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13. Kapitel.

Noch denselben Nachmittag begab sich Konrad in die Wohnung seiner Braut und erfuhr zu seinem Entsetzen, daß Toni mit Lulu abgereist war. Frau Müller überreichte ihm einen kalten Abschiedsbrief Tonis, den er sich nicht zu erklären wußte.

Wie ein Irrsinniger durchstöberte er die Wohnung. Auch in das Schlafzimmer drang er, das – wie der Leser weiß – dicht an das von Frieda und Beppo gemietete Absteigequartier stieß.

Das Zimmer war in wilder Unordnung, die Schränke geöffnet – wie eben bei einer überhasteten Abreise. Auf dem Nähtischchen unter Flicken und buntem Wollgarn lag ein Haufen durcheinander liegender Briefe, die anscheinend in der Eile vergessen worden waren.

Neugierig näherte er sich denselben. Von wem konnte sie denn so viele Briefe haben, alle egal im Format, alle von derselben Hand geschrieben? Obwohl ihm jede Neugierde und Indiskretion fernlag, nahm er einen der Briefe in die Hand und warf einen Blick in ihn hinein.

Doch als er ihn erst begonnen hatte zu lesen, las er ihn weiter. Es waren glühende Liebesworte, – ein Erwecken verschiedener Erinnerungen: eine Begegnung, mehrere Rendezvous, Zukunftspläne … Der Schreiber bat sie in den flehendsten Ausdrücken, endlich zu einem Entschluß zu kommen, eine wirkliche, echte Liebe nicht einer Kinderfreundschaft zu opfern. Er versicherte sie seiner unwandelbaren Liebe und gab ihr kund, daß alles zu einer sofortigen Abreise bereit sei.

»Ah, das ist zu viel! Das gibt den Ausschlag!« rief Konrad verzweifelt aus und warf die Briefe zu Boden. Sinnlos stürzte er aus dem Zimmer, zurück in seine Wohnung, die er zwei Tage nicht verließ, an Fieber und wahnsinnigem Kopfweh leidend.

Da wurde ihm ein Rohrpostbrief gebracht; ein Blick genügte, um die Handschrift zu erkennen; es war die der Gräfin von Ostia, die ihm folgende Zeilen schrieb: »Erwarten Sie mich heute zwischen fünf und sechs. Habe Sie dringend zu sprechen.«

Obwohl er jetzt nicht in der Stimmung war, Besuche – am allerwenigsten Rosa – zu empfangen, war es ihm doch lieb, einen Menschen um sich zu sehen, mit dem er reden, der ihn seinen furchtbaren Gedanken und seiner Einsamkeit entreißen konnte.

Plötzlich hörte er, wie ein Schlüssel in das Schloß gesteckt wurde. Gleich darauf trat Rosa ein, in englischem, schwarzem Kleid, das ihr tadellos saß. Nur war sie auffallend bleich; ihr Gesicht sah etwas abgemagert aus; tiefe Ringe umgaben ihre Augen. Es lag etwas Trauriges, Unruhiges, doch auch zugleich etwas trotzig Gefaßtes in ihren Zügen.

»Befürchteten Sie denn nicht, Verdacht zu erwecken oder verfolgt zu werden?«

»So mag er mich denn verfolgen!« rief sie mit eigentümlichem Ausdruck. »Jedenfalls kann nichts mich hindern, zu Ihnen zu kommen. Sie zu sehen, Sie zu sprechen.«

Da er keine Antwort gab, sah sie ihn an und fragte:

»Und was war denn aus Ihnen die letzten beiden Tage geworden? Was haben Sie denn gemacht?«

»Ich war geschäftlich verreist.«

»Wirklich? Geschäftlich verreist? Und das sagen Sie mir? So haben Sie denn kein Vertrauen in meine Freundschaft? Wenn ich mich schon damit begnüge,« setzte sie mit etwas traurigem Lächeln hinzu, »so habe ich doch das Recht, zu verlangen, daß sie nicht halb sei und Sie mir auch Ihren Kummer mitteilen.«

»Ich habe keinen Kummer.«

»Sie haben welchen, und noch dazu sehr schweren. Ich fühle und weiß es. Leider weiß ich nur zu viele Dinge seit einiger Zeit. Aber ich zürne Ihnen nicht wegen Ihres Schweigens. Ich achte sogar das scheue Empfinden, das Sie jetzt verstummen läßt. Denn Sie wären sonst genötigt, mir von ihr zu sprechen. Und Sie schweigen aus Zartgefühl, aus Güte vor mir. Sie leiden. Geben Sie mir einen Teil Ihrer Leiden zu tragen! Ihr Unglück ist keines von denen, das nicht wieder gut zu machen wäre, und gleicht nicht annähernd dem meinigen.«

»Von welchem Unglück reden Sie?« fragte er.

Sie schüttelte traurig den Kopf. »Das meinige ist so tief, so unsagbar groß, daß ich es niemand enthüllen kann, nicht einmal Ihnen. Aber es handelt sich jetzt nicht um mich, sondern um Sie. Also, Fräulein Toni Meinert ist nicht mehr in Berlin. Sie haben sie vergeblich gesucht?«

»Woher wissen Sie?« Ueberrascht blickte er sie an.

»Ich sagte Ihnen ja schon,« erwiderte sie dumpf und düster, »Ich weiß alles. Ich weiß alles das, was ich zu wissen wünsche … und auch das, was ich am liebsten nie wüßte.«

Er glaubte, ihr alle die gewünschten Auskünfte rückhaltlos mitteilen zu können. So erzählte er denn, was bis zu dem Tage geschehen war, als ihm Frau Müller Tonis Brief übergeben hatte.

»Können Sie mir den Brief zeigen?« fragte die Gräfin.

»Gewiß, da ist er.«

Sie las ihn aufmerksam durch und sagte dann: »Nie und nimmer würde Ihnen Toni Meinert so geschrieben haben. Ist das nicht auch Ihr erster Gedanke gewesen?«

»Ja, aber …«

»Haben Sie noch andere Briefe von Ihrer Kusine?«

»Ja.«

»Zeigen Sie sie.«

Sie verglich beide Handschriften miteinander, wie es damals auch Konrad getan hatte, und äußerte sich daraufhin bestimmten Tones: »Da liegt eine Fälschung vor. Daran kann keiner zweifeln – wenigstens ich nicht, die sich auf Fälschungen und deren Geschicklichkeiten versteht.«

»Wer sollte denn –? Wie könnte sich denn jemand unbemerkt in die Wohnung begeben haben?«

»Gott, wer kann es wissen … Sind Sie von selbst auf den Gedanken gekommen, diese Wohnung in der Kurfürstenstraße zu mieten?«

»Nein. Ich bin erst darauf aufmerksam gemacht worden.«

»Durch wen?«

»Durch den kleinen Herrn von Althoff.«

»Aha, nun weiß ich schon. – Warum sollte man nicht ihre Eifersucht nicht nur durch Worte, sondern auch durch Tatsachen angestachelt haben? Haben Sie Ihrer Braut nie mitgeteilt, daß Sie seit drei Monaten mit mir verkehren und mich bei sich empfangen?«

»Nein, ich hatte nicht recht … den Mut dazu.«

»So werden eben andere den Mut für Sie gehabt haben, ihr das mitzuteilen … Denken wir mal nach. War ich nicht an dem Tage, an dem Fräulein Meinert und Sie abgereist waren, hier bei Ihnen gewesen?«

»Ja, ich glaube.«

»Ich weiß es bestimmt. Ich vergesse diese Tage nicht so leicht. Während wir im Salon saßen, hat es an der Tür mehrere Male stark geklopft.«

»Ja, ja – ich erinnere mich.«

»Und als ich dann wegging, hat mir jemand aufgelauert. Ich sah es trotz Nebel und Schneegestöber.«

»Wer war es denn?«

»Fräulein Lulu Romanowski. Ich erkannte sie sofort nach der Schilderung, die Sie mir einst von ihr gegeben haben. Ich sah, daß sie sich am liebsten, um ihre Freundin zu rächen, auf mich gestürzt hätte. Ich wollte es Ihnen den nächsten Tag sagen.«

Sie trat an seine Seite und berührte seinen Arm. »Nach meiner Ansicht können Sie Ihrer Braut nichts anderes als Mangel an Vertrauen vorwerfen. Sie hat schmählichen Verleumdungen nur zu williges Gehör geschenkt, sich von ihrer ersten Leidenschaft hinreißen lassen und Hals über Kopf gehandelt.«

»Aber der Briefschreiber? Dieser glühende Liebhaber?«

»Nichts als ein Strohmann in den Händen einer gewissen ›roten Frieda‹ – ein Strohmann, der kein anderer ist als der kleine Althoff.«

Konrad verstand den ganzen Zusammenhang nicht recht, weshalb er einwarf: »Ich war ihm doch das erstemal in Ihrer Gesellschaft in Norderney begegnet. Wußten Sie denn damals noch nicht, wer er war?«

»Nicht gleich. Doch später sah ich ihn plötzlich mit dieser roten Frieda beisammen. Und da ging mir ein Licht auf. Die ungeschickte Art, mich auszufragen, ließ mich sofort erkennen, daß er auf eines Dritten Befehl handelte.«

»Standen Sie denn einst zu dieser roten Frieda in Beziehungen?«

»Ja,« gestand sie widerwillig. »Das Polizeipräsidium hatte mich eine Zeitlang durch sie, die sich als Kammermädchen bei mir eingemietet hatte, beobachten lassen. Ich war damals noch nicht verheiratet. Meine Person schien der Polizei verdächtig, weshalb man mich beobachten ließ.«

»Aber ich verstehe immer noch nicht, was die für ein Interesse haben kann, meine Kusine zugrunde zu richten und mich von ihr zu trennen?«

»Ich beschwöre Sie, lieber Freund,« bat sie angstvoll, »fragen Sie nicht weiter. Ich kann und darf Ihnen nicht antworten. Ich habe lange und oft überlegt, ob ich Ihnen alles sagen. Ihnen die scheußlichen Geheimnisse, die ich in letzter Zeit, seit wir gemeinschaftlich für Müller arbeiten, entdeckt, offenbaren dürfte. Aber mein Gewissen heißt mich schweigen. Der Mörder wird sich ja doch früher oder später selbst ausliefern. Es ist nicht meine Sache, ihn auszuliefern.«

Hoch aufgerichtet, wie eine Seherin, stand sie vor ihm, den Kopf zurückgeworfen, den Blick nach oben gerichtet, in stolzer, königlicher Haltung.

Verwundert, beinahe erschreckt, sah er sie an, ohne zu wagen, weitere Fragen zu tun.

Nach einer kurzen Pause fragte er:

»Also ist auch Ihnen jetzt die Unschuld Müllers erwiesen?«

»Ja, vollkommen,« erwiderte sie mit fester Ueberzeugung.

»Und Sie kennen den Namen des wirklichen Mitschuldigen Jagows?«

»Ich kenne ihn.«

»Sind Sie sich gewiß, sich nicht zu täuschen?«

»Dessen bin ich sicher. Ihnen gegenüber kann und will ich nicht lügen. Aber – aus Barmherzigkeit – fragen Sie mich heute nicht nach mehr, als was Sie schon wissen.« Sie hatte seine Hände ergriffen und sah ihm bittend in die Augen.

»Sei's denn!« Er setzte sich auf das Sofa, neben dem auch sie Platz nahm, indem sie zu ihm sprach:

»Lassen wir uns wieder auf jene zurückkommen, die Sie lieben. Sie haben sie also noch nicht wiedergefunden? Sie wissen nicht, wo sie sich befindet? Das ist für den Augenblick wichtiger als alles andere. Waren Sie die letzten Tage nicht in der Kurfürstenstraße? Haben Sie nicht nachgefragt?«

»Nein.«

»Nun, ich würde wetten, daß sie Sie wie gewöhnlich erwartet und heute schon in heller Verzweiflung ist, daß Sie nicht schon bei ihr sind.«

»Was läßt Sie das vermuten?«

»Der Umstand, daß Althoff wieder nach Berlin zurückgekehrt ist. Er hat heute vormittag meinen Mann besucht. Wenn Ihre Kusine noch auf Reisen wäre, hätte er es nicht aufgegeben, ihr zu folgen. So rasch läßt ein Bevollmächtigter der roten Frieda seine Beute nicht los.«

Konrad hatte sich erhoben. Unruhig und nervös eilte er im Zimmer auf und ab. Rosa verstand, daß er darauf brannte, sie zu verlassen und nach der Kurfürstenstraße zu eilen, und daß ihn nur die Höflichkeit daran hinderte. Traurig lächelnd ging sie auf ihn zu.

»Gehen Sie nur, lieber Freund, und suchen Sie sie auf. Seien Sie nicht zu streng gegen sie. Auch sie wird nicht weniger als Sie gelitten haben, und eigentlich haben Sie allein Schuld, weil Sie ihr Grund zur Eifersucht gegeben haben. Sie soll erfahren und wissen, was Sie für mich und aus mir gemacht haben. Sie ist gut und klug, weil Sie sie lieben. Und deshalb wird sie auch begreifen, was Sie ihr sagen werden, und nicht mehr auf Ihre Schülerin eifersüchtig sein.«

Da sie sah, daß er immer noch zögerte, versuchte sie ihn weiter zu überreden:

»Gehen Sie nur! Ich bleibe indes hier, bis Sie wiederkommen. Das heißt, wenn Sie es mir gestatten. Ich will von Ihnen erfahren, daß ich mich nicht getäuscht habe, daß ihr euch ausgesprochen habt und alles wieder in Ordnung ist.«

»Was sind Sie doch für ein gutes, edles Geschöpf!« rief er, ihre Hände stürmisch erfassend und pressend.

»Aber, wenn Sie sich mit mir beschäftigen,« begann er von neuem, »so habe wohl auch ich das Recht, mich mit Ihnen zu beschäftigen. Was haben Sie vor? Was geschieht mit Ihnen? Sie scheinen von einem Lebensüberdruß, der mich – offen gestanden – erschreckt.«

»Lebensüberdruß! Ja. Das ist das Wort! Oh, wenn Sie wüßten! Aber gehen Sie, gehen Sie! Wir wollen darüber reden, wenn Sie wiederkommen.«

Mit tränendem Blick reichte sie ihm die Hand, und ihre Mundwinkel zuckten, indem sie sagte: »Wir wollen Abschied nehmen, als ob wir uns nicht wieder sehen würden.« Kopfschüttelnd und ernst ergriff er ihre beiden Hände und küßte sie langsam, voll tiefer Ehrfurcht. Dann entfernte er sich rasch.

»Ich werde ihn lieber nicht erwarten … Ich will ihn nicht mehr sehen!« schluchzte sie vor sich hin. »Ich leide zu viel!«

Und doch blieb sie, ohne von der Stelle zu können. Sie wartete. Minute um Minute verrann – er kam nicht.

Endlich, nach einer halben Stunde, klopfte es an der Tür.

»Ah, das ist er!« rief sie beinahe voll Freude.

Da sie die Türe von innen abgeschlossen hatte, eilte sie hin, sie zu öffnen.

Ein Herr trat ein.

Doch es war nicht Konrad, sondern ihr Gatte, der Graf von Ostia.


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