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Auf der aufgeweichten Landstrasse, die eher einem sumpfigen, morastigen Gewässer glich, das durch die öden, schwarzen Felder floss, ging ein betrunkener Bauer.
Es dunkelte schon; ein kalter, regnerischer, schmutziger Novemberabend hatte sich über die Erde gesenkt.
Die mit Blindheit geschlagene Welt weinte unaufhörliche, alles durchdringende Regentränen, die kahlen von Feuchtigkeit wie aufgequollenen Felder gleisten glasig, die Gräben und Ackerfurchen standen voll Wasser und die entlaubten Bäume beugten sich in ihrer Starrheit über die Landstrasse und zitterten vor Kälte und Nässe.
Tote Stille lag über den aufgeweichten Ackerbeeten.
Der Bauer ging rasch, torkelte stark, stolperte, fluchte, schritt aber trotzdem unentwegt aus; plötzlich blieb er stehen und fing mit seiner heiseren Trinkerstimme an zu singen:
Oj! dyna, dyna, dyna, da!
Menschenbrüder sind wir ja!
Und packt dich mal der Tod,
Dann kommt die letzte Not!
Oj!!!
Aber der Gesang wollte nicht aufsteigen, und die Worte des Liedes blieben wie aufgeweichte Brocken in der Luft hängen, um in die Dunkelheit ohne Widerhall hinwegzusacken; es hatte sie aber eine sich schattenhaft fortbewegende Menschengestalt vernommen, die sich in einer gewissen Entfernung hinter dem Gehenden langsam vorwärts mühte, denn sie blieb auf einen Augenblick horchend stehen und schob sich darauf ängstlich zur Seile, in den noch tieferen Schatten der Bäume am Weg.
Der Bauer beschleunigte seine Schritte, aber er stolperte plötzlich über einen Stein oder eine Baumwurzel und fiel wie ein Holzklotz in den Schmutz der Landstrasse.
Darauf hörte man lange nichts mehr als das eintönige Klatschen des Regens und das bänglich-zitternde, erregte Geraun der Bäume.
Bis jener Menschenschatten sich näher herangeschoben hatte und sich über den Betrunkenen beugte.
»Hofbauer! Hofbauer!« murmelte eine leise Stimme.
Der Bauer kam zur Besinnung und versuchte aufzustehen, aber die schlaffen Hände und Füsse glitschten über den Schmutz ohne einen Halt zu finden und da die Trunkenheit seine Sinne ganz umnebelt hatte, dachte er nach einer Weile gar nicht mehr daran aufzustehen, sondern legte sich so bequem wie möglich zurecht und grunzte schlaftrunken vor sich hin:
»Weich hast du es hier, warm hast du es hier, dann kannst du auch liegen bleiben, Hofbauer, ... liegen bleiben, versteht sich ...«
»Steht doch auf, Ihr werdet noch ersaufen ...«
»Hundsverdammt, wenn ich dir mit dem Stocke eins überlange, dann wirst du erst sehen! ...« schrie er drohend.
»Hofbauer!«
»Weck mich nicht, Frau, – ich sag' es dir im guten!«
» Hofbauer, hört doch, Ihr habt Euch besoffen und liegt hier im Dreck!«
»Besoffen! Hab' ich dir nicht, Jude, gesagt: Schnaps sollst du mir geben und nicht Sprit? hab' ich dir das nicht gesagt? Ich werde dir deine Pejses abdrehen, du Aas ... Still da, Frau ... Wenn der Hofbauer liegt, dann ist das so nötig und Schluss damit, verstanden! und dich geht das nichts an, weil du nur ein Frauenzimmer bist ... halt den Mund, Frau ... Bleib ruhig liegen, Hofbauer, ... hä ... hä ... die Knechte werden für dich arbeiten, das liebe Vieh wird für dich arbeiten ... bleib ruhig liegen, Hofbauer ... ruh dich aus ...«
Aber die Frau liess ihn nicht im Dreck liegen, sie rüttelte ihn so lange, bis er etwas zu sich kam und sich mit ihrer Hilfe aufrichtete.
»Martzicha!« murmelte er, nachdem er ihr ins Gesicht geschaut hatte – »Martzicha! ...« wiederholte er schon wieder vor sich hinlallend, schob die Pelzmütze tiefer in die Stirn und setzte sich mächtig torkelnd, allmählich jedoch immer schneller ausschreitend, als wollte er vor irgend jemand fliehen, in Bewegung. Eine Weile noch war der Klang seiner Schritte zu vernehmen, dann verwehte bald auch der leiseste Widerhall im Regengeplätscher.
Martzicha blieb weit hinter ihm zurück; sie kam nur langsam vorwärts, denn die Holzklumpen rutschten auf dem Strassenkot unter ihr weg und liefen fortwährend voll Wasser, so dass sie sie jede paar Schritte abnehmen und umstülpen musste; sie ging schweren Schritts, denn die durchnässte Kleidung hinderte ihre Bewegungen. Gegen die Brust gepresst trug sie ein in Tücher eingewickeltes Kindchen, das leise wimmerte. So schleppte sie sich immer müder und vor Nässe halb erstarrt durch die nun schon ganz finster gewordene Nacht.
»Jesus, barmherziger Jesus!« entrang es sich ihrer Brust und ein beissender, furchtbarer Gram presste aus ihren Augen einen Strom bitterer Tränen.
Wie viele von denen hatte sie schon vergossen, wie viele!
Sie weinte über die Menschen, über die Welt, über ihr unglückseliges Los. Eine richtige obdachlose Waise war sie doch; so hatte sie sich denn aufgemacht, in die ferne Welt zu wandern, wie eine von jenen braun-grauen Wolken, die schwer am Himmel dahinzogen, wie der nasse Wind, der sich von den Feldern erhob und spurlos vorüberwehte, wie diese furchtbare Novembernacht selbst ...
Kein Erbarmen von irgendwo, keine Hilfe, kein Mitleid ...
Ihr Los war über sie gekommen und hatte sie von dannen gejagt und dem Verderben ausgeliefert, bis sie nun hier ging und als einzigen Schutz nur noch ihre Tränen, den Schmerz und die Klage hatte, wie ein armes neugeborenes Hündchen, das man von der Mutterbrust losreisst und in eine Grube wirft, wo es sich gegen den Tod mit seinem kläglichen Gewinsel verteidigen muss.
» Oh, Jesus! Jesus!« stöhnte sie ab und zu schwer auf.
Die Nacht ringsum begann sie mit Angst zu erfüllen, vergeblich suchte sie nach dem Licht einer Behausung – nichts nirgendwo, überall nur immer unergründlichere Dunkelheiten, die Dörfer wie ausgestorben, dunkel und still, dass selbst die Hunde nicht mehr bellen mögen, kein Wagengerassel zu vernehmen weit und breit, keine Menschenstimme irgendwo – nichts als Grabesstille voll eintönigen Regengeriesels.
Das Kind fing an kläglich zu schreien.
»Still, armer Wurm ... still ...« sie hockte unter einem Baum nieder, steckte dem Kind eine ihrer mageren Brüste in den Mund und versank in ein dumpfes Lauschen auf ein fernes, kaum vernehmbares Rauschen, das wie von herabstürzenden Wassermengen kam.
»Die Mühle! versteht sich – die Mühle!« murmelte sie und horchte wieder hin.
Ein Hoffnungsschimmer hatte sie aufgescheucht, sie erhob sich rasch und ging nun, vor Erwartung und Unsicherheit am ganzen Leibe bebend, rascheren Schritts weiter.
»Pietrusch! Pietrusch!« ihre Lippen hauchten kaum hörbar diesen Namen. – Er wird mich doch nicht fortjagen, nein, wie sollte er denn! überlegt sie, und unter einer plötzlichen Zärtlichkeitsaufwallung presste sie das Kind noch fester an ihre Brust. – »Pietruchna!«
Ganz leise begann sich in ihrer durch die Leiden verwilderten Seele eine tiefe Rührung auszubreiten; Frühlingserinnerungen erwachten in ihrem Bewusstsein, helle Bilder der Vergangenheit stiegen aus den Tränenschleiern des Leids empor und in einem jeden von ihnen war doch allemal er, der Pietruchna, die Hauptperson! ...
Das frosterstarrte und hungrige Kind begann abermals zu weinen.
»Still! Du! ...« knurrte sie und hob die Hand, um nach ihm zu schlagen.
»Wie sollte er das? Es ist doch seins,« dachte sie voll Unruhe und begann darauf leidenschaftlich das nasse Gesichtchen des Kindes zu küssen.
Das Wasserrauschen wurde schon deutlicher und allmählich liess sich auch schon das dumpfe Rollen des Mühlenrades hören.
Der Regen hatte etwas nachgelassen, der Wind begann hoch oben die Wipfel der Pappeln zu bewegen, die wie Gerippe an beiden Seiten des Weges standen, ein paarmal kurz aufrauschten, um dann in ein drohendes Raunen überzugehen, und vom Wald her, der als dunkle, düstere Wand gleich jenseits der Landstrasse aufragte, erscholl ein trauriges, leises Ächzen, als stöhnten die Bäume in der Dunkelheit, als rieselte ein unterdrücktes, seltsames Weinen durch Nacht- und Regengeflüster. Gewaltige Wolken, zu wild zerzausten Knäulen zusammengeballt, begannen rasch über den tief herabhängenden Himmel zu fliehen.
Ein Angstschauer überrieselte die Welt, wie unter dem Dräuen einer bösen, gewaltigen Macht, so dass die Seele Martzichas vor jähem Entsetzen erbebte. Sie warf einen schüchternen Blick ringsum, schob sich das Kopftuch tiefer in die Stirn und lief jetzt, was sie laufen konnte, auf das immer näher hörbare Rädergeroll der Mühle zu.
Der Wind aber wuchs immer mehr an und jagte hinter ihr drein, stiess gegen ihren Rücken, dass sie sich tief zu Boden neigen musste, blies ihr ins Gesicht, spritzte das Wasser aus den Strassenpfützen in ihre Augen, bewarf sie mit dürren Zweigen und pfiff so schneidend um ihre Ohren, dass sie anhalten musste, um etwas Atem zu schöpfen.
Dann lief sie weiter, denn eine furchtbare Angst hatte sich ihrer bemächtigt – die Reihen der Pappelbäume schaukelten so heftig ihr zu Häupten und flüsterten so seltsam geheimnisvoll, dass ihr ganz bange zu Mute wurde; sie fühlte ihre gewaltigen Stämme sich bedrohlich über sie emporrecken, die kahlen Zweige wie auseinandergespreizte Tatzen nach ihr krallen, sie an den Schultern packen, ihr das Tuch vom Kopf zerren, das Gesicht zerkratzen – so dass sie entsetzt und wie besinnungslos weiterfloh.
Sie kam erst wieder zu sich, als sie auf dem Deich stand, über den der Weg zur Mühle führte.
Die Mühle stand etwas tiefer, so dass ihre Dächer in gleicher Höhe mit der Deichkappe und den düster aus der Dunkelheit aufgleissenden Mühlenteichen lagen; ein dichtes Erlengebüsch umgab sie, in dessen schwarzen Schatten das Wasser tosend und gurgelnd auf die Mühlenräder niederschoss.
Das grosse dunkle Gebäude bebte bis in seine Grundmauern und das Geroll der Räder hallte dumpf aus ihm hervor.
Die Frau kletterte behutsam den abschüssigen Weg vom Deich zur Mühle und betrat das Mühlhaus.
Dicht hinter der Tür liess sie sich schwer auf einen Sack Mehl fallen, um sich etwas von der Erschöpfung zu erholen.
Das gewaltige Mühlhaus war ganz von einem weisslichen Wolkenstaub erfüllt, – wie mit grauer Blindheit umflort ... Das an der Balkendecke hängende Lämpchen warf einen matten, roten Lichtkreis um sich, in dem undeutlich Reihen von Gängen und die Umrisse des Mühlenwerks sichtbar wurden.
Alles bebte in diesen Mauern, zitterte, bewegte sich, mahlte und arbeitete, in einen dichten Mehlstaub eingehüllt; selbst der glitschige Fussboden unter ihren Füssen regte sich stossweise, die weissen Wände bebten, die Balkendecke, von der die mehlstaubüberpuderten Spinnwebfäden niederhingen, zuckte, die langen weissen Mehlkisten wurden hin und her gerüttelt – und hinter ihnen bewegten sich immerwährend im grauen Grunde die gewaltigen, schwarzen Räder, über die mit lautem Lärm die dicke grünliche Wasserflut geflossen kam, um sich mit ihren weissen Schaumköpfen mit solcher Gewalt auf die spitzen Pfähle tief unten zu stürzen, dass die Grundmauern ächzten und die Erde aufstöhnte.
Zuletzt hörte man nichts mehr, als das lärmende Malmen der Mühlsteine. Ab und zu liess sich von dem ersten Stock ein durchdringendes, schrilles Klingelläuten vernehmen, auf dessen Klang hin irgend einer aus dem kleinen Stübchen des Müllerknechtes herausgelaufen kam, das sich in einer Ecke des Mühlhauses befand.
Martzicha schlich sich näher an die Stubentür heran, versteckte sich hinter eine Getreidemühle und wartete geduldig.
Sie fürchtete sich hineinzugehen, obgleich sie die Stimme von Pietrusch, der sich mit einigen anderen unterhielt, deutlich hören konnte.
Der Mut hatte sie verlassen, sie presste sich an die dünne Wand und horchte; immer wieder lief einer aus der Stube heraus und hinter ihm quoll eine Flut von Licht, Wärme und Gelächter und suchte sich durch das Mühlhaus zu zwängen.
In dem kleinen niedrigen Müllerstübchen war es heiss wie in einem Backofen; auf einem grossen Herd glimmte Torf und liess ab und zu bläuliche Flammen emporzüngeln.
Eine Anzahl Bauern sass rings um das Feuer.
Der Geruch von derbem Rauchtabak, Torfqualm und geröstetem Fisch erfüllte die Stube.
Pietrusch selber lag auf seinem Bett, das mit einer Anzahl Schafspelze belegt war, und machte sich über einen betrunkenen Bauer lustig, der mitten in der Stube stand und sich schlaftrunken wiegte.
»Geht nach Haus, Matthias, sonst verprügelt Euch die Alte, wie es sich gehört ...«
»Sie soll mich prügeln? Ha ... Ein Hofbauer bin ich! ... bin ich! ... Unters Federbett lässt sie mich, hörst du, Schnaps mit Fettigkeiten gibt sie mir, äh ... oder noch was Besseres. Dass du es weisst! ...«
»In den Schweinestall steckt sie Euch, weil Ihr Euch so besoffen habt!«
»Besoffen, ich! ... Und hab´ ich nicht dem Juden gesagt: gib Schnaps, und das Aas hat mir Sprit gegeben ... ich pack' ihn bei den Haaren, dass Gott erbarm´ ... das tue ich ... So ein Aas! ... Der Hofbauer hat befohlen: Schnaps her ... zu gehorchen hast du, und wenn nicht, dann pack' ich dich bei deinen gelben Pejses und schmeisse dich ins Wasser ... du Judassohn!«
»Michael! die Säcke! ...« rief der Müllergeselle, als sich das Klingelzeichen vernehmen liess.
Ein junger Bursche erhob sich vom Herdfeuer und rannte hinaus, die Tür hinter sich offen lassend.
Martzicha schob sich scheu herein und blieb an der Türschwelle stehen.
»Gelobt sei Jesus Christus ...« murmelte sie mit leiser Stimme.
Der Müllergeselle sprang vom Bett auf und schrie sie wütend an:
»Was willst du hier! Raus mit dir, ... du ... Hündin!«
Das Mädchen wankte, blickte mit seinem geistesabwesenden Blick auf die dasitzenden Bauern, warf das Kindchen aufs Bett des Müllergesellen und rannte davon ...
»Ein Geschenk für Euch, Peter,« bemerkte einer bissig.
»Eine schöne Geige,« warf ein zweiter ein, denn das Kind hatte angefangen zu weinen.
» Zur Lenzzeit mit heisser Glut, zur Winterzeit ohne Mut ...«
»Nimm doch einer das arme Wurm, sonst erstickt es dadrin noch ...«
»Ist schon recht, wollt Ihr ihn auch gleich stillen, oder was?«
Einer nahm das Kind dennoch auf und legte es in der Nähe des Feuers nieder; sie begannen es darauf alle zu betrachten.
»Seine zwei Monate wird das arme Wurm haben, mehr nicht ...«
»Es ist Euch ähnlich, gerade dieselbe Kartoffelnase hat es ...«
»Sieh mal an ... einen Gehilfen werdet Ihr Euch aus ihm heranziehen können, dann wird's schon gehen damit ...«
»Oder Ihr lasst das Ding mal in Dienst gehen, etwas Geld kommt dabei schliesslich doch heraus ...«
»Aus jedem Sack nehmt Ihr Euch eben ein Mass Mehl mehr heraus und der Junge wird sich schon damit grosspäppeln lassen, selbst ein Kalb könnte es nicht besser haben.«
»Was der aber heulen kann, Ihr könnt ihn Organist werden lassen mit solch einer Stimme, Peter, das ist wie bares Geld und eine feine Ehre obendrein, bedenkt mal, und dann das Geld bei all den Hochzeiten und Begräbnissen.«
»Ihr habt, mein Lieber, nun einmal Honig geschlürft, da versucht auch, wie die Waben schmecken ...«
»Und die Mutter ist auch 'ne Feine, ganz, wie es sich gehört ... die Klumpen hat sie fast neu, sind ihre sechs Böhmische wert, einen Rock, dass du ihn auch nicht für anderthalb Groschen kaufen kannst und ein Maul ... das nicht einmal in den Schweinezuber hineingeht... ein pikfeines Frauenzimmer ...«
»Die brauchte man nur zu waschen und zurechtzukämmen, dann könnte sie schon dazu passen, bei den Juden in den Öfen anzuheizen.«
Sie spotteten unbarmherzig über ihn weiter, er aber sass indessen auf seinem Bett und wusste nicht, was er anfangen sollte, die Wut würgte ihn und die Scham dazu, dennoch konnte er sich nicht von der Stelle rühren, denn seine Augen hafteten wie gebannt an dem weissen Gesichtchen des Kindes, das die Bauern ausgewickelt und auf die Herdplatte gelegt hatten, um es zu wärmen, so dass der Dampf schon von den durchnässten Lappen aufzusteigen begann.
Plötzlich sprang er auf und rannte nach dem Mühlhaus.
Alsbald vernahm man von dort wildes Geschrei und rasch aufeinander folgende Schläge.
»Sie reden vom Lieben miteinander,« bemerkte einer der Bauern.
»Welche ist denn das?«
»Dem Antek seine Martzicha aus Wola. Sie haben sie aus dem Dienst gejagt, die Eltern haben sie vor die Tür gesetzt... wo sollte sie sich da hintun? ...«
» Ho! ho! Der Pietrek, der ist der reine Henker für die Mädchen ...«
»Ih... Henker ... versteht sich ... aber ein Schuft und Schinder ist er auch.«
»Seid doch still,« rief einer der Anwesenden.
»Pietrusch! Pietrusch! Schlag mich doch nicht!« flehte Martzicha, sich ihm zu Füssen wälzend. »Es ist doch deins ... sie haben mich aus dem Dienst gejagt ... sie haben mich von zu Haus fortgejagt ... wo soll ich mich hintun, ich Arme ... wo? Pietruchna! Barmherziger Jesus, o Jesus! Leute, zu Hilfe, Leute ... Jesus Maria!« heulte sie mit furchtbarer Stimme auf, denn er hatte ihr einen solchen Fusstritt in die Brust versetzt, dass sie schwer auf den Fussboden aufschlug, als hätte einer einen Sack Mehl hingeworfen.
Mit einemmal liess der Lärm nach, man hörte nur das Öffnen der Eingangstür zum Mühlhaus, ein stummes Ringen und darauf nur noch das Poltern der Mühlenräder.
»Er wird sie noch totschlagen ...«
»Der wird nichts geschehen, den Bengel ist sie losgeworden und damit ist die Sache erledigt!«
»So eine Hundemutter, hat ihr Kind liegen lassen und selbst – auf und davon ...«
Und da der Säugling immer stärker zu weinen anhub, nahm einer der Bauern ein Stückchen Zucker vom Tisch des Müllergesellen, wickelte es in einen Lappen, zermalmte es mit dem Stiefelabsatz, tauchte den Lutscher ins Wasser und steckte ihn dem Kind in den Mund; es fing an, gierig daran zu saugen.
Matthias, der auf dem Bett sitzend inzwischen eingenickt war, erwachte plötzlich und liess sich feierlich vernehmen:
»Das Kind werde ich nehmen. Eine arme Waise ist es, das ist schon so.«
»Nehmt es nur, Ihr habt doch keine eigenen Kinder; dass Euch die Frau aber dafür verprügeln wird, das ist so sicher, wie Gott im Himmel ...«
»Verprügeln? ... Sie wird nicht prügeln. Sie schimpft sich was und zankt sich was ... aber `ne gute Frau ist sie ... Komm, armes Wurm ...« und mit dem plötzlichen eigensinnigen Entschluss eines Betrunkenen erhob er sich, zupfte seinen dreckstrotzenden Schafspelz zurecht, setzte die nasse Schafspelzmütze über und beugte sich zu dem Kind nieder.
»Komm, Kleiner, komm ... keine Mutter hast du, keinen Vater hast du, dann werd' ich dir schon eine hofbäuerliche Vormundschaft angedeihen lassen. Ist es ein Junge, hä?«
»Versteht sich, ein Junge ...«
»Zum Viehhüten wird man ihn brauchen können ... einen neuen Knecht wirst du haben, Hofbauer ...«
»Besorg' ihm aber erst eine Amme, oder stelle die Kuh vom Kalb ab, damit sie ihn grosssäugt.«
Er hörte nicht auf das Gespött, wickelte das Kind in die ausgetrockneten Lappen, umhüllte es mit dem Schoss seines Schafspelzes und wandte sich festen und ziemlich gleichmässigen Schritts zum Gehen, nur den Ausgang musste er zuerst etwas suchen, aber draussen in der frischen Luft fand er sich sofort wieder zurecht und stieg schwerfällig den Deich hinan, denn der Wind, der sich zu einem Sturm verstärkt hatte, peitschte ihm den Regen ins Gesicht und stiess ihn auf den glitschigen Weg zurück.
Er gelangte dennoch, mühselig vorwärtswatend, bis an die Teiche, bog dann nach links ab und wandte sich dem Dorfe zu.
Er stapfte jetzt mitten durchs Wasser, denn der Sturm trieb die Wellen über den Rand der Mühlenteiche, so dass schon der Deich unter Wasser stand, das dem Gehenden in dicken Wellen gegen die Beine klatschte.
»Schrei nicht, armes Wurm, schrei nicht ... hörst du ... Milch kriegst du, eine Wiege flecht' ich dir ... du sollst es bei mir gut haben, kleine Waise ... ja ... gut haben ... und Lohn kriegst du ... und Bekleidung kriegst du auch ... Ein Taschenmesser kauf ich dir auf dem Jahrmarkt ... das Vieh wirst du mir hüten ... oder auch die Gänslein ... Schrei nicht, armes Wurm ...« so knurrte er noch eine Weile vor sich hin und hielt behutsam, so gut dieses nur gehen wollte, mit den vor Kälte erstarrenden Händen die Schösse seines Schafspelzes zusammen ...
Er verstummte jedoch bald, denn ständige Rülpser begannen ihm den Atem zu benehmen und der scharfe kalte Sturmwind stiess ihm die Worte in die Kehle zurück.
Hinter dem Deich führte der Weg über Torfboden und riesige Pfützen; alte, zerzauste Birken neigten sich über den Weg und wimmerten kläglich unter den Hieben des Sturmes. Der Schmutz ging hier fast bis an die Knie. Der Regen hatte fast ganz aufgehört, aber um so schärfer pfiff jetzt der eiskalte Wind über das Moor.
Matthias ging immer langsamer und zog nur mühsam die Füsse aus dem Schmutz; die Schlaftrunkenheit hatte ihn so gepackt, dass er schon fast im Gehen schlief, er war nicht mehr bei klaren Sinnen ... nur die Kälte und der scharfe Wind ernüchterten ihn ab und zu ...
Das Dorf lag schon dicht vor ihm.
Er torkelte nicht mehr so stark, da ihn aber die Müdigkeit immer wieder übermannte, gab er sich keine Rechenschaft mehr über seinen Weg und stapfte stumpf vor sich hin; hin und wieder betastete er halb bewusstlos seinen Schafspelz ... aha ... das Kind ... seine Füsse stolperten, die Kälte drang ihm bis ins Mark, denn der auf der Brust aufklaffende, durchnässte Schafspelz bot nur einen geringen Schutz gegen den eisigen Wind ... er liess den Schosszipfel seines Schafspelzes aus den Händen gleiten, schlug sich mit den Armen warm und fing mit schlaftrunkener, heiserer Stimme an zu singen:
Oj! dyna, dyna, dyna, da!
Menschenbrüder sind wir ja!
Und packt dich mal der Tod,
Dann kommt die letzte Not!
Oj!!!
Aus dem Schmutz der Landstrasse antwortete ihm ein leises, stockendes, erstickendes Kindergreinen – ein Schatten huschte näher ... und lief davon ...
Er aber hörte nichts mehr und stapfte schlaftrunken weiter.