W. St. Reymont
Polnische Bauernnovellen
W. St. Reymont

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XI

In Przylenka lief alles seine gewohnten Bahnen.

Nach einigen Tagen Frühlingsregen leuchtete die Sonne wieder auf, trank die Wasserlachen von den Feldern und trocknete die Wege; das Wetter wurde beständig und trieb die Leute zur Feldarbeit hinaus. Der eine zog mit seinem Pflug ins Feld, der andere ging den Rest seiner Kartoffeln pflanzen, säte Gemüse oder liess von den niedriger gelegenen Feldern das Wasser ab, tiefe Querfurchen grabend; das ganze Dorf steckte bis zum Halse in schwerer Ackerfron. Dennoch ging die Arbeit nur sehr langsam und unfroh vonstatten; auf den Feldern war kein froher Stimmenlärm, kein Lachen und kein Singen zu hören.

Die Menschen bewegten sich schwerfällig und nachlässig, als hätten ihnen traurige Gedanken die Arbeitslust benommen. Sie liessen häufig die Hände sinken, hielten die Pferde vor den Pflügen an, blieben auf dem Acker stehen, um sich über Ackerbeete, grüne Saatenfelder und Feldraine hinweg miteinander zu besprechen.

»Wisst Ihr schon? gestern sind sechs Mann aus Biezywody nach Brasilien fortgezogen.«

»Das ist wahr! Und die Leute erzählten, dass aus Malowana Wola das halbe Dorf ausziehen will.«

»Das sind nur die Kätner! In Gorka aber haben drei Hofbauern ihr Ackerland verkauft, das Vieh verkauft und alles Hab und Gut dazu und sind mit fortgezogen!«

»Gott bewahre, was soll daraus werden!«

»Was denn soll werden?«

»Der liebe Gott muss wohl das Volk strafen wollen, dass er ihm den Verstand genommen hat.«

»Zugrunde werden sie gehen, das ist alles!« jammerte ein altes Mütterchen.

»Alt seid Ihr und habt noch immer keinen Verstand! Warum sollten sie zugrunde gehen?«

»So weit in die Welt hinausziehen, ins Unbekannte. Die Leute erzählen, dass dort keiner unsere Sprache versteht, ein anderer Glaube herrscht dort und eine solche Hitze, dass man einen Topf mit Kartoffeln nur in den Sand zu stecken braucht, dann kochen sie von selbst gar! ... Und auf dem Meer, sagen sie ...«

»Es gehen doch nicht alle übers Meer!«

»Zu den Deutschen auf Arbeit gehen sie.«

»Gibt es hier vielleicht keine Arbeit, wie! Sie gehen bloss, weil sie Trinker und Rumtreiber sind – auf Zügellosigkeit gehen sie und zu ihrem eigenen Verderben.«

»Wenn Ihr, Anton, so kräftig mit dem Dreschflegel zu gange wäret, wie mit Eurer Zunge, dann würd' ich Euch gleich zum Dreschen mieten und gut bezahlen.«

»Wenn du erst etwas zum Dreschen hättest! Wioh, Braune, wioh!« rief der Alte zurück, liess die Peitsche durch die Luft pfeifen, griff nach dem Pflugsterz, beugte sich vor und pflügte weiter.

»Hale, die haben was zu arbeiten, nur wo wissen sie selber nicht. Vielleicht beim Bauer? Jeder Bauer könnte zweimal so viel tun, wie er Arbeit hat, wenn er nur was zu tun hätte, wozu sollte er einen Tagelöhner brauchen. Vielleicht auf dem Herrenhof? – Auch da arbeiten sie, denn was sollte das arme Volk sonst tun! es arbeitet, und wenn es hoch kommt, gibt man ihm sein Geld, das es beim Kartoffelausnehmen verdient hat, zu Weihnachten oder zum Frühjahr. Vielleicht sollen sie in die Fabriken auf Arbeit und ins eigene Verderben gehen! Unsereiner braucht Land, gibt man ihm Land in Brasilien, dann zieht er dahin.... Es leben doch auch andere Menschen dort, warum sollte nicht unser Volk da auch leben können! Und wenn man schon auf Arbeit gehen muss, dann doch besser zu den Deutschen, als zu unserem Volk! Sie zahlen gut, ehren einen und du bekommst noch obendrein ein Stück Welt zu sehen.«

»Das ist schon wahr!« bestätigten die anderen fast einstimmig.

»Jeder kehrt doch mit Geld aus Preussen nach Hause.«

»Und kommt sich aufgeputzt wie ein feiner Herr selber.«

»Das alles ist nichts, als Gottes Strafe!« knurrte die Alte missmutig.

Solche und ähnliche Unterhaltungen spannen sich täglich auf den Feldern, in den Häusern und auf der Dorfstrasse, überall wo Menschen zusammenkamen; und fast alltäglich tauchte in einem der Dörfer Herschlik auf und beredete heimlich, im Schutz des Walddunkels die Menschen zum Fortziehen auf Arbeit nach Preussen oder selbst zum Wegzug nach Brasilien. Als Ergebnis seiner eifrigen Arbeit zogen jede paar Wochen neue Haufen Auswanderer hinaus. Es gingen junge und alte Frauen und Halbwüchsige mit Bündeln auf dem Buckel und schleppenden Schritts, vom Weinen der Angehörigen und hundertfältigen Abschiedswünschen begleitet. Weder die Predigten der Priester, noch der Einfluss der Herrenhöfe und das Aufpassen der Polizei halfen etwas dagegen, das Volk erhob sich, und von den Versprechungen eines besseren Loses geblendet, von der Neugierde nach neuen Ländern aufgepeitscht, liess es alles liegen und zog von dannen.

Diese Stimmung im Volk dauerte schon einige Wochen, so dass ganz Przylenka im unaufhörlichen Fieber der Auswandererberichte und in einer geheimnisvoll düsteren Geistesverfassung lebte, die die leisen Erzählungen über die Ausgewanderten selbst, über die neuen Länder und voraussichtlichen Schicksale erzeugten.

Alles war dermassen mit diesen Fragen beschäftigt, dass man schon wenig auf den Jaschek Winciorek achtete, welcher nach erfolgter Genesung sich nicht mehr verborgen hielt und verschiedentlich hier und da auftauchte.

Einmal waren es die Holzfäller, die ihm im Wald begegneten, dann wieder die Hirten, die ihn auf den Wiesen, oder die Knechte vom Herrenhof, die ihn im herrschaftlichen Park gesehen zu haben meinten; er zeigte sich auch bald in der Schenke und ging am hellichten Tage mitten durchs Dorf, sah den Leuten trotzig in die Augen, warf diesem oder jenem ein Begrüssungswort zu und schien vor keinem mehr Furcht zu haben. Dieses machte einen mächtigen Eindruck auf die Leute.

»Lass ihn in Gottesnamen herumlaufen, solange er kann! Was hat er denn Böses getan? Hat er vielleicht gestohlen oder Brandstiftung begangen? Dass er mit der Forke dem Verwalter zwischen die Rippen gefahren ist, macht doch nichts aus! Er hätte ihm sein Mädel nicht in die Scheune schleppen brauchen.«

»Er sollte jetzt dem Verwalter für sich und für die arideren heimzahlen! Mich hat er einmal im Wald getroffen, wie ich mein Beil bei mir hatte, gleich hat er mich vors Gericht gebracht. Fünfzehn Rubel habe ich zahlen müssen, und was hab' ich getan? eine kleine Tanne nicht grösser wie mein Arm gefällt! ... Dass du, verfluchtes Aas, den Herrgott in deiner letzten Stunde nicht schaust! ...«

»Ich bin kein Judas, dass ich ihn anzeigen sollte.«

»Das ist eins, aber wenn du glaubst, dass er dir das dann vergeben würde ...«

»Versteht sich nicht, ein ganz verbissenes Aas ist er schon.«

»Zwei Jahre hat er im Kriminal gesessen, wird schon ein Praktikant sein.«

»Wird er. Mit einem solchen muss man wie mit einem rohen Ei umgehen ...«

So redeten die Leute in Przylenka über Jaschek, er aber, als wüsste er, dass es niemand wagen würde, ihn anzuzeigen, liess sich immer häufiger im Dorf blicken, bis er eines Tages mitten auf der Dorfstrasse dem Schultheissen begegnete.

Das Wolfsgesicht des Schultheissen verzerrte sich wie zum Beissen, er sprang auf Jaschek zu.

»Rühr' mich nicht an, du Hund, sonst renk' ich dir die Pfoten aus!« knurrte ihn Jaschek drohend an.

»Ein Dieb! Greift ihn! Jungen, Taue her! fangt ihn!« schrie der Schultheiss wütend, doch niemand eilte ihm zu Hilfe, alle hatten sich hinter ihren Häuserecken versteckt.

»Gebt den Weg frei, Schultheiss, lasst mich in Ruh',« bat der Bursche.

»Aufs Amt mit dir, ins Zuchthaus mit dir, du Dieb!« er fiel über ihn her.

Jaschek riss plötzlich die Geduld, er liess ein-, zweimal seine Faust auf seinen Schädel niedersausen, warf ihn zu Boden, trampelte auf ihm herum und liess ihn liegen.

Die Menschen trugen den Schultheissen in sein Haus, wo er mehrere Tage krank zu Bett liegen musste.

»Hat Euch, Herr Schultheiss, der Gänserich gebissen, oder was fehlt Euch?« machten sich die Bauern über ihn lustig.

»Aasvolk! Kein Verstehen haben sie für eine Amtsperson!«

»Hale, hale! Dass es einer fertiggebracht hat, den Schultheissen wie einen tönernen Topf zusammenzuhauen!«

»Ein Frauenzimmer würde es nicht besser mit ihrem Waschholz getan haben....«

Der Schultheiss entgegnete nichts, raste von Wut und Scham gehetzt ins Gemeindeamt und beriet sich darauf lange mit dem Verwalter.

Die Folge war, dass am folgenden Sonntag bei Trommelwirbel auf dem Kirchplatz folgendes verkündet wurde:

– »Wer den Jaschek Winciorek fängt und ihn nach dem Gemeindeamt bringt, erhält fünfzig Rubel Belohnung.« –

»Ein schönes Stück Geld, ob sie es denn auch wirklich geben werden?« redeten die Leute vor der Kirche.

»Für so einen Totschläger! Sie werden es bis auf die Kopeke auszahlen!« beteuerte der Schultheiss.

Ein paar Tage summte es davon in allen Häusern des Dorfes, niemand dachte jedoch daran Jaschek zu verraten, aber fünfzig Rubel immerhin ... es, war doch ein schönes Stück Geld. Dieser und jener von den Habsüchtigeren berechnete schon im stillen, was er sich für dieses Geld kaufen könnte ... und liess finstere Blicke gierig schweifen ...

Der Schultheiss faulenzte indessen nicht; eine Verbissenheit hatte sich seiner bemächtigt, dass er tagelang trank und während der Nächte wie ein Wolf dem Jaschek auflauerte. Die Bauern aber hetzte er mit solchem Erfolg auf, dass man schon nach einigen Tagen im Dorf zu reden begann:

»Wenn sie so viel Geld für ihn geben, dann muss es schon wahr sein, dass er ein Totschläger ist.«

»Er soll dem Gutsherrn aus Wola vier Pferde gestohlen haben.«

»Wenn es bloss dieses wäre ... In Kozielki haben sie ihm, wie die Leute sagen, Nachtquartier nicht geben wollen, da hat er aus lauter Bosheit eine Scheune angezündet ... und das halbe Dorf ist dabei in Rauch und Flammen aufgegangen ...«

»Das ist auch wahr! Wahrhaftiger Gott! Die Abgebrannten sind doch hier in der Gemeindekanzlei gewesen und haben erzählt, dass da einer Feuer bei ihnen angelegt hat.«

»Jesus! So ein Mörder und Brandstifter ist er!«

Selbstverständlich lag in all dem Gerede kein Körnchen Wahrheit, alles war nur von dem Schultheissen in seiner Bosheit ausgestreut worden. Da aber gerade zu derselben Zeit mehrere Auswanderertrupps, die heimlich über die Grenze wollten, ertappt und nach Hause zurückgebracht wurden, wobei einzelne zum Sitzen kamen, erzählte der Schultheiss laut herum, dass dieses der Jaschek auf dem Kerbholz hätte.

Damit gelang es ihm schliesslich, das Dorf gegen ihn aufzubringen.

Endlich merkte es auch die alte Winciorek, denn die Leute wichen ihr aus, als ob sie verpestet wäre, und wenn sie über die Dorfstrasse ging, hörte sie hinter ihrem Rücken ihre Stimmen:

»Seht, die Diebsmutter!«

– Die Menschen sind wie die Schweine: was du ihnen auch hinwirfst, alles werden sie fressen – sann sie bitter, denn die unverdienten Beschimpfungen hatten sich ihr in die Seele gefressen. Sie vergass es dann wieder, weil die Vorbereitungen für die bevorstehende Reise sie in Anspruch nahmen.

Sie hatte ihr Gewese dem Gutsherrn verkauft, hatte allmählich das ganze Hausgerät veräussert und nun warteten sie nur noch auf das Kommen des Juden Herschlik, der sie nach Preussen durchschmuggeln sollte.

– Wenn es nur bald so weit wäre, sann sie voller Angst und Ungeduld, denn sie wusste doch, was der Schultheiss im Dorf erzählte, wie er drohte, aufwiegelte und zuletzt, wenn auch ihr Herz freudiger schlug bei dem Anblick ihres gesunden und wie ein Jungpferd starken Sohnes, so machte sie sich doch wegen seinem Draufgängertum und seinem unnachgiebigen Trotz mancherlei Sorge.

»Wenn der den Gendarmen begegnet, dann wird er nicht davonlaufen, sondern auf sie losschlagen. Das ist schon so die Art! Sein Vater war grad so einer,« erzählte sie der Tekla mit Stolz und voll Besorgnis.

»Ein feiner Bursche. Die Leute sagen, dass er nur einmal dem Schultheiss etwas gelangt hat, da lag dieser schon gleich im Dreck. Und der Schultheiss ist doch ein baumlanger Kerl. Mein Gott, so 'n Starker!«

»Zu meinem Seelentrost hat ihn mir der Herr Jesus geschenkt!«

»Und wie biegsam er ist, kaum eine Dirn ist so gelenkig,« beteuerte Tekla voll Begeisterung.

»Das ist wahr, biegsam ist er schon, das liebe Kind,... und wie!«

»Und sieht er eine an, dann schmeisst sie gleich die Beine, wie eine Jungstute....«

»Ist auch wahr! Warum sollt' sie auch nicht ... der Junge ist wie gemalt....«

»Und streift er einen mal, dann fühlt sich der Mensch ganz anders, und die Haut schauert einem....«

»Es gibt keinen solchen zum zweitenmal, das ist schon wahr!« rief die Alte stolz.

»Gewiss, gibt es keinen zweiten wie er!...« murmelte die Tekla und verstummte. Sie senkte den Kopf, um ihre brennend heissen Wangen und ihre funkelnden Augen zu verstecken. Sie wusste wahrhaftig nicht, was mit ihr vorging, seitdem sie Jaschek nach dessen Gesundung wieder zu sehen bekommen hatte.

Sie sassen schweigend da, in ihre Gedanken über ihn vertieft, als er plötzlich in die Stube trat.

»Junge, was machst du bloss! am hellichten Tag kommst du hierher!«

»Seid ruhig, Mutter, es wird mir nichts geschehen.«

»Und der Schultheiss lauert doch bloss Tag und Nacht wie ein Habicht.«

»Lass ihn kommen und mich angreifen!«

»Allein kommt er nicht, das ganze Dorf holt er sich hinzu.«

»Das ganze Dorf mag kommen!« rief er trotzig. »Lass sie mich fangen ... lass sie mich angeben ... nicht ein Stein würde von dem ganzen Dorf übrig bleiben!« Er wurde über und über rot vor Erregung.

»Jaschek! Gott bewahre, Jaschek!« beruhigte ihn die Mutter.

»Das ganze Dorf, versteht sich, das sind die reinen tollen Hunde, sie möchten den Menschen am liebsten zu Tode beissen!« murmelte Tekla.

»Redet kein dummes Zeug!« herrschte er sie an und setzte sich an die Essschüssel, die ihm die Mutter hingestellt hatte.

Tekla sagte kein Wort mehr, betrachtete nur lange den jungen Kopf vor ihr, mit dem dichten, üppigen Schopf, der tief auf die Stirn niederhing und immer wieder durch eine kecke Bewegung zur Seite geworfen wurde, das rotwangige Gesicht voll Jugendkraft, die schlanke Nase, wie aus feinstem Flachs gesponnen, die blauen blitzenden Augen, die roten geschwellten Lippen, hinter denen weisse, kleine und wie bei einem Hund spitz zulaufende Zähne aufschimmerten, die schwärzlichen, wie mit Kohlenruss nachgeschwärzten Brauen, die mächtig ausladenden Schultern – sie starrte ihn an, starrte ihn immer wieder an ... und ihre Seele füllte sich mit einer wundersamen Süsse und Qual, alles Blut strömte ihr zum Herzen und alle Tränen schossen ihr in die Augen, bis sie es zuletzt nicht mehr aushalten konnte, jäh aufsprang und zur Stube hinausrannte.

»Hat sie eine Bremse gestochen?« meinte Jaschek, weiteressend und ab und zu einen Blick nach den Fenstern werfend.

»Es treibt sie so umher, nach dem toten Kinde. Wann fahren wir denn?« fragte sie mit leiser Stimme.

»Sonntag. Ich werd´ nicht länger auf den Herschlik warten. Ein anderer wird uns über die Grenze bringen.«

»Mein Gott, am Sonntag schon, das sind doch bloss zwei Tage noch!«

»Ist schon so. Übermorgen.«

»Barmherziger Jesus. Schon am Sonntag!« Sie begann zu weinen.

»Habt keine Angst, Mutter, wir wollen doch zusammen fortziehen und die Nastka kommt auch mit. Geld haben wir, was soll es uns da schlecht gehen. Macht Euch keine Sorgen ... Ihr werdet jetzt Hufnerin sein, anstatt auf ein paar Morgen Hofbäuerin zu spielen!«

»Sonntag müssen wir schon gehen?« Sie stellte diese Frage ohne glauben zu können, dass es möglich sei.

»Sonntag abend kommt der Schmuggler und bringt uns weg ...«

Die Alte versuchte so gut es ging ihr Weinen zu unterdrücken, ganze Perlenreihen von Tränen rieselten jedoch unaufhörlich über ihr Gesicht und eine quälende Angst durchzuckte ihr Herz.

Auch Jaschek konnte nicht länger ruhig sitzen bleiben und auf die weinende Mutter schauen, er ass die Schüssel leer, steckte ein Stück Brot zu sich und ging.

Wie ein herrenloser Hund trieb er sich auf den Feldern und im Walde umher, blieb stehen, starrte vor sich hin, liess seine Blicke ringsum schweifen und eilte ruhelos weiter.

»O Jesus! O Jesus!« stöhnte er in furchtbarer Qual.

»Ach was ... einmal muss die Ziege sterben; es komme wie es kommen mag!« sprach er sich dann frischen Mut zu.

Aber seine Seele wurde immer weicher vor lauter Gram, er wollte nicht mehr an die Fortreise denken, legte sich in die Ackerfurchen nieder und blieb so stundenlang liegen. In den Himmel starrend, hing er versunken dem Rauschen der Getreidehalme nach, die sich über ihm wiegten, lauschte dem Jubeln der Lerchen, den hellen Rufen, die ihm vom Dorf her über die Kornfelder zuflogen, dem Summen der Insekten, drückte sich fester in den schwarzen, lockeren, grünübersponnenen Ackerboden, in diese seine geliebte Heimaterde! ...

»Jesus! Jesus!« schrie er im Schmerz auf und weinte wie ein Kind.

Am nächsten Morgen jedoch, ein Sonnabendmorgen war es, schlich er sich wieder leise ins Mutterhaus und sah mit trockenen Augen zu, wie die Mutter der Beisassin Tekla all das Hausgerät übergab, das sie weder mitnehmen noch verkaufen konnte.

Die Alte ging von Ecke zu Ecke mit vor Weinen verquollenen Augen.

»Nehmt auch diese Bänke, Tekla, nehmt alles, was noch im Hause ist,« rief sie aufgeregt und schleppte den Hausrat in die Mitte der Stube auf einen Haufen zusammen.

Tekla nahm das Geschenkte an sich, aber ohne grosse Freudenergüsse, gleichgültig starrte sie auf das viele Hab und Gut, selbst das Geschenk eines Federbetts rief keine Spur von Rührung in ihrem versteinerten, abgehärmten Gesicht hervor. Sie bewegte sich wie eine Schlafwandlerin, lief Wasser holen, das sie scheinbar vergessen hatte, fing an das Geschirr zu scheuern und hielt plötzlich mitten in der Arbeit inne, um gedankenlos vor sich hinzustarren. Sie machte ganz den Eindruck einer, die schon halb den Verstand verloren hatte.

Ein schweres, trübes, wie mit vielen ungeweinten Tränen und tiefem Gram erfülltes Schweigen herrschte in der Stube.

»Ist es denn wirklich schon morgen?« warf die Alte leise hin.

»Morgen, Mutter, morgen ...« antwortete er ihr ebenso leise.

Alles war schon zurechtgelegt, sie mussten bei Tagesgrauen aufbrechen, sich in den Kartoffelgruben am Wald verborgen halten und dort auf den Führer warten, der noch am Vormittag, vielleicht aber erst abends kommen sollte.

Und dann ging es in die weite Welt! in die ferne, fremde, weite Welt!

Inzwischen irrten ihre Blicke immer wieder über die teuren Winkel, über die Heiligenbilder, die noch an der Wand hingen, flogen zum Fenster hinaus, die Wirtschaftsgebäude des Hofes streifend, suchten das Dorf, den Acker, den Turm der Kirche zu umfassen – begegneten sich, um in bittere Trauer des Abschiednehmens zu tauchen, und ihre Augen bedeckten sich rasch mit den Lidern, als wollten sie um jeden Preis die beissenden, bleischweren Tränen zurückhalten ...

»Ich geh' zur Nastka, ich muss sie daran erinnern, dass sie die Zeit nicht verschläft ...« Er griff nach seiner Mütze und flüchtete aus der Stube.

Nachdem er einen Bogen um das Kloster gemacht hatte und über die Mauer geklettert war, glitt er in den herrschaftlichen Park und versteckte sich in einem der Giebelseite des Herrenhauses gegenüberliegenden Tannengebüsch, welches bis an den Erdboden so dicht mit Zweigen umsponnen war, dass ihn kein Menschenauge dort hätte entdecken können.

Lange wartete er, bis er zuletzt die Nastka auf der Gartenterrasse gewahrte.

Er liess einen leisen Pfiff erschallen, dieses war das verabredete Zeichen, so dass das Mädchen bald darauf zu ihm kam.

»Morgen, wenn der Tag graut, Nastusch! verschlafe nur nicht die Zeit,« murmelte er.

»Ich wart' doch schon so, dass ich es gar nicht mehr aushalten kann ...«

»Hast du denn keine Angst, wie?«

»Was sollt´ ich Angst haben! Bin doch mit dir und mit der Mutter zusammen.«

»Gut, Nastusch! Dieser, der uns über die Grenze bringen soll, hat mir gesagt, dass wir gleich im Ausland uns trauen lassen können. Du brauchst gar keine Angst zu haben, dir soll bei mir kein Unrecht geschehen.«

»Das weiss ich doch ... Du bist doch so gut, Jaschek ... dass ... dass ...«

»Hast du der Gutsherrin gesagt, dass es erst Montag so weit ist ...«

»Das hab' ich ... Sie hat mir zehn Rubel und dieses goldene Kreuzchen geschenkt, sieh her!«

Sie wandte sich ab und holte unter der Jacke ein Kreuzchen am samtenen Band hervor.

»Der Herr Jesus soll ihr dafür Gutes schenken.«

»Und dann hat mir noch die Gnädige dieses Büchlein gegeben, hier soll alles aufgeschrieben stehen: wie und durch welche Orte man fahren muss und was zu zahlen ist und an wen man sich in diesem Amerika wenden soll ... alles steht darin geschrieben ... und hier ist noch so was Gemaltes, auf dem jedes Wasser und jeder Berg und alle Wege abgebildet sind ... Die Gnädige hat mir alles gezeigt und mir alles gewiesen.« Sie reichte ihm eine Landkarte und ein kleines Büchlein hin, das er in die Tasche steckte, darauf sagte er:

»Ich will es mir später ansehen.«

»Kennst du dich denn darin aus?«

»Und ob, der Pfarrer hat mir doch oft seinen Krückstock schmecken lassen, als er mich unterrichtete! Und dann haben sie mich doch dort ... auch etwas gelehrt,« er konnte das verhasste Wort: Gefängnis nicht herauswürgen.

Vom Herrenhaus liess sich eine Stimme vernehmen, die Nastuschas Namen rief.

»Ich muss gleich fort, ich bin bloss hinausgerannt, um Stachelbeeren für den Koch zu holen ...«

»Denk' also daran! Sobald der Tag graut, beim zweiten Hähnekrähen. Lass alles zurück, zieh nur dein bestes Zeug an, brauchst nichts zu sparen, ich werd' dir besseres kaufen ... Und dann kommst du zur Mutter.«

»Gleich beim ersten Morgengrauen! Nur die Hemden will ich mitnehmen und den Rock, den mir die Gnädige geschenkt hat, und das grosse Tuch, das ich auch geschenkt bekommen habe, und den Beiderwandrock, wenn es mal kalt werden sollte ...«

»Gut, Nastusch, musst aber ja nicht die Zeit verschlafen!«

»Ich sollte die Zeit verschlafen! ... ich ... du, Liebster!« Sie schlang ihre Arme um seinen Hals, leidenschaftlich pressten sie sich aneinander, liessen sich aber gleich wieder los, denn man hatte das Mädchen abermals gerufen.

Jaschek kroch aus dem Dickicht hervor, schlich sich bis zur alten Buchenallee hin, die den herrschaftlichen Park umschloss, und eilte rasch seiner heimlichen Durchschlupfstelle zu, als er plötzlich an einer Alleebiegung Nase an Nase auf den Verwalter stiess.

»Da bist du ja, Brüderchen!«

Jaschek erbebte vor Entsetzen und blieb wie erstarrt stehen. Sein Durchschlupf war nur zwei Schritte von ihm entfernt, ein Sprung hätte genügt, dann wäre er schon auf der Umfassungsmauer gewesen, aber er konnte keinen Schritt tun, die funkelnden Augen des Verwalters hatten ihn festgebannt und ihm jeden Willen geraubt, erst ein wuchtiger Schlag mit dem Stock über den Schädel ernüchterte ihn – nun wollte er nicht mehr fliehen, sein Blut kochte auf, die Erinnerung an all das ihm geschehene Unrecht wurde in ihm wach und der Wille, sich zu rächen, hatte sich seiner bemächtigt.

Er duckte sich wie ein Wolf und sprang auf den Verwalter zu.

Es entspann sich ein kurzer, furchtbarer Kampf.

Der Verwalter schrie nach den Knechten um Hilfe, verstummte jedoch bald, als ihn Jaschek an der Gurgel packte, sie wälzten sich am Boden wie zwei Hunde, die einander totbeissen wollen.

Röcheln, heiseres Gröhlen, Flüche, niedersausende Faustschläge und Fusstritte – eins mischte sich zum anderen in Blitzgeschwindigkeit und knäulte sich zu einer wüsten Prügelei auf dem kiesbestreuten Alleeweg zusammen.

Jaschek begannen die Kräfte zu verlassen, er fühlte, dass er dem anderen nicht gewachsen war, in tödlicher Verzweiflung gelang es ihm jedoch einen Augenblick obenauf zu kommen. Er stiess mit einer solchen Wucht mit seinem Knie gegen den Bauch des unter ihm Liegenden, dass dieser Blut von sich gab und bewusstlos liegen blieb.

Es kamen bald Leute herbeigerannt, aber Jaschek war schon längst verschwunden, er jagte wie ein Hirsch den Wäldern zu.


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