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Jaschek rannte wie ein Besessener, stiess gegen die Baumstämme, blieb an den Büschen hängen, fiel nieder, sprang wieder auf und floh, von der Angst unaufhörlich vorwärtsgepeitscht, denn es war ihm so, als wären die Verfolger dicht hinter ihm drein, als fühlte er sich schon bei der Schulter gepackt, als hörte er die keuchenden Atemzüge der beiden dicht hinter sich ... er verdoppelte seine Anstrengungen und jagte mit Windeseile weiter, bis er tödlich erschöpft in einem Busch zusammenbrach und lange Zeit fast ohne Besinnung liegen blieb ...
Ein furchtbarer jäher Schmerz in der Hüfte brachte ihn wieder zu sich, er richtete sich etwas auf und sah sich mit angstvollen Augen eines gehetzten Wildes in der Dunkelheit um. Kein Mensch war zu sehen, er konnte sich gar nicht mehr zurechtfinden; ringsum schwankte und rauschte der düstere, mit dichtem Buschwerk unterwachsene Wald.
Er kroch an einen Baum heran und sank wimmernd zu Boden – in seiner Hüfte fühlte er furchtbare Schmerzen. Ganz geduckt blieb er sitzen und liess durch die zusammengebissenen Zähne ein klagendes Stöhnen vernehmen. Die Schmerzen quälten ihn, sie gingen strahlenförmig von der Wunde in der Hüfte aus und bohrten sich in jeden Nerv, sandten in jeden Gefühlsmittelpunkt seines Leibes ihre spitz hervorzuckenden, endlos langen und teuflisch brennenden Nadeln ... Er raufte eine Handvoll Moos aus und verstopfte die Wunde, um das Blut zu stillen, das wie ein warmer Strom seine ganze Hüfte überspülte, er fühlte es selbst feucht in seine Stiefel sickern.
Jeden Augenblick wurde ihm so schwach, so seltsam zumute, dass er halb ohnmächtig dasass, ohne zu wissen, was mit ihm geschah, wenn er aber aus diesem tödlichen Halbschlummer wieder zu sich kam, blickten seine wie erlöschenden Augen in die Nacht hinaus und durch einen Tränenflor murmelte er, verzweifelt:
»Jesus! Oh, Jesus, Maria! ... Ob, Jesus! ...«
Dann wieder fühlte er keine Schmerzen mehr, sein Körper wurde langsam steif, die durchdringende Kälte und der unaufhörlich niederrieselnde Regen liessen ihn bis ins Mark erstarren. Der Wald murmelte immerzu sein strenges, grauenerregendes Finsternisgeflüster.
Und die Nacht schleppte sich langsam ... langsam ... furchtbar langsam vorwärts ...
Jaschek, der im Wald aufgewachsen war, kannte ihn gut und hatte sich vor ihm früher niemals gefürchtet, jetzt aber in seiner tödlichen Schwäche, sah er voll Grauen auf die riesenhaften Baumgespenster. Seine Seele füllte sich mit Entsetzen, war voll einer unaussprechlichen Haltlosigkeit und furchtbaren Schweigens.
Ein verzweifeltes Angstgefühl presste ihm das Herz so schmerzvoll zusammen, dass er glaubte, sterben zu müssen, er kauerte unbeweglich da und wagte nicht seine Augenlider zu bewegen, nicht einmal die Richtung seines Blickes zu ändern, nicht einmal das rettende Wort: Jesus! zu flüstern. Denn rings um sich fühlte er Grauen und Geheimnisse sich regen, fühlte, dass diese furchtbare Finsternis ihn durchdrang, seine Seele überflutete, sie vernichtete ... Und der Wald redete immerzu mit sich selbst ... stöhnte ... schrie manchmal kläglich auf ... beugte sich über ihn ... schien ihn anzuschauen ... reckte sich drohend ... neigte sich dann wieder tief ... tiefer ... so tief ... dass Jaschek einen eisigen Atem über seinem Gesicht spürte ... Er fühlte, dass sich die spitzen Äste der Eichen im Dunkeln wie krampfhaft gekrümmte Krallen ausstreckten ... dass sie nach ihm suchten ... dass sie ihn gleich in Stücke reissen würden.
Mit einem erstickten Entsetzensschrei fiel er in Ohnmacht. Das fieberheisse Gehirn spann verworrene, zusammenhanglos vorübergleitende Bilder der kürzlich verlebten Gefängniszeit ... Er schleppte sich durch einen Gefängnisgang ... Ja, das war wieder das Zuchthaus. Er blickte um sich, seine Augen sahen kurzgeschorene Köpfe, die sich über unaufhörlich klappernden Webstühlen beugten.
Jaschek! Jaschek! – Er zuckte zusammen, einer rief ihn leise, aber er konnte nicht erkennen, wer es war, denn alle hatten sie aus Angst vor den an der Tür stehenden Wächtern die Köpfe gebeugt. Nein, er musste sich doch wohl verhört haben.
Seine Blicke starrten durch das breite Gefängnisfenster auf die Baumwipfel ... auf die grenzenlose Weite des Himmels ... auf ferne, ganz ferne Hügelumrisse! ... Wieder zuckte er zusammen ... Das war ja die Mittagsglocke! ... Die Abendglocke, das Glockenzeichen zum Schlafengehen! ... Kettenklirren ... Da, die scharfen Gesichter der Aufseher mit den aufgepflanzten, blitzenden Seitengewehren ... Ein Zittern durchrieselte ihn bei ihrem Anblick ... Das war ein Kommando ... er konnte es nicht verstehen ...
Ach! Und diese Nächte, diese furchtbaren Nächte im riesigen Saal des ehemaligen Remters ... diese Nächte, in denen die Sehnsucht kam und sein Blut, alle seine Kraft und seine Tränen aussog ... Die Winternächte voll Frost und weissen Mondlichts, während deren er, wenn der Schlaf seine Lider floh, leise zu den Heiligengesichtern betete, die noch so deutlich von den Wölbungen der Decke auf ihn niederblickten ... Mit einemmal war die Kette seiner Träume zerrissen ... Er fühlte, dass er jetzt auf der Flucht aus dem Gefängnis war ... vier Tage des Herumirrens in den Wäldern bei Nacht ... die Schenke von Przylenka ... der Bettler ... die Leute, die nach Brasilien zogen ... die Gendarmen ... ein Schuss ...
Er kam wieder zu sich. Den Schmerz fühlte er nicht mehr, nur eine furchtbare Kälte durchdrang ihn bis auf die Knochen, er knäulte sich ganz zusammen, schob sich noch näher an einen Baumstamm heran und wartete auf das Morgengrauen; die Sehnsucht hatte ihren stachlichten Kopf in seine Eingeweide gestossen und biss ihn ohne Erbarmen.
Nach Hause floh er ... nach seinem Heimatdorf ... in die Freiheit ...
Das alles war dort ... dort ... hinter diesem Wald, der wie ein böser Geist ihn irregeführt und von seinem Ziel wie mit einer Mauer getrennt hatte – dort ist die Hütte, sein Elternhaus, die Mutter, der Acker, ruhiges und friedliches Leben – dort die unermessliche Seligkeit, die er erst hinter den Gefängnismauern begriffen hatte.
Dorthin! dorthin! ... schrie die Sehnsucht in ihm so laut, so übermächtig, dass er sich erheben wollte, um zu gehen ... Er liess sich aber gleich wieder fallen, denn er wusste ja nicht, wo er sich befand, er hatte sich in dieser tollen Flucht gänzlich verirrt, musste warten bis es Tag würde.
Nicht einen Augenblick kam ihm in den Sinn, dass sie ihn auch vom Elternhaus, von der Mutter wieder wegholen könnten, um ihn abermals ins Gefängnis zu stossen. Er wusste nur eins, dass in diesem seinem Heimatdorf sein Glück war, und kehrte dorthin zurück, allen Widerständen zum Trotz. Er glaubte, wenn er nur dorthin käme, würden alles Elend und alle Pein für immer ein Ende haben, war er sich doch keiner Schuld bewusst. Im Gefängnis sah er nicht das strafende Recht, sondern die persönliche, mächtige Rache des Gutsverwalters, den er nur ein wenig mit der Heugabel gestochen hatte!
»Warte einmal, ... mit dir werd' ich noch ein Ende machen, du englisches Fieber, ich richt' dich noch zu! ...« sann er gehässig, sich plötzlich seines Peinigers erinnernd.
Und tausendfach spannen sich Rachegedanken durch seinen Kopf und zerrannen immer wieder, denn immer häufiger übermannte ihn eine schlaftrunkene Bewusstlosigkeit, er wehrte sich solange er konnte, aber schliesslich, kurz vor Tagesanbruch verfiel er in festen Schlaf, der einer Todesstarre glich.
Er schlief trotz dem Regen, der ihn bis auf die Haut durchnässte, und trotz der bitteren Kälte der Märznacht; er hatte sich zwischen die hervorstehenden Wurzeln der Eiche gezwängt, seinen Kopf an den gewaltigen Stamm gelehnt und schlief.
Der Wald verstummte ganz, wie meistens vor Tagesanbruch, neigte sich über den Schlafenden und schien über ihn zu wachen, wie ein wachsamer, gütiger Wächter, ihn zugleich vor Regen schützend.
Die Dunkelheit löste sich langsam auf, erblasste ... begann sich aufzuhellen.
Über die Dämmerschatten ergoss sich das Grau des kommenden Tages. Im entschlummernden Wald erwachten mit einemmal die Vögel und das Waldgetier.
Ein Krähenschwarm flog mit leisem Flügelschlag aus dem Gipfelgeäst riesiger Kiefern auf, kreiste eine Weile hoch oben und zog davon auf Futtersuche, den Dörfern zu.
Im Waldesinnern war es noch dunkel; gegen Osten zeigte sich eine bleiche Blässe, das Frühlicht begann an dem noch trüben, gespenstigen Himmelsgrund aufzuschimmern, die Formen der Baumwipfel tauchten hervor wie schattenumsponnene Bergumrisse, unter den Bäumen aber lag noch dichte Nacht.
Der Wind war ganz eingeschlafen, die Bäume standen jetzt als eine stille ineinandergewirrte Masse da; sie liessen ihre kältedurchschauerten, regennassen Zweige hängen, neigten ihre unbeweglichen Äste wie in einer grenzenlosen Erschöpfung und sanken in einen tiefen Schlaf ... die grausige Majestät einer einschläfernden Macht ergoss sich ringsum ...
Manchmal nur zuckte ein Zweig traumhaft, schüttelte die Regennässe von sich, hob sich dem Morgendämmer entgegen und versank wieder in eine stille Regungslosigkeit ...
Manchmal nur schien einer der riesigen Stämme sich vor Kälte zu krümmen, unmerklich zu erheben, seine Äste zu recken und sein schlafbefangenes Haupt der noch fernen Sonne zuzuwenden – um abermals in süsse Ruhe zu versinken.
Nur das kleine hagere und schmächtige Volk der Espen-, Birken-, Hasel- und Buchenbüsche, das sich um die Stämme der Waldriesen scharte, zitterte noch kaum merkbar, wie in Angst, schmiegte sich Busch an Busch und flüsterte ängstlich und leise miteinander.
Einzig die Wacholder standen unbeweglich und trotzig da, mit einem Panzer harter, grüner Nadeln bewehrt, von denen der Regen abfloss, sie litten nicht so schwer. Aber die dichten, langen Triebe wilder Himbeeren hatten sich wirr ineinanderverkrampft, krallten sich mit ihren Dornen an die Bäume fest, rankten über Steine dahin und überspannten grosse Ameisenhaufen, sie sahen aus, als wollten sie verzweifelt nach allen Richtungen fliehen, denn der Regen durchdrang ihre zarten Hüllen, floss an ihren dünnen Leibern in grossen Tropfen herunter und drang bis in ihre Wurzeln und Eingeweide ... Die Fichten erschauerten krampfhaft, die Tannen standen neben ihnen wie gefühllos unter dem Schutz der grossen Fächer ihrer Zweige.
Die grauen Blicke der Morgendämmerung suchten sich immer tiefer ins Dickicht zu versenken und durchbohrten mit ihrem wie blassgeweinten, grünlichen Licht das Waldinnere.
Der Wald zuckte bei dieser Berührung zusammen, aber er schlief noch immerzu.
Gewaltige Säulenreihen begannen aus der Dunkelheit aufzutauchen, wie in einem ehrwürdigen gotischen Dom, zeichneten sich immer schärfer ab und wie durch spinnwebumsponnene Spitzbogenfenster drang durch das Geäst der Baumriesen das Frühlicht immer heller und rosiger hinein; es glitt über die grauen Baumpfeiler, glitzerte in den Regentropfen auf und sank allmählich zu Boden, auf die rostfahlen Moose, auf vorjähriges Laub und zitternde Stauden. Eine kaum merkliche Helle langte nach dem Gesicht Jascheks, der an die Wurzeln einer Eiche geschmiegt schlummerte, und schälte es aus dem Dunkel heraus.
Ein plötzliches Brechen von Zweigen liess sich in der allgemeinen Stille vernehmen, und nach einer Weile tauchten aus dem Dickicht die Gestalten grosser Hirsche hervor; die Tiere näherten sich vorsichtig mit vorgestreckten Köpfen, blieben immer wieder stehen und schnupperten nach allen Himmelsrichtungen. Sie witterten mit einemmal Jaschek, drängten sich zu einem Haufen zusammen, ein kurzer Schreckruf durchschnitt die Luft, sie blieben unbeweglich stehen und berochen den Schlafenden ... Plötzlich sprangen sie zurück, denn Jaschek hatte im Schlaf etwas zu reden begonnen, sie legten ihr Geweih zurück und flohen waldeinwärts.
Langsam fing das Leben an in den Waldestiefen zu erwachen; die Elstern zankten wütend auf den Lärchenbäumen, sie hatten sich an die biegsamen Zweige gehängt, schaukelten an ihnen hin und her und kreischten immerzu, so dass der Wald widerhallte und ein Hase aus dem Buschwerk hervorkroch, Männchen machte, über die Augen mit den Pfoten wischte und davonsauste, so schnell ihn die Läufe tragen konnten. Einmal kam auch ein Fuchs heimlich dahergeschlichen, seine Rute schleifte er hinterdrein, die Schnauze hielt er vorgereckt, nach allen Seiten eifrig schnüffelnd; wie ein drohender Schatten glitt er vorüber, Angst und Furcht um sich verbreitend, und die Vögel flohen mit lautem Geschrei auf die Bäume bei seinem Näherkommen. Dann tanzte ein Eichkätzchen über die Baumwipfel, Aste und Knorren dahin, war überall und nirgendwo und nur sein graurostiges Körperchen blitzte jäh zwischen den Zweigen auf. Und hoch über dem Walde kam ein Zug Dohlen durch die Lüfte gerudert, man hörte ihren Flügelschlag und ihr kurzes abgebrochenes Schreien. Und Rehe kamen in einem ganzen Rudel zum nahen Quell, der zwischen Steinen hervorrieselte; sie glitten lautlos zwischen den Bäumen hindurch und traten so leise auf, dass nicht das geringste Geräusch die Stille des schlafenden Waldes störte, es bewegten sich nur leicht die Zweige der Haselnusssträucher, an denen sie vorbeikamen.
Denn der Wald schlief noch immer. Die Sonne stand schon über dem Himmelsrand, ihre roten, kalten Strahlen glitten über die Baumwipfel, zersprangen an den grauen Stämmen und weckten unausdenkbar feine, kaum wahrnehmbare Töne im Bereich der Waldgewölbe.
Der Tag war schon vollends da und die Sonne schien bereits etwas von oben ins Waldesdickicht hinein, als Jaschek erwachte. Er sprang auf die Beine, taumelte aber sofort wieder zurück und sank zu Boden. Jaschek konnte kaum Atem fangen, so furchtbar war das Stechen in seiner Brust, er vermochte sich nur mit Mühe zu bewegen, so schmerzten ihn alle Glieder, so krank, zerschlagen und kraftlos fühlte er sich. Auf allen Vieren versuchte er weiterzukommen, aber es war ihm nicht möglich, seine Kräfte versagten vollends.
»O Jesus, mein Jesus!« murmelte er ganz verzweifelt.
Tränen überfluteten seine Seele, Tränen strömten aus seinen Augen und rollten gross wie Erbsen über seine grauen, elenden Wangen. Er bebte unter der Ohnmacht seiner hilflosen Verlassenheit.
»Ich werd' hier sterben müssen! sterben werd' ich hier! ...« kam es wie ein Ächzen über seine Lippen und eine solche Angst vor dem Tode erfasste ihn, eine solch furchtbare Sehnsucht nach Menschen, nach seinen Angehörigen, nach dem Leben packte ihn plötzlich, dass er die letzten Kräfte anspannte und sich schliesslich doch in Bewegung setzte. Bald hatte er heraus, wo er sich befand und nach welcher Richtung er gehen musste, und obgleich er gezwungen war, sich immer wieder niedersetzen und an den Baumstämmen festzuhalten, obgleich er vor Entkräftung taumelte und sich seinen schmerzenden Körper zerstiess, erhob er sich stets von neuem und schleppte sich weiter.
»Nur nicht hier sterben; nicht sterben, Jesus Maria!« murmelte er.
Und nach einer Weile, da der stechende Schmerz sich vermindert hatte und die Hüfte ihm fast gar nicht mehr wehe tat, so starr war sie von der Kälte geworden, beschleunigte er seine Schritte; er nahm die Mütze ab und begann laut mit fieberheissen Lippen, das Herz voll Tränen und Leid und voll einer grenzenlosen Inbrunst, zu beten und Gott um Gnade und Erbarmen anzuflehen ...
Noch vor Mittag gelangte er an den äussersten Rand des Waldgebiets, der die Felder beherrschte, welche sich als eine kreisförmige Niederung zwischen den waldbewachsenen Hügeln ausbreiteten.
»Przylenka! Jesus Maria! Przylenka! 0 Jesus!« rief er ein ums andere Mal, von seiner inbrünstigen Liebe hingerissen. Er hockte unter einem Baum nieder und umspannte es mit heissen Blicken, dieses sein Przylenka.
»Herr Gott! Mein Dorf! Przylenka, wirklich Przylenka!« wiederholte er wohl an die hundert Mal, berauschte sich an diesem Wort, an diesem Anblick, bebte, schrie unverständliche Worte hinaus, breitete seine Arme den in einer langen Reihe mitten im Tal stehenden Bauernhäusern entgegen, verschlang mit den Augen die wohlbekannten Pappelreihen, aus deren Mitte die Firste der Strohdächer aufragten und das vertraute Rauchgeschlängel, das sich über den Behausungen dahinzog, die morastigen Feldwege und das weite Wiesenland, das sich jenseits des Dorfes auftat.
Mit blutumflorten, ermatteten Blicken, die dennoch froh wie der Morgenhimmel waren und in denen sich Sonne und Glück spiegelten, überflog er immer wieder die öden, schwärzlichen und aufgeweichten Felder; Schnee lag in den Ackerfurchen, Wasser leuchtete aus den Feldgräben und Triften, die wie polierte Stahlbänder sich dahinzogen; alte breitgeduckte Birnbäume hockten auf den Feldrainen wie flugmüde Vögel. Und höher hinaus, auf dem Hügel, gleich hinter dem Dorf glitzerten im Sonnenschein die goldenen Kirchenkreuze, stieg traumhaft das altersgeborstene Klostergemäuer auf und daneben tiefer am Bach, der auch neben seiner Hütte vorbeifloss, breitete sich der herrschaftliche Lustgarten aus und die Fenster des Herrenhofes leuchteten wie glatte Schilde, Teiche blitzten auf im Park und die Gewässer des Baches gleissten und funkelten im scharfen, lustigen Licht der Sonne, die am blassen Himmel dicht über dem Dorf schwebte ...
»O Jesus, Maria! O Jesus! Eine Messe lass' ich lesen, nach Czenstochau geh' ich im Pilgerzug. O Maria, geliebteste Muttergottes!«
Er murmelte diese Worte von einem unsagbaren Glück und einer Wehmut erfüllt, für die er keine Worte fand. Alles war vergessen: das Zuchthaus, die Strafe, die Nöte der Flucht, die Wunde, das ganze erlittene Leid, denn er hatte sein Heimatdorf vor sich und in der Seele nur eine unbändige Freude, ein solches Gefühl der Güte, so viele Tränen der Rührung und so viel selige Trunkenheit, dass er immer wieder mit heissen Lippen und glühendem Herzen Gott danken konnte und beten.
Dennoch hatte er Angst, den Weg durch das Dorf bei Tag zu machen, oder es vielleicht von der Seite des Klosters zu umgehen, um zur Mutter zu gelangen. Es musste bis zum Abend gewartet werden, er zog sich also noch einmal in den Wald zurück, auf die Waldwiesen, wo die grossen Heuschober standen, wühlte sich tief in das Heu hinein und harrte dort auf die Stunde der Erfüllung.
Es klärte sich vollends auf nach Sonnenuntergang, ein leichter Abendfrost machte sich bemerkbar, kalte, feine, graue Nebel legten sich auf die Felder und der Westhimmel bedeckte sich wie mit purpurroten Schuppen und Lachen voll Blut; der aufgeweichte Boden verhärtete sich leicht, gab aber unter den Tritten nach wie gespannte Ledergurte. Scharfer Frostgeruch mischte sich mit dem beissenden Duft faulenden Eichenlaubs und des Rauches, der mit dem Nebel gezogen kam.
Jaschek strebte querfeldein dem Dorfe zu.
Er blieb jeden Augenblick stehen, liess sich hin und wieder auf den Feldrainen nieder, duckte sich unter Feldbäumen und ging immer langsamer weiter, jedes Ackerbeet genau beschauend.
»Dem Wojtek seins!« flüsterte er und beugte sich, um die Erde mit den Fingern zu berühren.
Er sah schon gar nichts mehr ausser jenen Feldern, jenen langen, schwarzgrünen Ackerbeeten der Wintersaat, die ab und zu von dem in den Furchen liegenden Schnee gefleckt waren.
Die blutige Abendröte erlosch, aber noch glühte ihr umflorter Widerschein in den Wasserpfützen. Die Stoppelfelder lagen stumm und vor Nässe triefend da wie abgeschabte Bettlerlumpen; auf dem Herbstbrachacker ragten die silbern bereiften Schollen in die Dämmerung, Kleefelder breiteten sich hier und da aus und sahen modrig grünen Weibertüchern ähnlich.
Aber Jaschek begrüsste diese Welt in hellster Begeisterung mit einem Freudegewinsel.
Er war so wie sie erschöpft, so arm und elend wie diese trostlosen Felder, so wie sie von Regengüssen gepeitscht und fühlte sich selbst tausendmal schutzloser als diese hier, darum beugte er sich in einer wilden Liebe zu dieser Ackerkrume nieder, berührte sie mit den Fingern, als wollte er aus ihr Kräfte, Macht und Ausdauer schöpfen, sich ihr ganz in die Gewalt geben ... Und da es immer dunkler zu werden begann, bückte er sich immer tiefer über jedes Ackerbeet.
»Dem Michael seins! Sieh mal an, Weizen!« knurrte er erstaunt, nachdem er die jungen Hälmchen erkannt hatte.
Die Dunkelheit sank rasch hernieder, die Abendröte erblasste ganz und lief bläulich an, der Himmel begann sich schon mit dem Tau der Sterne zu bedecken, die Luft war rein, die Nebel zerstoben, denn der Frost hatte ziemlich stark zugepackt, und nur die Wälder schienen in dieser reinen Abendluft näher gerückt zu sein und das Tal mit einem hohen schwarzen Rahmen einzuschliessen.
Das Dorf war nur noch einige Steinwürfe weit entfernt. Jaschek stapfte jetzt über die Kohlbeete, die von tiefen, mit Schnee angefüllten Abzugsgräben durchzogen waren, über morastige Wiesen voll zahlloser Wassertümpel, unter deren Oberfläche noch hartes Eis sich barg.
Die Stimmen des Dorfes tönten schon zu ihm herüber, die Schafe blökten, ... dann liess sich das Brüllen der Kälber vernehmen und von irgendwoher trug ihm die hellhörige Luft Pferdegewieher und das deutliche Knarren von Scheunentüren zu. Er spürte in den Nüstern den kribbelnden Geruch von Rauch. Hier und da blitzte schon aus den Obstgärten zwischen Wirtschaftsgebäuden und Heckenwegen ein Lichtschein auf ... ein Liedlein erklang plötzlich in den Lüften ... das Geratter eines im vollen Galopp durchs Dorf fahrenden Wagens erstickte es wieder ... Auf einem der Höfe liess sich eifriges Gänsegeschnatter vernehmen. Irgend einen hörte man aus voller Kehle: »Pietrek, kommst her, Pietrek!« rufen.
Der Klang dieser Stimme traf ihn wie ein Keulenschlag, er taumelte ...
Jetzt war er auf einen Fusspfad geraten, der am Dorf entlang hinter den Scheunen lief.
Die Mutter wohnte am anderen Dorfende, hinter dem Bach am Hügel, auf dem das alte Kloster stand.
»Eine neue Bedachung hat er angeschafft! ...« stellte er leise fest, ein Bauernhaus in Augenschein nehmend.
»Der Wawschon ist abgebrannt!« einen Augenblick stand er und schaute voll Mitleid auf einen schwarzen Schornstein, der inmitten eines verkohlten Obstgartens ragte.
»Sieh mal an! Der Schultheiss hat sich ein neues Haus gebaut ... Für anderen Leuten zugefügtes Unrecht! ...« fügte er nach einer Weile schon im Weitergehen hinzu.
Je näher er dem mütterlichen Hause kam, um so langsamer und schwerfälliger wurden seine Schritte, denn auch die Hüfte begann ihn wieder furchtbar zu schmerzen, das Stimmengewirr des Dorfes erregte ihn und die Freude erschütterte sein Inneres dermassen, dass jedes Glied in ihm bebte. Am liebsten hätte er sich zu Boden geworfen und die Erde in einer heissen Begeisterung geküsst, wäre vor jeder Dorfhütte, vor jedem Obstgarten und jeder Scheune niedergekniet, hätte zu jedem Stein gebetet, zu jeder dieser Pappeln, die über den Häusern aufragten, zu den Lichtern in den Fenstern, zu all den Lebensstimmen des teuren, heissgeliebten Heimatdorfes ... Aber seine Kräfte waren zu Ende, dieses Glück hatte ihn gänzlich erschöpft, er konnte sich nur noch wie ein Sterbender, fast schon bewusstlos weiterschleppen, um mit dem letzten Rest der Lebenskraft, mit der letzten Anspannung seines Willens mindestens das Haus zu erreichen ... bis vor die Schwelle zu kriechen und dort, wenn es sein musste, tot niederzufallen.
»Oh, Jesus! Oh, Maria!« flüsterte er nur noch ab und zu vor sich hin und wusste nicht, wie und wann er bis an das Haus der Mutter gelangt war; die Tür konnte er nicht mehr öffnen; er sank an der Schwelle nieder und brach in ein furchtbares Weinen aus ...