeln schweifen, denen der Umstand, daß sie schon zur Familie der Karpathen gehören, eine gewisse Respektabilität verleiht. Und wäre nicht der Staub, der ein Bruder des kaukasischen Staubes ist, so gäbe es nur die Türme, die an Baku erinnern könnten.

Aber der Staub ist da, weiß und außergewöhnlich dicht. Es ist, als wäre er nicht das zufällige Produkt aus Abfall und abgesonderter Körperlichkeit, sondern als wäre er ein selbständiges Element wie Wasser, Feuer und Erde und dieser weniger verwandt als etwa dem Wind, vor dem er in dichten Schleiern einherwirbelt. Er liegt wie Mehl, Puder oder Kreide auf der Straße und hüllt jedes Gefährt und jeden Fußgänger ein, als hätte er einen Trieb oder einen Willen. Er hat eine ganz besondere Beziehung zur Sonne, wenn sie brennt, als hätte er einen Auftrag, ihre Aufgabe zu vollenden. Und regnet es, so verwandelt er sich in eine aschgraue, feuchte, klebrige Masse, die in jeder kleinsten Höhlung zu einem grünlichen Tümpel gerinnt.

In dieser Gegend also wird Petroleum gewonnen. Vor ein paar Jahrzehnten war Boryslaw noch ein Dorf, heute leben hier etwa 30 000 Menschen. Eine einzige Straße – ungefähr 6 km lang – verbindet drei Ortschaften, ohne daß man sehen könnte, wo die eine aufhört und wo die andere beginnt. Hart an den Häusern entlang zieht sich ein hölzerner Gehsteig, von kurzen, stämmigen Pfählen getragen. Ein Trottoir zu errichten ist unmöglich, weil Rohre unter der Straße das Öl zum Bahnhof leiten. Der Unterschied zwischen dem Niveau des Gehsteigs und der Fahrbahn, aber auch der kleinen Häuser ist ein erheblicher, und der Fußgänger erreicht oder überragt die Dächer der Häuser und sieht aus schräger Höhe in die Fenster. Alle Häuschen sind aus Holz. Nur einige Male unterbricht ein größeres Haus aus Ziegeln, weißgetüncht und von steinernem Aspekt, die triste Reihe der schiefen, faulenden und zerbröckelnden Behausungen. Alle sind sie über Nacht entstanden: zu einer Zeit, als sich der Strom der Naphthasucher hierher zu ergießen begann. Es ist, als hätten diese Bretter nicht menschliche Hände hastig aneinandergefügt, sondern als hätte der Atem der menschlichen Gier zufällige Materialien zufällig zusammengeweht, und kein einziges dieser flüchtigen Heime scheint dazu bestimmt, schlafende Menschen zu beherbergen, sondern die Schlaflosigkeit aufgeregter zu erhalten und zu verstärken. Der ranzige Geruch des Öls, ein stinkendes Wunder, hat sie herbeigezogen. Die selbst geologisch unberechenbare Sinnlosigkeit unterirdischer Gesetze erhöhte die Spannung des Gräbers zur Wollust, und die unaufhörlich akute Möglichkeit, durch kaum 300 Meter von Goldmilliarden getrennt zu sein, mußte einen Rausch erzeugen, stärker als der Rausch des Besitzes. Und obwohl alle der Unberechenbarkeit einer Lotterie und eines Roulettespiels ausgeliefert waren, so ergab sich doch keiner dem Fatalismus des Wartens, das die Enttäuschung schon sachte vorbereitet. Hier, bei den Quellen des Petroleums, gab sich vielmehr jeder dem Wahn hin, daß er durch Arbeit ein Schicksal zwinge, und sein Jagdeifer vergrößerte das traurige Resultat zum Unheil, das er nicht mehr ertrug.

Aus dem unerträglichen Wechsel von Hoffnung und Mutlosigkeit befreite den kleinen Grubenbesitzer erst die mächtige Hand des großen und der »Gesellschaften«. Sie konnten viele Terrains auf einmal kaufen und mit der relativen Gelassenheit, die eine männliche Tugend des Reichtums ist, die Launen des unterirdischen Elements belauern. Zwischen diese Mächtigen, denen die Geduld gar nichts kostete und die schnell Millionen säen konnten, um langsam Milliarden zu ernten, schoben sich die mittelgroßen Terrain- und andere Spekulanten, mit dem mittelmäßigen Kredit und der mittelmäßigen Risikotapferkeit, und verringerten noch die Chancen des kleinen Abenteurers. Diese gaben allmählich ihre Träume auf. Sie behielten ihre Hütten. Manche schrieben ihre Namen über ihre Türen und begannen zu handeln, mit Seife, mit Schnürsenkeln, mit Zwiebeln, mit Leder. Sie kehrten aus den stürmischen und tragischen Regionen der Glücksjäger in die traurige Bescheidenheit kleiner Krämer heim. Die Hütten, die für ein paar Monate gebaut worden waren, blieben indessen lange Jahre stehen und stabilisierten ihre provisorische Hinfälligkeit zu einem charakteristischen Lokalkolorit. Sie erinnern an gestellte Bilder in Filmateliers und an primitive Buchdeckelillustrationen in kalifornischen Erzählungen und an Halluzinationen. Es scheint mir, der ich mehrere große Industriegebiete kenne, daß nirgends die nüchternen Geschäfte so phantastische Physiognomien tragen. Hier schweifte der Kapitalismus in Expressionismus aus.

Und es scheint, daß dieser Ort seinen phantastischen Aspekt behalten wird. Die Stadt wandert nämlich – und keineswegs etwa nur in einem metaphorischen Sinn. Während die alten Quellen zeitweise stagnieren, eröffnen sich neue, und die staubige Straße wandert dem Petroleum nach. Sie schiebt ihre Häuschen vor, schlängelt sich zu einer Biegung und dehnt sich beflissen den Launen des Petroleums entgegen. Stehen in Boryslaw selbst und in Tustanowice die meisten Gruben still, so hämmern Tag und Nacht in Mraznica schon die Bohrer. Ich kann mich von der Vorstellung kaum befreien, daß diese Straße unendlich sein wird, ein langes, weißes, staubiges Band über Höhen und Tiefen, verschlungen und gerade, provisorisch und dennoch während, hinfällig wie das menschliche Glück und dauerhaft wie die menschliche Begierde.

Ich will Ihnen gestehen, daß der Anblick dieser großen Stadt, die hauptsächlich aus einer Straße besteht, mich die realen Gesetze ihrer Gesellschaftsordnung vergessen ließ. Für einige Stunden schienen mir die Spekulation und die Leidenschaft des Geldverdienens elementar und beinahe geheimnisvoll. Die grotesken Gesichter, die hier die Gewinnsucht schnitt, die fortwährend gespannte Atmosphäre, in der sich die unheimlichen Übernacht-Katastrophen jeden Tag ereignen konnten, weckten mein Interesse mehr für die literarisch behandlungsfähigen Schicksale als für die alltäglichen. Die Tatsache, daß es auch hier Arbeiter und Angestellte, Lohntaxen und Arbeitslose geben mußte, verschwand oft hinter der romanhaften Qualität der Individuen. Die Phantasie war lebhafter als das Gewissen.

Immerhin geht es den Erdölarbeitern unvergleichlich besser als etwa Grubenarbeitern. Es sind Qualitätsarbeiter, auch hier. Der durchschnittliche Tageslohn eines Gehilfen beträgt 9 Zloty, also 4.50 Mark, die Arbeit dauert 8 Stunden. Ein Werkmeister erhält 12 Zloty. Die Arbeitsbedingungen sind verhältnismäßig günstig. Man arbeitet in einem wenn auch nicht luftigen, so doch luftnahen Raum und der Geruch des Erdöls ist keineswegs unangenehm und soll sogar für die Lungen heilsam sein. Dem Laien erscheinen alle Instrumente, mit denen man bohrt, fast enttäuschend primitiv. Motoren treiben die Bohrer an. Ein Mann geht fortwährend langsam im Kreis um eine Art Bassin, eine horizontale Eisenstange in der Hand. So simpel seine Bewegung und seine Tätigkeit auch aussieht, so schwierig mag sie in Wirklichkeit sein. Die Fachleute berichten, daß die Kunst des Arbeiters darin besteht, den Grad und die Art der Bohrungsschwierigkeit, beziehungsweise die kleinen und großen Widerstände des Gesteins in der Hand zu fühlen. Die Hand des Arbeiters muß also eine stark entwickelte Tastempfindlichkeit haben und teilweise die Funktion des Auges ersetzen, das bei der Erdölgewinnung ja überhaupt ausgeschaltet ist. Wird zufällig durch einen hineingefallenen Gegenstand, eine große Schraube etwa, das Bohrloch verstopft, so wendet man sinnreiche und listige Mittel an, das Hindernis wieder hervorzuholen, Instrumente von schlauer Griff- und Fangfähigkeit, die im Finstern tasten. Ihre Bemühungen erinnern etwa an die Versuche, einen Pfropfen, der in ein dunkles und enghalsiges Gefäß hineingefallen ist, wieder ans Licht zu bringen. Dabei gehen Stunden, Monate und Geld verloren.

Geld, Geld, sehr viel Geld! Bedenken Sie, daß eine Bohrung bis zu 1500 Meter etwa 90 000 Dollar kostet, und ziehen Sie daraus den Schluß, daß weder Sie noch ich jemals Grubenbesitzer werden können. Es ist ein Lotteriespiel für Leute, die es eigentlich nicht mehr nötig haben, für Banken und Konsortien und amerikanische Milliardäre. Die Menschen, denen hier einmal das Glück aus der Erde entgegenspringt, haben eigentlich schon das Organ verloren, das uns befähigt, durch materiellen Gewinn glücklich zu werden. Es ist ein gewisser Gegensatz zwischen der märchenhaften Art der Erde, Schätze zu spenden, und dem Aktienbesitz der Naphthagräber und der stoischen Ruhe, mit der sie das Wunder erwarten dürfen. Diese armen Schatzgräber sitzen sehr weit entfernt vom Schauplatz der Naturwunder, in den großen Städten des Westens, und der Umstand, daß sie fern, mächtig, unsichtbar und fast unpersönlich sind, verleiht ihnen den Glanz von Göttern, die mittels geheimnisvoller Ausstrahlung Ingenieure und Arbeiter dirigieren. Der allergrößte Teil der polnischen Gruben liegt im Besitz ausländischer Finanzgewalten. Aus einer Art mystisch gefüllter Kassen werden die Arbeitskräfte bezahlt. Irgendwo weit, auf den großen Börsen der Internationalität, werden Aktien gehandelt, und Transaktionen vollziehen sich nach unerforschten Gesetzen. Das Werden und Vergehen der Himmelskörper im Weltraum ist den Astronomen besser bekannt als den Grubenverwaltern und den Direktoren der Wechsel der Grubenbesitzer. Die kleinen Beamten dürfen nur dasitzen und zittern, wenn ihr Ohr der Widerhall größerer Gewitter auf den Weltmärkten trifft. So wurden zum Beispiel in diesen Tagen drei große Unternehmungen, »Fanto«, »Nafta« und »Dombrowa«, an ein französisches Konsortium verkauft. In Paris war es nur eine kleine Konferenz, drei oder vier Herren zogen ihre Füllfeder und wischten ihre Namen unter Verträge. In Boryslaw und im Land aber werden 500 Beamte brotlos, und der Hunger sieht durch ihre Fensterscheiben und klinkt schon ihre Türen auf, weil in Paris ein Gott ein kleines Sätzchen gesagt hat: Es werde zentralisiert! Und weil es ein französischer Gott war – und nicht zufällig ein englischer –, durchwirken außenpolitische Motive die bedauernden und über dieses Ausmaß der Arbeitslosigkeit erschrockenen polnischen Zeitungsartikel. Skeptiker wollen wissen, daß die neuen Besitzer nur ein Börsenmanöver planen und lediglich den Verkauf der Aktien zu hohen Preisen und eigentlich nicht die Ausbeutung der Gruben. Und sicher ist, selbst für Optimisten, daß Götter nicht zuverlässig sind und von jeder sozialen Gesinnung mindestens so weit entfernt wie von ihren Beamten und Arbeitern.

Ich verließ diese Gegend an einem goldenen, friedlichen Abend, dem nicht anzusehen war, was für ein Gebiet er überwölbte. Die Arbeiter gingen mit der gleichmäßigen Sicherheit heim, mit der nur Bauern von der Feldarbeit kommen, und es war, als trügen auch sie Sensen auf den Schultern, wie ihre Großväter sie noch getragen hatten. Ein paar arme Leute standen am trüben Wasser und schöpften verirrtes Öl mit Kannen. Sie waren die kleinen Kollegen des großen Pariser Dreyfus. Sie haben nicht Aktien, sondern Eimer. Sie verkaufen das gefundene Öl in ganz winzigen Quantitäten und beleuchten damit ihre provisorischen Bretterbuden. Das ist alles, was ihnen die verschwenderische Natur zugedacht hat. Ihre Hütten standen schief, braun und ergeben im goldenen Sonnenglanz. Es schien, daß sie noch mehr zusammenrückten, kleiner wurden und vollkommen verschwinden wollten. Morgen würden sie nicht mehr vorhanden sein.

Ich hoffe, lieber Freund, daß ich Ihnen eine Ahnung von der Atmosphäre des osteuropäischen Kalifornien vermitteln konnte. Ich beschrieb es Ihnen, um Ihnen zu zeigen, daß ich nicht durchaus Idyllisches aus diesem Land zu berichten entschlossen bin.

Inzwischen verbleibe ich Ihr ergebener

J. R.


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