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Die Nacht war warm und still – eine wahre Frühlingsnacht.
Die Sterne blitzten blass über den Himmelsabgründen und von der nebelumsponnenen Erde stieg Vogelsingen in nächtliche Fernen, zuweilen liessen sich auch Froschchöre von den benachbarten Wiesen vernehmen. Das Dorf lag schlaf befangen und still da, fast ohne Lebensodem.
Nur Jaschek wachte. Kaum war die tiefe Nacht lautlos über das Land gesunken, als er aus seinem Schlupfwinkel hervorkroch, in dem er sich seit gestern, nach seiner Flucht aus dem herrschaftlichen Garten verborgen gehalten hatte.
Nichts verriet Leben in der Runde, weder ein Licht, noch eine Stimme.
Bis zum Morgengrauen war es noch geraume Zeit.
– Morgen also, in einigen Stunden schon, soll es in die Welt gehen, in die weite, fremde Welt ... – sann er. Ganz wie im Bann dieses Gedankens, trat er auf die Landstrasse, die am Klosterhügel vorüberführte, und wandte sich dem Dorf zu.
Er wusste nicht, was er wollte, hatte jegliche Gefahr vergessen, alles vergessen, was geschehen, und schritt langsam mitten auf der Landstrasse einher.
Das Dorf schlief so tief und friedlich, dass durch die offen stehenden Fenster das Schnarchen der Menschen zu hören war; hier und da schimmerten auf den Hausbänken, im nächtlichen Dämmer der Obstgärten die weissen Gestalten der im Freien Nächtigenden.
Er betrachtete eingehend jedes einzelne Haus, ein jedes Gehöft mit der seltsamen Starrheit eines Menschen, der sich nicht zu sammeln vermag. Oft blieb er an einer der Steinmauern gelehnt stehen, um dann mit verlangsamtem, schleppendem Schritt seinen Weg weiter zu gehen.
Manchmal knurrte beim Laut seiner Tritte ein Hofhund aus dem Schlaf auf, ein Pferd wieherte im Stall, vereinzelte Schreie des Hausgeflügels liessen sich von den Höfen her vernehmen – und wieder wurde es so still in der Runde, dass sich Jaschek ganz entsetzt nach allen Seiten umblicken musste.
Er konnte gar nichts denken, auch nicht das Allergeringste – sein Herz bebte und eine seltsame Schwäche hatte sich seiner bemächtigt. Hinter dem letzten Hause des Dorfes setzte er sich am Weg nieder, unter ein altes, armloses Kreuz und starrte gedankenlos auf die nebelverhüllten Felder.
Es war ihm so elend zumute, als müsste er jetzt gleich sterben ...
Eine gute Weile, nachdem die Hähne zum erstenmal gekräht hatten, erblassten die Sterne und bald darauf erhellte sich im Osten das tiefe Dunkelblau des Himmels. Von dorther sollte die Sonne kommen, aber sie war noch weit ... sehr weit ...
Jaschek sass da wie in einer Todesstarre, er schlief nicht, war aber auch nicht richtig wach und nicht bei vollem Bewusstsein. Ganz in sich selbst versunken, als müsste er etwas beschauen, sass er da und liess sich immer tiefer in den leeren Abgrund fallen, welcher sich plötzlich in seiner Seele aufgetan hatte.
Die Nacht lichtete sich langsam; schon waren die Nebel durchsichtiger geworden und fingen allmählich an etwas zu sinken, das Dorf trat schwärzer aus dem Dämmer hervor und auf den Feldern am Weg zeichneten sich die Umrisse der Bäume immer klarer ab, dann tauchten die Reihen der schnurgeraden Ackerbeete auf und die Strasse begann ihm immer deutlicher ihr Bild zu zeigen.
Jaschek hatte sich, ohne es selbst zu wissen, erhoben und kehrte langsam durch das Dorf zur Mutter zurück ... Es war schon so viel Morgenhelle in der Luft, dass er genau die leeren Wirtschaftshöfe, die aufgesperrten Scheunentüren und die draussen schlafenden Menschen erkennen konnte. Alles hielt aber noch der Schlaf so stark in seinem Bann, dass Jaschek den Tropfenfall des Taus von Blatt zu Blatt hören konnte.
Die Mutter sass auf der Hausschwelle mit einem Rosenkranz in der Hand und Nastuscha war auf der Bank eingeschlafen.
»Es ist schon Zeit,« flüsterte er kaum hörbar.
»Zeit ... Zeit ... Zeit ...«
Die Alte weckte Nastuscha, sie nahmen ihre Bündel auf den Rücken und schickten sich zum Gehen an. Tekla schluchzte laut und der von der Kette für diese Nacht nicht losgemachte Hofhund begann so kläglich zu winseln, dass Jaschek zurückkehrte, um ihn loszubinden, aber der Hund folgte ihnen nicht nach, er flüchtete auf die Dorfstrasse zurück, wo er ein entsetzliches Heulen anstimmte.
Sie durchquerten den Wirtschaftshof, betraten den Feldrain, der durch die Getreidefelder lief, und schritten alsbald auf den Wald zu.
Keines liess ein Wort fallen, keines sah sich weder nach dem Dorf, noch nach dem ehemaligen Heim um, keines vergoss eine Träne, sie gingen rasch, als wären sie auf einer Flucht begriffen, nur ab und zu streckte sich eine Hand aus, um über die schaukelnden Halme zu streichen ... ab und zu verschleierte sich ein Augenpaar mit feuchtem Tränenflor ... und eine Brust begann in herzzerreissender Qual zu zucken ...
Die Morgenlüfte, die vor Sonnenaufgang wehen, hatten auf den Feldern die Halme ins Wogen gebracht, so dass sie sich bis auf den Feldrain vor ihnen verbeugten, als wollten sie sich den Gehenden tief zu Füssen legen ...
»Bleibt bei uns, ... bleibt, Hofbauern, ... bleibt ...« schienen sie zu flüstern, mit dem Tränenfall des Morgentaus.
Die Feldbäume, die Schlehen und alten Birnen am Wege, den sie gingen, streckten nach ihnen ihre Äste aus und raunten ihnen ein dumpfes: Oh! ... Oh! ... nach.
Die Strahlen des Morgenrots zuckten über die Äcker dahin, blitzten blutigrot aus dem Tau auf, wie aus verzweifelten, tränenumflorten Augen, begannen sich in den Gewässern zu spiegeln, die noch starr und aus wesenlosen Tiefen lugend vor sich hin glasten, und säten Angst und Unruhe über die Welt ...
Die Auswanderer aber schritten schon immer schneller aus, ganz voll von Leid, Qual und Tränen.
Am Waldesrand auf einem Kreuzweg, an dem ein Christusbild am Holz seinen geopferten Leib emporstreckte und den qualenreichen Kopf auf die Brust neigte, brach ihre Selbstbeherrschung zusammen. Sie fielen am Fuss des Kreuzes auf die Knie nieder und liessen ihrem herzzerreissenden Weinen freien Lauf.
»Oh, mein Jesus, mein Jesus, mein Jesus! Deinem Schutz empfehlen wir uns ... wir arme Waisen. Und du Czenstochauer Muttergottes nimm uns in deine heilige Obhut ...« klagten ihre Herzen voll tiefen Leids ...
Sie setzten sich hin, um etwas auszuruhen, denn sie waren ganz ausser Kräften vor Ermüdung und Weinen.
»Ich seh´ dich nicht mehr wieder, du liebes Land, ich seh´ dich nicht wieder, du meine ganze Welt, niemals seh´ ich dich wieder ...« murmelte die alte Winciorek und ihre letzten Blicke umfassten die Felder, das Dorf, diesen ganzen vom Morgenrot erhellten Umkreis; sie nahm ihn in sich auf, wie das letzte Sakrament, wie eine allerletzte Ölung auf den weiten, weiten Weg ...
Und dann, schon zum letzten Abschied, denn sie mussten nun gehen, warfen sie sich auf diese heimatlichen Ackerbeete nieder, pressten sich an die Mutter Erde und küssten mit fiebertrockenen Lippen ihren heiligen Schoss ... Zum letztenmal ...
»Kommt schon, Mutter, komm, Nastuscha! ... Ist schon hellichter Tag, es könnte uns noch einer sehen!« drängte Jaschek, denn die Frauen konnten sich kaum beruhigen noch von der heimatlichen Scholle losreissen.
Alsbald gelangten sie unter dem Schutz des Waldes zu den Kartoffelgruben, in denen Jaschek eine Zeitlang gelebt hatte; dort sollten sie gemäss der Verabredung auf den Schmuggler warten.
Da sie sehr ermüdet waren, verfielen sie bald in einen todähnlichen Schlaf.
Sie erwachten ziemlich spät, denn gerade begann man im Dorf die Vesper einzuläuten.
Die Alte band ihr Bündel auf und sofort gingen sie nun daran, sich zu stärken, denn sie hatten alle drei Hunger.
»Man läutet zur Vesper.«
»Der Schmuggler lässt lange auf sich warten.«
»Ist er denn ein sicherer Mann, mein Sohn?«
»Versteht sich, zur Sicherheit, dass er kommen wird, hat er mir doch zehn Rubel gegeben.«
Sie assen schweigend weiter und schauten dabei zum blauen Himmel auf, von dem ein schmaler Streifen aus der Grube sichtbar war.
Mit einemmal sprang Jaschek vom Boden auf. Verworrene Stimmen liessen sich unweit über ihren Häuptern vernehmen.
Er griff nach seinem Stock, schob sich an die Öffnung der Grube heran und horchte lange ...
»Es sind viele Menschen ... sie kommen hierher ... still ...« flüsterte er zurück, reckte sich auf die Zehenspitzen, um hinauszuspähen, doch sofort liess er sich wieder auf den Grund der Grube fallen ...
»Unsere Bauern mit den Gendarmen ... Treibjagd ... das gilt mir ... Jesus!« stammelte er schnell und erregt ... »Bleibt hier ruhig sitzen ...rührt euch nicht, bis es Nacht wird ... ich ... ich will heraus ... Bis zum Wald sind nur ein paar Schritte ... und wenn Gott weiss was, ich komme durch ... bin ich einmal drin, dann kriegt mich keiner ... niemals ... Wenn es Nacht wird, ... werd' ich auf euch an der Waldschenke von Przylenka warten ... Sie kommen schon ... sie suchen in den Gruben ... oh ... oh ...« murmelte er leise und immer leiser vor sich hin, er duckte sich etwas, denn sein ganzer Körper bebte vor Angst und Aufregung, die vor Entsetzen erstarrten Frauen sassen stumm da ... alle horchten sie auf das dumpfe Stimmengewirr, das immer näher kam ... immer näher ...
Jesus! Jesus. Schon waren die schweren Tritte und das Aufstossen der Stöcke gegen die Steine hörbar.
Jaschek knöpfte seinen langen Bauernrock zu, fasste seinen Knüttel fester und sprang aus der Grube ins helle Licht ...
Einen Augenblick stand er da, denn die Sonne hatte ihn geblendet.
»Haltet ihn, fangt ihn! Haltet fest!« erhob sich ringsum ein jähes Geschrei.
Er war jetzt ganz umzingelt, von allen Seiten schob sich eine Kette Männer mit mächtigen Knütteln in den Fäusten auf ihn zu. Sie waren kaum noch einige fünfzig Schritt von ihm entfernt, stiegen schon den Hügel hinan, an dessen Abhang sich die Kartoffelgruben befanden ...
In den Wald! – kam ihm ein plötzlicher Entschluss, und er warf sich in dieser Richtung mit einem vollen ungestüm gegen eine Menschenmauer, die von aufgereckten Knütteln und ausgestreckten Händen starrte. Die Wand gab nach, zerriss in der Mitte und stürzte mit Jaschek zu Boden. Es entspann sich ein kurzer, verzweifelter Kampf. Ein Haufen Menschenleiber knäulte sich zu einem wilden Wirbel zusammen und rollte den Hügelabhang hinab.
Jaschek liess sich nicht überwältigen, er verteidigte sich mit einer solchen Wut und Raserei, schlug so grimmig mit seinem Knüttel um sich, stiess mit den Füssen, biss und zerrte – dass er sich schliesslich ihren Fäusten entriss und in der Richtung des Dorfes davonjagte, denn den Weg zum Wald hatten ihm andere Bauern abgeschnitten, die den ersten zu Hilfe gerannt waren ... Er floh wie ein Wolf, den eine ganze Hundemeute verfolgt.
In einer langen Kette, zu der sich der Haufen der Verfolger entrollt hatte, jagten ihm die Bauern mit lautem Geschrei nach.
Er floh wie auf Sturmesflügeln ... um zunächst einmal auf die andere Dorfseite zu gelangen ... und dann über die Felder jenseits des Baches in den Wald ...
Alle seine Kräfte spannte er an, floh mit der ganzen Macht der Verzweiflung und Wahnsinnsangst, aber er begann zu fühlen, dass er nicht mehr entkommen würde, dass seine Kräfte nicht ausreichten, denn der Wald war noch fern ... die Verfolger immer näher ... ihm ging aber schon der Atem aus ... Nacht legte sich auf seine Augen ... seine Füsse stolperten ... und verwickelten sich immer häufiger in das üppige Gewirr der Getreidehalme ...
»Haltet ihn! ... fangt ihn! ...« hörte er immer näher hinter sich keuchen.
Er spannte seinen Körper noch einmal zu einer letzten Anstrengung, zu neuem Lauf an ... noch einige hundert Schritt ... noch etwas ... Oh, wenn er bloss die Gärten erreichen ... zwischen den Bäumen sich verstecken könnte ... Jesus! ... Oh, Maria! ... Oh, Heilige! ... Seine Brust barst fast vor äusserster Anspannung, er hatte keine Kräfte mehr, – das Blut schoss ihm in die Augen ... er sah nicht mehr.
Das waren die Gärten – er floh noch eine Weile unter dem Schutz der Bäume weiter und brach an einer Scheunenwand zusammen.
– Ich halt's nicht aus ... schoss ihm ein Gedanke durch den, Kopf, als er die Gesichter der Verfolger zwischen den Baumstämmen auftauchen sah.
Er war so ermattet und zerschlagen, fühlte sich so erschöpft, dass er sich nicht einmal rühren konnte.
»Lass sie kommen! lass sie!« spann sich der Bewusstseinsfaden träge durch sein Hirn, es hatte ihn eine solche furchtbare Entmutigung, ein solcher Jammer gepackt, dass ihm nun alles gleichgültig war ...
Er keuchte nur, wischte sich über das im Kampf zerschundene Gesicht und starrte mit einer Ruhe, die fast Wahnsinn und Bewusstlosigkeit war, auf die rennenden Menschen, die immer näher kamen.
Eine solche tödliche Müdigkeit war über ihn gekommen, eine solche Müdigkeit, dass er weder die Kraft noch den Willen spürte, etwas zu beginnen; er hatte keine Gedanken mehr ...
Leise stöhnte er vor sich hin, wie ein sterbendes Kind, und die Tränen der Erregung flössen über seine Wangen und wuschen ihm sein blutbesudeltes Gesicht rein; sein Herz aber durchdrang ein furchtbarer, namenloser Groll ...
Plötzlich hob er sich etwas hoch, seine Verfolger waren kaum einige dreissig Schritt von ihm entfernt, die Woge der Zurufe hallte durch die Dorfgärten:
»Ich zahl' es euch heim! ich zahl' es euch heim!« murmelte er; mit einemmal schoss es wie neues Leben durch seine Adern, der Gedanke, sich zu rächen, erfasste ihn wie ein Sturmwind, entfachte Blitze in seinen Augen, verlieh ihm neue Kraft.
Er war aufgesprungen, riss ein Bündel Stroh aus der Bedachung heraus, zündete es mit einem Streichholz an, und nachdem die Flamme emporgezüngelt war, hielt er es an das Stroh und warf das brennende Büschel aufs Scheunendach.
Das Dach stand in einem Nu in Flammen!
»Ich werd' es euch heimzahlen! ich werd' es euch heimzahlen!« flüsterte er wild und war so erfüllt von seinem Hass, hatte seine Seele dermassen an der Freude, sich rächen zu können, berauscht, sein Herz in diesem einen einzigen Gefühl so zu Stein verhärtet, dass er langsam und gleichgültig an den Wirtschaftsgebäuden der Gehöfte vorbeischritt, um im nächsten Roggenfeld zu verschwinden, in dem schon die Ähren an den Halmen standen. Hier angelangt, strebte er, am Boden kriechend, dem Walde zu.
Die Verfolgung war ins Stocken geraten.
Nach einigen Minuten wandte er sich um und blickte auf das Dorf zurück.
Die schon in Flammen stehende Scheune brannte lichterloh wie ein einziges Strohbündel und auch die benachbarten Wirtschaftsgebäude und Häuser hatten bereits Feuer gefangen.
»Sie werden an mich denken, diese Äser! Das sollen sie!« frohlockte er in seinem Hassgefühl, und da er nicht mehr auf allen Vieren weiter konnte, fing er an, geduckt zu rennen, immer noch mehr seine Schritte beschleunigend ...
Ein lautes Hilferufen erhob sich über dem Dorf und folgte ihm nach, über die Felder hinter ihm dreinjagend.
»Feuer! Feuer! Feuer!«
Der Wald war schon in nächster Nähe, darum reckte er sich jetzt ganz gerade und rannte, ohne sich weiter den Blicken zu verbergen.
Er sah schon die roten Stämme der Kiefern und das Grün des Blätterwerks dicht vor sich, die Kühle des Waldes, wie geschwängert mit der Feierlichkeit einer Kirche und vom tiefen Rauschen widerhallend, begann ihn schon zu umfangen.
Noch einen Augenblick, und er wird ganz frei sein, frei – und sein Rachedurst ist gesättigt ...
Plötzlich ging ein Beben durch seinen Körper; er blieb stehen.
Die Glocken hatten dumpf und düster Sturm zu läuten begonnen ...
Er wandte, sich um und stiess ganz unwillkürlich einen Schrei aus.
Das halbe Dorf stand in Flammen.
»Ihr sollt an mich denken! Ihr sollt ...« die Worte blieben ihm in der Kehle stecken, ein furchtbares Grauen durchzuckte sein Herz, aus den weit aufgerissenen Augen starrte die Angst, das Entsetzen ... und ein furchtbares Erstaunen.
»Das Dorf brennt! Das ganze Dorf brennt!« winselte er auf, seine Lippen, die diese Worte herausgestossen hatten, waren blau. »Jesus, Maria! Jesus!«
Er fing wieder an zu rennen, doch plötzlich wandte er sich abermals um, das Gesicht dem Brand zugekehrt.
Die Glocken läuteten immerzu und zusammen mit ihren mächtigen, erzenen Stimmen der Verzweiflung trug ihm der Wind ein furchtbares Geschrei und zerrissenes Wehklagen nach, es ergoss sich über die grünen, rauschenden Getreidefelder und stieg in den Raum bis hoch zur hellen Sonne empor ...
Jaschek kehrte auf demselben Weg, auf dem er geflohen war, ins Dorf zurück, er war sich nicht mehr bewusst, was mit ihm geschehen war; in den rasenden Wall aus Flammen und Rauch starrend, der sich über dem Dorf aufgerichtet hatte, ging er starr vor Grauen und Entsetzen immer näher heran ...
Die ganze Mitte des Dorfes beiderseits der Dorfstrasse war schon ein Raub der Flammen geworden.
Und die Flammenmähnen schossen immer höher empor, fegten über das Gemäuer, überschlugen sich, schäumten auf, zu dichtem, schwarzem Rauch geballt, und spien ihre furchtbare rote Flammenflut von Gebäude zu Gebäude, von Hof zu Hof, über die Dorfstrasse, über die Obstgärten hinweg, die ebenfalls schon zu brennen begonnen hatten.
Wieder ertönte das Sturmgeläut der Glocken; Verzweiflungsgeschrei, Wehklagen und Jammern ergossen sich über das ganze Dorf.
Die Leute rannen wie besessen hin und her, keiner versuchte dem Feuer Einhalt zu gebieten, und der Brand breitete sich siegreich aus, umfasste immer weitere Strecken, frass immer wütender, drang vorwärts wie ein böser Geist in einer Wolke von Rauch, wälzte sich über die Behausungen fort und wo er hingelangte, wo sein Feuerschein niederfiel, ergossen sich neue Flammenfluten, entstand neues Unheil und stiegen neue Schreie menschlicher Verzweiflung empor.
Niemand rettete, es gab nichts, womit man es hätte tun sollen, weder Geräte zum Löschen, noch Wasser, niemand hatte auch die Geistesgegenwart dazu, und obendrein war die Hälfte der männlichen Bevölkerung ausserhalb des Dorfes, auf der Hetzjagd hinter Jaschek und die Frauen in der Kirche zur Vesperandacht. Als die Menschen endlich zusammengelaufen kamen, konnte von einer Rettung nicht mehr die Rede sein. Das halbe Dorf war schon die sichere Beute der Flammen.
Die Glocken dröhnten immer klagender, der Pfarrer trat in einer Prozession mit dem Allerheiligsten in den Händen unter einem Traghimmel und von flackernden Kerzen, wimmernden Handschellen und verzweifeltem Volk umgeben aus der Kirche heraus, mitten durch die Dorfstrasse dem Brand entgegenschreitend.
»Heiliger Herr im Himmel ...«
entlud sich das Lied der Not, wie ein Vulkan aus der Brust der vom Unglück Geschlagenen.
»Heiliger, Unsterblicher! Erbarme dich unser! ...« flehten ihre Seelen. Sie gingen in einem eng zusammengedrängten Haufen durch die Feuergasse, unter dem Krachen der zusammenstürzenden Wände, im Regen der Feuerbrände und Funken, im Chaos elementaren Sausens, Pfeifens und Gezisches, das sich über das Dorf daherwälzte, seine zahllosen, zerzausten Flammenköpfe zum Himmel erhob, ins Innere der Dorfhäuser einbrach und mit unersättlicher, wilder Gier alles verschlang und zu Boden riss ...
»Von Pest, Hunger, Feuer und Kriegsgetümmel
Erlös' uns, allmächtiger Herr im Himmel!«
stimmte, der Pfarrer mit feierlicher Stimme den Gesang an und die Tränen rannen ihm dabei über die bleichen Wangen. Die Glocken dröhnten ohne Ende dumpf und mächtig.
Das ganze Dorfvolk sang in wilder Angst aufheulend aus hundert Kehlen den Kehrreim jenes Liedes der Not mit.
»Erlös' uns, allmachtiger Herr im Himmel!«
Die Prozession bog jetzt vom engeren Umkreis der Dorfhäuser ab, sie bewegte sich durch die Dorfgärten.
Der Schulze und der Gemeindeschreiber hatten inzwischen begonnen, ein Rettungswerk zuwege zu bringen.
»Wer hat den Brand angelegt?«
»Der Winciorek hat es getan! Der Winciorek doch! ...«
»Hat man es vielleicht nicht gesehen, wie zuerst die Scheune Feuer fing, hinter der er sich versteckt hielt?«
»Winciorek! Der Winciorek – Brandstifter! Heran mit ihm!« erscholl ein Schreien, das für einige Augenblicke selbst den Gesang der Betenden übertönte.
Ein furchtbarer Rachedurst liess ihre Seelen aufbegehren.
»Sucht ihn, fangt ihn! Schlagt ihn tot, den Räuber!« erklangen die Rufe.
Aber niemand wusste, wo er war.
Im dichten Haufen stürzten sich die wutentbrannten, rasenden Menschen auf das ehemalige Haus der Winciorek jenseits des Baches, dem noch keine Feuersgefahr drohte.
Vor der Haustür sass Tekla; sie erhob sich wie ein Gespenst beim Anblick der herankeuchenden Menschenschar, ergriff eine Latte und begann mit der Stimme einer Wahnsinnigen zu schreien:
»Ich geb' ihn euch nicht heraus! ... nicht heraus! ... nicht heraus! ...«
Hinter ihr aus dem Inneren des Hausflurs tauchte alsbald die hohe Gestalt von Jaschek selber auf.
»Er ist da! Er ist da! Fasst ihn!« brüllte die Menge.
Sie stürzten auf das Haus zu, in einem Augenblick hatten sie die Tekla, die ihnen wie eine tollgewordene Hündin den Eintritt wehrte, überrannt, indessen war Jaschek wie unter einer plötzlichen Eingebung auf den Heuboden gesprungen und hatte die Bodenleiter eingezogen.
»Verbrennen! Verbrennen!« heulten sie auf.
Man verriegelte die Türen, stemmte die Fenster mit Brettern zu, versperrte alle Zugänge mit Zäunen und womit sonst ein jeder konnte, worauf man das Haus an allen vier Ecken anzündete. Sie umzingelten es und warteten ...
Das Strohdach fing rasch Feuer und in ein paar Augenblicken stand schon das ganze Haus in Rauch und Flammen.
Jaschek war erst aus seiner Betäubung erwacht, als die Flammen durch das Dach zu dringen begannen und ganze Feuerströme sich über seinen Kopf ergossen, er sprang nach dem Dachfirst, schlug ein Brett der Giebelverschalung ein und stürzte sich hinunter, fast in die Arme der lauernden Bauern.
Er erhob sich nicht mehr, denn etwa fünfzig Fäuste, Füsse, Stöcke schlugen, stiessen auf ihn ein.
»Ins Feuer mit ihm! Für unseren Schaden! Ins Feuer!« schrien wütende Stimmen.
Eine Anzahl Hände griff nach seinem Kopf und nach seinen Füssen zugleich, sie hoben ihn, schwenkten ihn und schleuderten den willenlosen Körper wie einen Sack aufs Dach.
Das Dach stürzte ein und spie eine Wolke von Feuerfunken zum Himmel empor.
Ein einziger unmenschlicher Aufschrei aus dem Innern des Hauses durchschnitt die Luft.
Ein zweiter antwortete ihm von der Dorfstrasse her ...
Die Mutter hatte ihn ausgestossen, die gerade in dem Augenblick in das brennende Dorf zurückgekehrt war, als man ihren Sohn ins Feuer warf.
Sie starrte mit toten Blicken auf das flammenumlohte Haus und stand unbeweglich mit ausgestreckten Händen und vorgebeugtem Körper da, als wollte sie dem Tod entgegenrennen.
»Gerecht! Gerecht! Das ist gerecht! ...« wiederholte sie langsam und mit immer leiser werdender Stimme. Sie breitete die Arme aus, wurde plötzlich blau im Gesicht und sank vom Schlag getroffen tot zu Boden. –