Joseph Roth
Panoptikum
Joseph Roth

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»Madame Annette«

Als Annette 28 Jahre alt wurde und noch immer keinen Mann gefunden hatte, begab sie sich zu einem der Juweliere in der Rue de la Providence, in dessen Schaufenstern die Eheringe aus Gold, Silber und Dublee, zu Dutzenden über konische Türmchen aus Samt gestülpt, an winzige, schimmernde Denkmäler erinnern, errichtet zu Ehren der Monogamie. Sie erstand einen silbernen Ehering und steckte ihn an den linken Ringfinger, getreu der Sitte des Landes. Im stillen gedachte sie, den silbernen Ring gegen einen goldenen umzutauschen, sobald sich ein Mann gemeldet haben würde. Vorläufig genügte der silberne, gewissermaßen als eine Mahnung an den lieben Gott, als ein moralischer Zwang, den sie dem Schicksal auferlegte, damit es sich endlich bemüßigt sehe, ihr einen Gatten zu bescheren. Im übrigen hatte der Ring auch einen unmittelbaren Zweck: er konnte das Mädchen vor Zudringlichkeiten unerwünschter Männer, die gewöhnlich auch feige sind, bewahren, indem er in ihnen die Vorstellung von einem irgendwo vorhandenen eifersüchtigen und kräftig gebauten Mann Annettens hervorrief. Er erzeugte ferner auch einen gewissen Respekt für seine Trägerin bei ihren Kolleginnen, den anderen Mädchen. In der Tat begann, kurze Zeit nachdem Annette den Ring gekauft hatte, das ganze Personal, das früher »Mademoiselle Annette« gesagt hatte, »Madame Annette« zu sagen. Bei dieser Gelegenheit ist es vielleicht günstig zu bemerken, daß der Titel einer Frau auch heute noch manchem ledigen Mädchen aus besserer Familie imponiert, das niemals die traurige Aussicht hat, fremden Menschen dienen zu müssen; wie erst einem Mädchen, das beruflich immer ein Fräulein bleiben soll, selbst wenn sie eine Großmutter wird! – Den Kolleginnen von Annette, die so wenig Gelegenheit hatten, sich »Madame« nennen zu hören, bedeutete dieser Titel einen gesellschaftlichen Rang. Sie schenkten ihn Annette, obwohl sie ahnen mochten, daß der silberne Ehering nur ein Vorwand war. Sie fühlten sich selbst gehoben, wenn sie »Madame Annette« sagen konnten.

Seit ihrem sechzehnten Lebensjahre war sie Dienstmädchen. Ihr Vater, ein Fischer aus der Normandie, schickte sie zu der Wirtin eines kleinen Hotels in Le Havre, zu der er alte Beziehungen aus seiner Matrosenzeit hatte. Es scheint, daß in Le Havre die Mädchen nicht lange geduldet werden. Knapp vier Wochen nach ihrer Ankunft erlag Annette dem verspäteten Liebesröhren eines fünfzigjährigen Reeders, der sie zu heiraten versprach, aber durch seine vor zwanzig Jahren geschlossene Ehe daran verhindert war. Annette bekam ein Kind und kurze Zeit darauf eine gute Stelle bei feudalen Leuten in der Nähe von Paris, die auch aus der Normandie stammten und ihr Dienstpersonal aus ihrer Heimat zu holen pflegten. Das Kind blieb in Kost bei der Wirtin in Le Havre und starb aus diesem Grunde sechs Monate später. Annette schickte Geld fürs Begräbnis und erstand, da sie kein Bild von ihm besaß, aber ein Andenken daran behalten zu müssen glaubte, in einem Papierladen eine Ansichtskarte, die Photographie von einem gelungenen Säugling, die sie in einen schwarzen Rahmen spannte und in ihrem Koffer verbarg.

Durch ihre Erfahrungen in Le Havre gewitzigt und von dem ländlich-normannischen Vorurteil befangen, daß jede Liebesbeziehung zu einem Kind führen müsse, widerstand Annette den Werbungen des Herrn von L., ihres Dienstgebers – obwohl es ihr leid tat. Ja, um vor sich selbst ein für allemal sicher zu sein, erzählte sie der Frau von L. von den Versuchen des Mannes. Selbstverständlich wurde Annette sofort gekündigt und, damit sie ja nicht mehr Verwirrung in einem herrschaftlichen Hause stifte, an ein großes Pariser Hotel empfohlen, zu dessen Aktionären Herr von L. gehörte.

Also begann ihre bescheidene Karriere.

Sie hielt es (nicht mit Unrecht) für angenehmer, im Laufe eines Vormittags zwanzig Zimmer unbekannter und immer wechselnder Bewohner zu säubern, als nur acht oder zehn Räume für alle Ewigkeiten eingesessener Menschen, von denen sie Lohn und Brot entgegenzunehmen hatte. Ihr waren Trinkgelder, von Abreisenden als eine Art Steuer hinterlassen, lieber als Weihnachtsgeschenke, von der Frau des Hauses im Dezember feierlich überreicht und noch im April, zu Ostern, vorgehalten. Sie gewöhnte sich an ihren Beruf, weil er nicht die Eintönigkeit einer Dienstbotenexistenz hatte, nichts von dem faulen Glanz einer patriarchalischen Hausordnung, sondern etwas von der kalten, klaren Sachlichkeit eines Geschäfts, eines Amtes fast und weil er obendrein noch eine Ahnung von der Vielfalt und Buntheit der Welt, ihres Reichtums, ihrer Bewohner vermittelte. Sie gelangte, weil sie hellhörig und neugierig war, mit der Zeit zu einer Kenntnis verschiedener Sitten der wohlsituierten Kreise, verschiedener Intimitäten des Luxus, des Liebeslebens in der Kultur und einer Noblesse, die ihre wirtschaftlichen Grundlagen hat. Diese Erfahrungen erhöhten ihre Ansprüche an die Männer, mit denen sie durch Zufall zusammenkam. Und obwohl ihr der und jener gefiel, konnte sie sich dennoch nicht entschließen, den und jenen zu heiraten. Der einzige Mann, mit dem sie auf einem Ball zusammengekommen war und der die ritterlichen Formen zu beherrschen schien, die nach der Meinung der Zimmermädchen den Herren der gehobenen Schichten eigen sind, war ein Zuave, ein Feldwebel aus den Kolonien. Offen gestanden, hatte sie ein wenig Angst vor Farbigen. Wenn einer gelb oder schwarz war, so mußte es sich doch eines Tages auf irgendeine Weise äußern: in einem plötzlichen Wahnsinn, in einer unerwarteten Gewalttat oder auch nur in einer merkwürdigen Krankheit. Trotzdem wollte sie es wagen. Da brach der Krieg aus – und der Zuave starb, wie es sich gehörte, für Elsaß-Lothringen ...

Ihre Trauer war größer, als ihre Liebe jemals gewesen war. Denn sie verlieh dem Toten noch mehr Vorzüge, als der Lebendige besessen hatte. Sie hinterblieb in der Überzeugung, das Ideal der Männlichkeit verloren zu haben. Mit dem Bild verglichen, das sie sich von dem Toten gemacht hatte, waren alle vornehmen Gäste des Hotels mißlungene Exemplare des männlichen Geschlechts. Selbst Boxer und Aviatiker blieben weit hinter dem toten Zuaven zurück. Da sie kein Bild von ihm besaß und Ansichtskarten von Ideal-Zuaven nicht hergestellt werden, dichtete sie ihm die Züge aller photographierten Heroen in den illustrierten Zeitungen an. In ihrem pietätvollen Gehirn, das im Laufe weniger Jahre die Arbeit verrichtete, die sonst einigen Generationen zu einer Legendenbildung nötig ist, wurde der Tote ein farbiger Halbgott. Die Erinnerung an ihn bewahrte sie, nebenbei gesagt, vor den Verführungsversuchen weißer, etwas angetrunkener und sorgloser Hotelgäste.

Wenn man einen großen Schmerz hat, ist es gut, seinen Aufenthaltsort zu wechseln. Sie kam hierher in dieses Hotel, von dem ich eben berichte, verhältnismäßig leicht, denn es gehört derselben Aktiengesellschaft, die das Pariser Hotel Annettes besitzt. Hier kaufte sie den Ehering, hier bekam sie den Titel Madame und damit im Zusammenhang einen leichteren Dienst. Sie ist jetzt gewissermaßen die rechte Hand der Wirtschafterin, hat nur fünf, sechs Zimmer zu besorgen und die Mädchen zweier Stockwerke zu beaufsichtigen. Sie trägt nicht mehr ein blaues Kleid, sondern ein schwarzes und ist auch nicht zu dem traditionellen weißen Häubchen verpflichtet. Doch legt sie es gerne an – aus Koketterie, obwohl sie behauptet, es geschehe aus Bescheidenheit. Immerhin ist sie außergewöhnlich hübsch. Ja, es scheint mir manchmal, daß sie selbst nicht weiß, wie schön sie sein kann. Denn gerade zum Bewußtsein der eigenen Schönheit gehören Muße und eine gewisse materielle Unabhängigkeit. Es scheint mir manchmal, daß ihr ein Mann sagen müßte:

»Hören Sie, Madame Annette! (oder auch nur: »Annette!«) Ihre schwarzen Haare, Ihre hellgrauen Augen und Ihr braungelber Teint sind eine seltene Komposition der Natur! Obwohl Sie nur am Mittwoch, an Ihrem freien Tag, seidene Strümpfe tragen, sieht man auch sonst den reizvollen Schwung Ihrer Beine, einen sanften, leise abschwellenden Übergang vom Muskel der Wade zu den Sehnen des Fußgelenks. Glauben Sie ja nicht, daß man Ihren schmalen Hüften, Ihrer kleinen Brust und Ihren kräftigen, verarbeiteten, aber schönen Händen ansehen muß, daß Sie nicht zu der Gesellschaft gehören, die Sie für die gute halten. Sie können ohne Zweifel wie eine Dame aussehen, selbst wenn Sie einen Befehl entgegennehmen, die hellen Augen auf den Gast gerichtet und doch noch in die leere Luft hinter seinem Rücken, Ihren schmalen, merkwürdig roten Mund (für den Sie Ihres Teints wegen einen etwas helleren Stift brauchen müßten) fest geschlossen, wie zur Abwehr jeglicher Unart, und das weiche Kinn ein wenig gehoben, als wäre es der Sitz der Aufmerksamkeit, aber auch des Hochmuts. Es ist kein Zweifel, daß Sie schön sind, Annette!«

Das dürfte man ihr leider nicht gesagt haben. Die Spiegel, vor denen sie gerne stehenbleibt, sind gefällig, aber stumm. Und die Zeit ist flink und kurz. Annette hat zwar eine oberflächliche Übung im Aufräumen. Der Waschtisch dauert fünf Minuten, das Bett drei, der Tisch zwei. Herren lassen gerne Anzüge über Stühlen hängen. Das ergibt Komplikationen. Ferner Papiere, Bücher, Briefe auf dem Schreibtisch. Die Hausordnung verbietet eine Veränderung der von den Gästen auf den Schreibtischen hinterlassenen Unordnung. Gesäubert aber müssen sie werden! Jeder Zettel muß in seiner Lage verharren. Das dauert manchmal zwanzig Minuten. Dann muß man die Mädchen kontrollieren. Sie schwatzen. Signale leuchten, grün und dauerhaft, und die Mädchen rühren sich nicht. Annette ermuntert sie. Sie arbeitet von zwölf Uhr mittags bis neun Uhr abends. Eine Stunde Mittagspause. Unten, neben der Küche, an dem langen Tisch fürs Personal, der an Mittagstische in Waisenhäusern erinnert. Wenn Annette noch fünf Jahre so arbeitet, wird sie bestimmt Wirtschafterin – um weiterzuarbeiten.

Einmal, es war ein Mittwoch, traf ich sie vor dem Eingang zu einem der großen Kinos. Sie betrachtete die Bilder, Szenen aus reichen Milieus. (Denn nichts interessiert die Armen so sehr wie das Leben der Reichen.) Ich erlaubte mir, weil wir uns schon so lange kennen, sie einzuladen. Wir sahen einen jener Filme, die von der großen Internationale der »Branche« seit zwanzig Jahren immer wieder als Zeugnis für ihre »soziale Gesinnung« hergestellt werden. Es war einer jener Filme, in denen immer wieder ein junger Mann aus besseren Sphären ein armes Mädchen aus niederen zu sich und zu einem Souper emporzieht, bei dem es nicht weiß, ob man Eis mit der Gabel nimmt oder einen Apfel mit dem Nußknacker öffnet. Das Publikum weiß es und wiehert der Filmindustrie zu. An jenem Abend wieherte es ebenfalls. Madame Annette meinte: »Immerhin könnte das Mädchen es nach den vielen Filmen schon gelernt haben! Sie wird doch schon ein paarmal im Kino gewesen sein, da ja der Film in New York spielt!«

Hierauf bat ich – aus einer etwas zu hastigen, zu ehrlichen Reaktion gegen die »Branche« – Madame Annette in ein gutes Restaurant zum Abendessen. Hier und dort saß ein Gast aus dem Hotel. Hie und da traf Madame Annette ein werbender Blick, kein erkennender – denn ein richtiger Herr glaubt niemals, daß in dem Lokal, in dem er speist, ein Zimmermädchen sitzen könnte. Nur nebenbei erwähne ich, daß Madame Annette ein hochgeschlossenes, dunkles Kleid trug, das sie blaß machte, ihren Mund noch röter – und eine Schnur falscher Perlen, die einen bläulichsilbernen Widerschein auf die untere Partie ihres braungelben Gesichts warfen. Wichtiger scheint es mir zu betonen, daß sie mit dem Besteck besser umzugehen wußte als die paar Herren vom Film, in deren Gesellschaft ich hie und da Gelegenheit hatte zu Abend zu essen – oder wie sie selbst sagten: zu »soupieren« ...


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