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Etwa gegen acht Uhr abends war ein kleiner, etwas gedrungener Mann von unsympathischem Aeußern unter eben denselben Vorsichtsmaßregeln, wie eben erst Rosa von Gordon, ins Haus getreten. So wenig sympathisch seine Züge auch waren, konnte man ihnen doch nicht einen klugen, scharf beobachtenden Ausdruck absprechen. Vier Treppen hoch angekommen, betrat er die Wohnung, ohne zu klingeln, mittels eines eigenen Schlüssels. Trotz der Finsternis durchschritt er eine total leere Stube, welche vermutlich als Vorzimmer diente, um eine zweite Tür zu öffnen, die in ein kleines, ganz behaglich eingerichtetes Zimmer führte, in dem eine Lampe brannte.
Dicht neben dem Ofen, in das Feuer starrend, saß ein junger Mensch von etwa 25 Jahren, von mittlerer Größe, ziemlich schlank, mit gebräuntem Gesicht, dessen Züge außerordentlich schön waren und sogar eine gewisse Vornehmheit aufwiesen. Ein feiner, wohlgepflegter Schnurrbart, ebenso schwarz wie sein gelocktes Haar, beschattete zur Hälfte ein Paar frischer Lippen, hinter welchen zwei Reihen blendend weißer Zähne funkelten. Er hatte den Typus des Südländers und etwas Weibisches in seinem Lächeln.
Beinahe erschreckt sprang er empor, als er außen die Tür sich öffnen hörte; doch sobald er die eintretende Person erkannte, eilte er derselben entgegen, überzeugte sich, daß die Tür hinter ihr wohl abgeschlossen war, ließ die Portieren herunter und redete sie mit leiser, etwas vibrierender Stimme an:
»Endlich! Ich warte schon mehrere Stunden. Ich hatte schon Angst, daß etwas passiert sein könnte.«
»Noch … nichts, mein lieber Beppo,« erwiderte der eben Eingetretene, indem er den hochgeklappten Kragen seines Ueberziehers herabzog und ein Foulardtuch abnahm, welches sein Gesicht beinahe bis zur Hälfte bedeckt hatte.
»Sie sind gerade nicht sehr beruhigend mit Ihrem »Noch … nichts,« bemerkte der eben mit Beppo angesprochene junge Mann. »Fürchten Sie etwa, daß später –«
»Später – –? Wer kann das wissen? Wer ist imstande, in der Zukunft zu lesen? Aber wir wollen unsere Zeit nicht verlieren. Ich habe noch manches mit dir zu sprechen, ehe Rosa kommt.«
»Sie kommt? Wissen Sie das bestimmt!?« rief der junge Mann lebhaft, dessen schwarze, schöne Augen plötzlich hoffnungsfreudig zu leuchten begannen.
»Allerdings. Denn ich habe mich mit ihr hier verabredet, und du weißt, daß sie mir blindlings gehorcht. Sei so gut und fasse dich etwas. Bist du so weit? – Also setze dich und höre mir zu. Die Stunde ist gekommen, wo ich dir alles sagen muß. Es ist nötig geworden, daß du mich von Grund aus, von A bis Z kennenlernst. Ich habe allerdings niemals viele Geheimnisse vor dir gehabt, aber einige Punkte aus meinem Leben sind dir doch noch unbekannt. Und über diese will ich dich jetzt aufklären.«
Er nahm vom Tisch eine kurze Pfeife, die eigens für ihn da zu sein schien, stopfte sie gemächlich, steckte sie in Brand, setzte sich dann ebenfalls neben den Ofen, um langsam, ohne den jungen Mann anzusehen, seine Erzählung zu beginnen, wie um ihm jedes seiner Worte tief ins Gedächtnis zu prägen.
»Daß ich Calmus heiße, das weißt du. Ich hatte eine ziemlich gute Erziehung erhalten, von lieben, braven Eltern, denen ich nichts vorzuwerfen habe. Noch als ich Kind war, starben mir beide, und ich habe mir mein Ich so nach und nach selbst ausgebildet und vollendet. Wo? Ein wenig überall, die Welt durchstreifend wie ein Handlungsreisender, mich nur kurze Zeit in Berlin aufhaltend, wo man seit vielen Jahren den Namen Calmus vergessen hat, sowie auch die ersten Jahre meines Berliner Aufenthaltes.
Im Alter von 22 Jahren begegnete ich in Triest einer schönen Italienerin, in die ich mich rasend verliebte. Diese Begegnung war entscheidend für mein ganzes weiteres Leben.
Damals war ich noch nicht so häßlich wie heute; immerhin konnte ich aber nicht zu den schönen Menschen gerechnet werden, da meine Gestalt klein und gedrungen und seit meiner Geburt meine rechte Schulter höher als die linke war.
Ich konnte kaum hoffen, daß diese schöne Italienerin sich wirklich in mich verlieben würde. Doch da sie arm war und meine Geschäfte ziemlich flott gingen, erreichte ich es nach einiger Zeit, daß sie meine Frau wurde.
Ich übergehe meine namenlose Freude und mein unsagbares Glück, das ich damals empfand. Ich liebte jenes Wesen ebenso leidenschaftlich, wie du heute Rosa liebst. Du wirst mich verstehen, nicht wahr? Ich liebte sie mit wahnsinniger Leidenschaft, beinahe bis zum Verbrechen! Na, lassen wir das.«
Er erhob sich, da ihn jedenfalls die Erinnerung etwas aufgeregt hatte, und ging mit nervösem, hastigem Schritt auf und nieder; bald jedoch setzte er sich wieder an die Seite Beppos und fuhr in seiner Erzählung weiter fort:
»Mein Glück war von keiner langen Dauer. Meine Frau starb, als sie einer Tochter das Leben schenkte. Ich weiß heute noch nicht, wie es kam, daß ich damals vor Schmerz nicht wahnsinnig geworden bin. Einige behaupten, daß ich damals wirklich wahnsinnig war.
Nach dem ersten, wildesten Schmerz stellte sich eine vollkommene Gleichgültigkeit gegen alles bei mir ein. Sie dauerte so ein bis zwei Jahre. Was weiß ich! Ich vernachlässigte meine Geschäfte, ich verlor meine Kundschaft … ich war nicht imstande, auch nur irgend etwas zu tun – kurz gesagt, ich lebte wie das liebe Vieh.
Das Elend … vielleicht auch der Hunger … rüttelten mich empor. Ich sah erwachend um mich und fand an meiner Seite ein süßes, entzückendes Kind, das mir die Aermchen entgegenstreckte. Jeder Zug erinnerte mich an seine Mutter. Damals, im Alter von zwei Jahren, glich sie ihr beinahe aufs Haar. Heute noch ist sie ihr lebendes Ebenbild. Wenn ich sie heute betrachte, glaube ich immer noch, die Verstorbene zu sehen.«
Er wandte sich Beppo voll zu und redete ihn direkt an, als wollte er ihn zum Zeugen anrufen:
»Was hättest du an meiner Stelle getan? An deiner Seite dieses süße, kleine Wesen, deine Tochter, dein Fleisch und Blut! Du hättest dir wohl gesagt: Du mußt deine Lethargie bezwingen, deinen Idiotismus abschütteln, mußt wieder ein Mensch werden, um dein Kind zu ernähren.
Das wollte ich ja auch tun, aber es war zu spät. Die Handelshäuser, die mir früher Kredit gaben, verschlossen mir ihre Tür, ich hatte sie eben zu lange links liegen lassen und mich nicht um sie gekümmert; neue Firmen waren den alten gefolgt. Meine alten Kunden flohen vor einem Menschen, dessen irrsinnige Augen und dessen systematische Verblödung sie einige Jahre abgeschreckt hatte. Sie hatten meine Verzweiflung eben für Verrücktheit gehalten, für wirklichen Irrsinn. Siehst du, Beppo, die Leute verargen es einem, wenn man mehr leidet als sie, wenn man nicht imstande ist, seinen Schmerz zu ersticken. Man gilt für verrückt, wenn man zu viel geliebt und das Geliebte zu lange beweint hat.
Nirgends fand ich eine Anstellung. Am liebsten wäre ich ja wieder in meine Heimat zurückgekehrt, wie mir die meisten rieten – wenn ich's nur gekonnt hätte! Für Röschen hätte ich gebettelt, gestohlen – alles. Dann hätte mich der nächstbeste Gendarm ganz einfach eingesteckt.
So blieb ich denn – und lernte dort in der Fremde das ganze Elend, den ganzen Jammer eines Stellungslosen, eines Arbeitsuchenden kennen, dem die Menschen aus dem Wege gehen und den sie von sich stoßen wie einen Pestkranken. Da schlich sich in mein Herz der Haß gegen meinesgleichen. Ob das Unglück allein dies Gefühl in mir wachgerufen hat? Ich weiß es nicht. Vielleicht war ich von Geburt an gehässig und schlecht. Mag sein. Vielleicht halten bis dahin alle Leidenschaften des Bösen heimlich in mir geschlummert und erwachten eben erst.«
Calmus hielt einen Augenblick inne; seine Züge verklärten sich wie durch ein Zauberwort; sein Blick, eben noch schrecklich, wurde sanfter, ein beinahe gütiges Lächeln spielte um seine Lippen, und etwas gefaßter, etwas mehr Herr über sich selbst, fuhr er weiter fort:
»Je stärker das Gefühl des Hasses gegen alle meine Mitmenschen wurde, um so größer wurde die Liebe zu meiner Tochter, eine Liebe, die fast zur Leidenschaft heranwuchs. Ich habe mich oft gefragt, ob das natürlich ist, gleichzeitig derart zu hassen und so zu lieben. Mögen andere, Klügere darauf antworten. Ich konstatiere nur die Tatsache.
Vielleicht auch haßte ich die Menschen gerade wegen Rosa selbst. Vielleicht haßte ich sie, weil sie sich nicht um mein Kind kümmerten, weil sie ihm nicht zu Hilfe kamen, weil sie es verhungern ließen.
Mehrere schreckliche Monate vergingen auf diese Art und Weise. Wenn einen einmal das Unglück packt, und wenn man nicht eine außergewöhnliche Energie hat, so ist man einfach verloren. Zum Glück hatte ich diese Energie, wodurch es mir wenigstens gelang, mein Kind zu ernähren.
Später gelang es mir sogar, einige frühere Kunden wieder zu erobern und etwas Geld zu gewinnen. Rosa wuchs heran, wurde immer schöner und schöner. Ich ließ sie in einer höheren Töchterschule erziehen, erzog sie aber hauptsächlich selbst, nach meiner Art und Weise, die allerdings nicht der Schablone des Herkömmlichen glich. Vielleicht war es nicht gut; jedenfalls lehrte ich sie, zu denken, wie ich dachte, mir zu glauben und mir nicht zu widersprechen. Das war immerhin etwas, und zwar etwas, das nicht alle Väter erzielen können.
Das fiel mir gar nicht so schwer. Denn sie ist eine fügsame, nur selten – und das nur in Momenten großer Leidenschaft – energische Natur, gewöhnlich aber indolent, halb verträumt, sich, um nichts kümmernd. Um sich ja nicht der Mühe unterziehen zu müssen, für ihr Leben zu sorgen, würde sie ruhig verhungern. Das ist aber meine Schuld; ich habe sie zu der gemacht, die sie ist. Denn bis auf die wenigen Monate unseres Elends hat ihr wahrhaftig nichts gefehlt. Alle meine Geschenke und Unterstützungen nahm sie als ganz selbstverständlich hin. Nichts setzt sie in Verwunderung, nichts erregt sie. Was sollte ich auch mit ihrem Dank? Ich will ihn gar nicht. Ich kann von ihr nicht mehr verlangen, als sie mir geben kann. Man wird nie gesehen haben, daß ich an den Fersen meines Kindes geklebt oder sie mit Küssen und Zärtlichkeiten überhäuft habe. Das liegt nicht in mir. Sie zu sehen ist wirklich zu meinem Glücke gar nicht nötig, und ich könnte ruhig Wochen und Monate von ihr entfernt sein, ohne allzusehr darunter zu leiden. Dagegen muß ich mich immer mit ihr beschäftigen und die Ueberzeugung haben, daß ihr nichts fehlt und daß sie glücklich ist … Du hörst mir doch zu?« fragte er sein Gegenüber, den Kopf wendend.
»Und ob ich zuhöre! Sie reden ja von ihr!« erwiderte Beppo.
»Ist ja wahr. Ich vergaß. – Also, um weiter fortzufahren: Mit einem Male ging's nicht mehr mit den Geschäften. Ich hatte Angst vor neuerlichem Elend – nicht für mich, sondern für Rosa. Ich brauche ja nichts und habe weder Leidenschaften noch kostspielige Angewohnheiten. Ein Stück trockenes Brot – ein Glas Milch genügen mir. Doch wehe, wenn es einer wagt, mir diese zu nehmen. Da erwacht in mir die Bestie, und sie schnappt zu.«
Calmus sprach die letzten Worte mit solchem Ausdruck, daß Beppo unwillkürlich erschauerte.
»Da ich also das Elend fürchtete, nahm ich das Angebot eines Afrikaforschers an, ihn in das Innere des dunklen Erdteils zu begleiten. Sein Hauptzweck und der seiner beiden abenteuerlustigen Genossen war, Elefanten zu jagen und Elfenbeinhandel zu treiben. Man könnte auf diese Art und Weise ziemlich rasch zu Vermögen kommen, hieß es, besonders, wenn man sich kein Gewissen daraus mache, sich auch auf den Menschenhandel zu verlegen.
Der Plan gefiel meinem etwas phantastischen Sinn. Ich liebte die Tropen, ich war selbst abenteuerlustig, und mein Gewissen sollte mir dabei nicht allzusehr im Wege sein. Du kennst meine Ansichten über das Gewissen. Ich vertraute demnach Rosa einer Verwandten meiner Frau in Triest an und war fest entschlossen, rasch Geld zu verdienen.«
Er erhob sich, klopfte seine Pfeife aus, stopfte sich eine neue und setzte sich wieder an den Ofen.
»Mein Afrikareisender hatte sich nicht getäuscht: das Land ernährte seinen Mann; allerdings weniger durch Elefanten, um so mehr aber durch den Menschenhandel. Wir hatten ganz schönen Export nach Persien und in die Türkei. Ich hatte mich bald von meinen Begleitern getrennt, um auf eigene Rechnung zu arbeiten. Mehr als einen Sklaventrupp habe ich von einer Küste Afrikas nach der anderen geleitet. Ein schweres, ein furchtbares Handwerk das, – inmitten endloser, wasserloser Wüsten, unter einem unerbittlichen Tropenhimmel, unter dem die Sklaven zusammenfielen und krepierten wie die Fliegen! Nachdem man einige Jahre dieses Handwerk betrieben hat, wird man etwas weiter in seinen Ansichten und sagt sich, daß der Europäer einem Menschenleben wirklich zu viel Wichtigkeit beimißt. Wenn man mit eigenen Augen so viele Menschen hat sterben sehen, wenn man sogar selbst einige umgebracht hat, um sich zu verteidigen, sagt man sich schließlich: einer mehr oder weniger – was tut's!«
Beppo erschauerte einen Augenblick, ohne es zu wagen, Calmus zu unterbrechen, der gleich wieder fortfuhr:
»Alles dort erworbene Geld – und es war nicht wenig – wechselte ich in den Küstenorten in deutsches Geld ein und schickte es nach Triest. Ab und zu hatte ich über Rosa Nachricht erhalten, doch nur äußerst selten. Das war bei meinem herumirrenden Leben anders auch nicht möglich. Doch die Nachrichten wurden immer seltener und blieben schließlich ganz aus. Da packte mich die Angst. Sollte ihr etwas zugestoßen sein? – Ich verkaufte rasch die letzten Sklaven, verließ Afrika und schiffte mich nach Europa ein!«
Calmus war an das Fenster getreten, hatte dasselbe geöffnet und aus demselben hinabgesehen, als ob er jemand erwartete. Seufzend schloß er es wieder und kehrte nach seinem Platz zurück.
»Nach einer furchtbaren Ueberfahrt traf ich endlich in Triest ein. Mein erster Gang war natürlich zu der Verwandten meiner Frau, der ich mein Kind in Obhut gegeben hatte. Sie war tot. Hätte sie nicht so lange warten können, bis ich zurückkam? Und was war aus Rosa geworden? Niemand wußte es genau. So viel aber war gewiß, daß meine Geldsendungen schon seit langer Zeit an eine Tote adressiert und niemals in die Hände meines Kindes gelangt waren. Meine Verzweiflung war grenzenlos. Ich lief von Pontius zu Pilatus und erfuhr schließlich, daß meine Tochter sich einer ausländischen Familie als Reisebegleiterin angeschlossen hätte, die vermutlich nach Berlin gereist war.
Ich ließ natürlich sofort alles im Stich und fuhr nach Berlin, wo ich auch das Hotel ausfindig machte, in dem die Familie abgestiegen war.
Vor sechs Monaten sei sie hier gewesen; seitdem reise sie in Italien. Ob ein junges Mädchen in ihrer Begleitung gewesen wäre, fragte ich, erhielt aber eine verneinende Antwort; das junge Mädchen wäre in Berlin geblieben.
Ja, aber wo? Wo sollte ich sie in dieser Riesenstadt wiederfinden, die in den letzten Jahren meiner Abwesenheit einen so kolossalen Aufschwung genommen halte, in jener Stadt, in der ich selbst zum Fremden geworden war?
Ich suche, durchstöbere jeden Winkel, renne alle öffentlichen Lokale ab, in denen sich die lebenslustige Frau zu zeigen pflegt, renne herum wie ein Hund, der seinen Herrn verloren hat. Was konnte alles in dieser langen, dazwischenliegenden Zeit geschehen, was aus ihr geworden sein? Etwa eine Betschwester? Ich durchforsche alle Kirchen. Eine Künstlerin vielleicht? Ich renne in die Theater. Eine Straßendirne? Ich stürme von den Amorsälen in alle Bars und Nachtcafés – alles vergebens: ich finde sie nicht.
Zwei Monate verstrichen auf diese Weise. Nichts! Sollte sie vielleicht nicht mehr am Leben sein oder war sie inzwischen abgereist? Tausend und abertausend Ideen jagten in wilder Hetzjagd durch mein Gehirn, und doch, als wenn mich eine unsichtbare Macht leitete, beschränkte ich meine Nachforschungen schließlich auf die innere Friedrichstadt. Sie, die gewöhnt war, so sorgenfrei und mehr oder weniger üppig zu leben, mußte sich in diesem Viertel aufhalten, wenn sie noch in Berlin war. Ich suchte jedoch nicht mehr hoffnungsfreudig, sondern gedankenlos, planlos herumschlendernd.
Eines Tages komme ich am Wintergarten vorbei. In großen Lettern sehe ich eine riesige Affiche. ›Auftreten der berühmten Rosa von Gordon.‹
Rosa, ihr Name! Leider war mir diese Rosa unbekannt. Das blieb sich gleich. Ich trat ein. Es war doch wenigstens eine, die ihren Namen hatte!
Das Haus war beinahe ausverkauft; alles sprach von jener Rosa, der wunderbaren Schönheit, der pompösen Gestalt, von dem eigenartig pikanten Kostüm … ihretwegen schien alles in den Wintergarten geströmt zu sein.
Endlich erwische ich noch einen Platz. Stehparterre. Ich wurde beinahe erdrückt von den Schaulustigen. Ich sehe nichts!
Das Programm, mit dem gewöhnlichen Jubel aufgenommen, mehr oder weniger gute, meist geistlose Spezialitäten … plötzlich ein jubelnder Applaus, ein beinahe frenetisches Brüllen, alles stellt sich auf die Fußspitzen, Blumen werden geworfen, kein Zweifel, sie war's, märchenhaft schön, ein berückender Traum, gehoben durch alle möglichen szenischen Effekte und die raffinierteste Beleuchtung.
Sie auf einer Variétébühne! … Meine Rosa, mein Kind!«
Calmus hielt einen Augenblick inne, um seine Erregung, die ihn heute noch bei der Erinnerung ergriff, zu unterdrücken und von neuem sich in die Vergangenheit zu versetzen.
»In den langen Jahren meiner Abwesenheit hatte ich mir allerdings die allmähliche Veränderung meines Kindes vorgestellt; ich hatte sie sozusagen im Geiste wachsen, schön werden, sich entwickeln gesehen. Aber das jetzt Geschaute übertraf alle meine Erwartungen. So hatte ich sie mir nicht vorgestellt. Das war ja nicht mehr das Kind, das war ein volles, üppiges Weib, Zug um Zug seine von mir so unsagbar geliebte Mutter!
Sie sang einige Kouplets. Das hätte sie nicht tun sollen; denn ihre Stimme war schlecht. Was lag aber den Leuten an der Stimme! Sie wollten das Weib sehen, die Schönheit, eine Mensch gewordene Göttin. Und das war sie.
In einem Meer von Blumen schloß sich der Vorhang über ihr, der unzählige Male hoch ging, begleitet von frenetischem Jubel und begeisterten Hervorrufen.
Ein anderer als ich wäre wahrscheinlich sofort in den Artistenhof geeilt, um sich ihr in den Weg zu stellen, oder in die Garderobe, um sie in seine Arme zu schließen. Du weißt aber, daß ich kein Freund von solchen übertriebenen Sentimentalitäten bin. Ich sehe, ich fühle, ich empfinde, ich leide … alles, alles … aber nichts wird meine Gefühle verraten. Du kennst meinen eisernen Willen in dieser Beziehung.
Auch wollte ich sie nicht lächerlich machen. Welch gefundenes Zeitungsfressen wäre die Nachricht gewesen, daß die schöne Rosa von Gordon in ihrer Garderobe von einem häßlichen, halb buckligen, grotesken Menschen überrascht worden wäre, der sich hinterdrein als ihr Vater entpuppt hätte!
Nein! Niemand sollte erfahren, daß Rosa einen Vater hatte … niemand, daß ich ein Kind besaß.
Ich nahm mir eine geschlossene Droschke, setzte mich in dieselbe und ließ sie vor dem Artisteneingang warten. Andere Droschken standen bereits dort. Auch mehrere elegant gekleidete Herren warteten daselbst – unter den jugendlichen auch ein älterer, namens Julius Meinert. Ich habe später seinen Namen erfahren, und auch, daß er ein reicher Tuchhändler en gros war.
Endlich tritt sie aus dem Dunkel des Hauses, hoheitsvoll, königlich, mit einer souveränen Verachtung aller der Harrenden, die den Hut vor ihr lüfteten, keinen einzigen Gruß in zuvorkommender Weise erwidernd. Ihre Augen suchen einen Wagen. Sie geht auf den meinigen los, in dem Glauben, er wäre leer. In dem Moment, als sie den Wagenschlag öffnet, sage ich: ›Rosa Calmus‹. Verwundert hält sie die Türklinke in der Hand und starrt in das dunkle Innere des Wagens. Das Licht einer vorüberfahrenden Droschke beleuchtet meine verwitterten Züge; sie blickt erstaunt und ungewiß in dieselben – ungewiß, ob sie sich in die Nähe dieses nicht verlockend aussehenden Menschen wagen solle.
Abermals flüstere ich ihr zu: ›Komm rasch, ich bin's, dein Vater!‹
Kein Zug verrät ihr Erstaunen oder auch nur irgendwelche Erregung. Sie ist meine Tochter. Auch sie verrät nichts von dem, was sie fühlt oder empfindet. Sie steigt so ruhig in den Wagen, als ob derselbe leer gewesen wäre: der Wagenschlag fällt zu, und die Droschke entfernt sich, nachdem ich dem Kutscher bereits früher das Ziel angegeben hatte.
Glaube ja nicht, daß ich etwa, als wir uns so allein im Dunkel des Wagens befanden, sie in meine Arme geschlossen oder daß sie mich mit Küssen überhäuft hätte. Nein!« lachte er bitter auf. »Schon in ihren Kinderjahren hatte ich ihr angewöhnt, mit dergleichen Aeußerlichkeiten zurückhaltend zu sein, solche Sachen als unnütze, sogar gefährliche Aeußerungen zu meiden.
Außerdem bin ich gar nicht sicher, ob sie mich überhaupt liebt. Mein geheimnisvolles Leben flößt ihr gewisse Furcht ein. Sie ahnt in mir instinktiv einen Desperado und fürchtet mich. Es ist sogar nicht unmöglich, daß sie mich verabscheut.
Doch was liegt daran! Ich liebe sie, und das genügt mir! Ich liebe sie wie eine Mutter, und – ohne mich zu besinnen, was die Zukunft bringen kann, ohne je damit zu rechnen, von ihr Dank zu ernten – opfere ich ihr mein ganzes Leben.«
Die Stimme dieses Menschen, welche sonst meist scharf und hart klang, fand beinahe weiche und warme Töne, sobald er von seiner Liebe zu Rosa sprach. Diese Art und Weise, zu sprechen, ermüdete ihn auch rascher als die gewohnte, so daß er sich genötigt sah, einige Minuten mit seiner Erzählung innezuhalten. Darauf fuhr er weiter fort:
»Der Wagen brachte uns nach meiner Behausung, in der ich mit Rosa eine längere Auseinandersetzung hatte. Sie teilte mir ihre Gründe mit, welche sie bewogen hatten, Triest zu verlassen. Sie erzählte auch von jener Familie, der sie sich angeschlossen hatte, und die nach einem kurzen Aufenthalt hier wieder nach Italien zurückgekehrt war. Sie habe sich jedoch geweigert, den Leuten dorthin zu folgen. Irgendein instinktives Gefühl habe ihr gesagt, daß sie in Berlin irgendeine Rolle werde spielen müssen, als ob Berlin gewissermaßen die Stadt ihrer Bestimmung wäre. Was sollte sie übrigens auch in Triest, in das ich vermutlich niemals zurückkehren würde!
Als sie hier ohne alle Mittel zurückgeblieben war, fehlte es ihr allerdings nicht an mannigfachen Angeboten, die sie aber alle mit Ekel, vielleicht auch aus Stolz und aus einem angeborenen moralischen Gefühl, von sich gewiesen hatte. Jawohl, sie hat ihre Tugend … allerdings eine Tugend nach ihrer Art, dank meiner Erziehung.
Ihre Verlegenheit war aber von Tag zu Tag gewachsen und bald stand sie direkt vor dem Elend. Schließlich blieb ihr nichts anderes übrig, als das ihr gemachte Angebot, zur Variétébühne zu gehen, anzunehmen und so debütierte sie im Wintergarten.
Vierzehn Tage war sie dort geblieben. Als ich sie wiedersah, sollte es der letzte Tag ihres Auftretens sein; ich wünschte, daß sie nicht länger bei dieser Karriere bliebe.
Sie machte auch keine Einwendungen dagegen; sie hat sich immer blindlings meinem Willen gefügt. Auch hatte sie jedenfalls das Bewußtsein, daß sie jetzt, da ich hier war, keinen Mangel mehr leiden würde.
Wenn sie irgendwie für die Bühne großes Talent gehabt hätte, dann hätte ich ja nichts dagegen einzuwenden gehabt. Aber so eine Wintergarten-Karriere … das war gar nicht nach meinem Geschmack, trotzdem sie solch einen Bombenerfolg zu verzeichnen hatte.
An Verehrern hat es ihr allerdings nicht gefehlt. Der leidenschaftlichste war der reiche Kaufmann Julius Meinert. Er schrieb ihr liebeglühende Briefe und schlug ihr vor, ihr eine sorgenfreie Existenz zu verschaffen und ihre Zukunft sicherzustellen, allerdings unter der Bedingung, daß sie die Bühne verließe.
Da trafen sich ja unsere Wünsche. Diese Gedankengemeinschaft brachte mich auf eine Idee: wer konnte wissen, ob er nicht imstande war, für Rosa, die er einstweilen nur vom Sehen kannte und die auf ihn bloß in physischer Hinsicht schon großen Eindruck gemacht hatte, weitere große Opfer zu bringen, sobald er sie erst persönlich kennenlernte? Und schließlich, warum sollte er sie nicht heiraten? Was hatte man ihr vorzuwerfen? Höchstens ihr kurzes Auftreten im Wintergarten. Rosa war eine Natur, welche immer das geblieben wäre, was sie war – selbst wenn sie Julius Meinert geheiratet hätte.
Ich zog Erkundigungen ein und erfuhr, daß Meinert Hauseigentümer, ziemlich vermögend und Junggeselle war. Er galt als anständiger Mensch, allerdings als ein etwas schwacher Charakter, was in diesem Falle kein Fehler war, weil er sich dann leichter lenken ließ.
Ich übergab Rosa das letzte Geld, das mir blieb, und mietete ihr eine bescheidene Wohnung, die ich sie einfach möblieren ließ, um damit den Neigungen und Ansichten des alten Kaufmanns entgegenzukommen. Ich persönlich wollte bei der ganzen Sache aus dem Spiele bleiben. Ich hatte mich in einen kleinen Privatier verwandelt, der ein musterhaftes und vollkommen zurückgezogenes Leben führte. Was den Calmus anbelangte, so war er seit langer Zeit tot. Der frühere Handlungsgehilfe, der stellenlose Mensch, der durch die Straßen Triests gerannt war, um sich ein Stückchen Brot zu erjagen – schließlich der Abenteurer, welcher mit Negern gehandelt hat, – seine Spur sollte sich in den fernen Wüsten Mittelafrikas verlieren, – mit einem Worte: er sollte aufgehört haben, zu existieren.
Alles Geld, das mir blieb und welches ich in einem neuen Berufe verdienen wollte, war meiner Tochter bestimmt, die ich im geheimen unausgesetzt überwachen wollte. Es war ja dies die einzige Freude, die einzige Zerstreuung, der einzige Lebenszweck, der mir noch blieb.
Mein Plan gelang auch. Julius Meinert fühlte sich außerordentlich geschmeichelt, daß Rosa seinetwegen von der Bühne abgegangen war.
Bereits nach drei Monaten begann er von einer Heirat zu sprechen. Nur ein Punkt hielt ihn noch zurück, und zwar die Furcht, einen Bruder und eine Nichte, die darauf rechneten, ihn zu beerben, sich zu Feinden zu machen. Aber auch darüber wollte er sich hinwegsetzen, und so wurde die Heirat festgesetzt.«
Calmus unterbrach sich plötzlich und hielt mit seinem Auf- und Abgehen inne, um vor Beppo stehen zu bleiben und, ihm scharf in die Augen blickend, ihm folgende Worte ins Gesicht zu schleudern:
»Da kamst du mir in den Weg!«
Der junge Mann zuckte mit keiner Wimper, worauf Calmus seine Erzählung wieder aufnahm:
»Ja, da tratest du mir in den Weg und hast mir mit einem Male alle meine Pläne umgeworfen, um sowohl meinem als auch Rosas Leben eine ganz andere Wendung zu geben.«
Die letzten Worte ließen Beppo unwillkürlich erzittern, ohne daß er jedoch sein Stillschweigen gebrochen hätte.
»Du warst nach Berlin gekommen, um angeblich Jura zu studieren. So viel ich weiß, bist du gebürtiger Römer oder irgendwo in der Provinz Rom geboren. Dummerweise verliebte sich meine Rosa in dich. Gott, schließlich war es ja auch nicht zu verwundern. Ein junges Weib von zweiundzwanzig Jahren, das bis dahin noch nicht geliebt hatte … Sie ist auch nur Mensch. –
Es waren noch keine sechs Wochen verstrichen, seit sie dich kannte, als sie mir kategorisch erklärte, daß sie niemals Julius Meinert heiraten würde. Sie wollte dir allein angehören und keinem anderen.«
Calmus hatte seine Hände auf die Schultern Beppos gelegt, sein Gesicht dicht an das seine gebracht und lief, ihn mit verhaltener Wut schüttelnd, ihm beinahe drohend zu:
»Es war dies das erste Mal, daß sie gegen meinen Willen revoltiert hat … und das um deinetwillen, du Hund!«
Mit einem Ruck riß er sich von Beppo los, vergrub seine Hände in den Hosentaschen und begann von neuem in der Stube auf- und abzulaufen, wie ein Tier in seinem Käfig.
»Was sollte ich dagegen tun? Ihr verbieten, dich zu lieben? Als ob ein Weib einem solchen Befehle jemals gehorcht hätte! Sie wäre einfach mit dir durchgebrannt, und ich hätte sie nie wiedergesehen. Da zog ich vor ihr nachzugeben … Ich ließ dich sie in Beschlag nehmen; aber zu gleicher Zeit habe ich auch auf dich Beschlag gelegt,« knirschte er mit schrecklichem Ausdruck.
»Ich war entschlossen, mich in deine Seele einzuschleichen, dir Seele und Phantasie mit meinen Gedanken und Ansichten zu vergiften, und es gelang mir. Jetzt gehörst du mir ganz, das heißt, du gehörst ihr … so lange sie dich eben haben will.«
Beppo, erschreckt, machte unwillkürlich einige Schritte nach rückwärts, doch Calmus ließ seine riesige Rechte auf seine Schulter fallen und rief ihm mit haßvoller, beinahe boshafter Befriedigung zu:
»Nun kennst du mich, du mein Schüler und mein Mitschuldiger!«
Ohne Beppos Antwort abzuwarten, hatte Calmus bereits wieder das Wort ergriffen.
»Wovon aber wolltet ihr beide leben? Du hattest die wenigen tausend Mark bald für Schmuck und verschiedene Geschenke ausgegeben, die du ihr gemacht hast. Du warst rasend in sie verliebt und hättest dich in aller Gemütsruhe hundertmal für sie ruiniert.
Ich hatte kein Vermögen, um es Rosa zu ermöglichen, nach ihrem Geschmack zu leben. Der Erlös aus dem Verkauf der letzten Sklaven war verzehrt: ich hatte nichts.
Julius Meinert entschlüpfte unsern Händen. Schließlich überlegte ich, daß es eigentlich gar nicht notwendig sei, daß er sie heirate, um ihr sein Vermögen zu hinterlassen. Ein Testament kann im Notfall einen Heiratskontrakt ersetzen, und wenn der Testator kurze Zeit nach dem Testieren stirbt, so erbt man unter Umständen, ohne sich in die Unkosten zu stürzen, ihn heiraten zu müssen.«
Kaum hatte er die letzten Worte ausgesprochen, als Beppo, der bisher stillschweigend und regungslos zugehört hatte, ihn zwang, sein Auf- und Abgehen einzustellen und ihn anzusehen. Heiser stieß er hervor:
»Dann warst du es, der …«
»Das geht dich nichts an,« erwiderte Calmus schroff. »Ich rede, ich sage, was ich sagen will, und da ich dir ziemlich viel sage, hast du das Recht nicht, mich um noch mehr zu befragen.«
Er entfernte sich von dem jungen Manne, ohne ihn weiter zu beachten, setzte sich vor den Ofen und begann, nachdem er das Feuer geschürt hatte, von neuem:
»Bald darauf starb Julius Meinert. Er vermachte sein ganzes Vermögen Rosa Calmus, genannt von Gordon. Sie sollte reich sein … und du durch sie …, denn ich wollte und will heute noch, daß du sie heiratest. Und ich will, daß du Karriere machst, ich will, daß du steigst und sie mit dir.
Unglücklicherweise hatte dieses Rindvieh, der Bruder des Verstorbenen, der Hauptmann a. D., es sich in den Kopf gesetzt, das Testament für ungültig erklären zu lassen. Er hätte das nicht getan, wenn er die gekannt hätte, gegen die er seinen Feldzug eröffnet hat.
Der Prozeß dauerte ziemlich lange.
Wir verloren den Prozeß; die 530 000 Mark, welche Rosa bereits in ihren Händen glaubte, waren uns für immer verloren. Meine Tochter war ruiniert, um eine Toni Meinert zu einer guten Partie zu machen!
Und am Abend wollten sie beide gemeinsam ihren Sieg feiern! Sie wollten ihr Geld zählen, es abtasten, es von allen Seiten betrachten und es dann in einer Bank vergraben, um sich fette Koupons abschneiden und nach Herzenslust leben zu können.
Nein, nein und tausendmal nein! Noch war ich da, ich wachte! Man hatte mir meine Beute entrissen; aber noch hatte ich Krallen, um mir meine Beute zurückzuerobern.«
Calmus, von seinen eigenen Worten trunken gemacht, fiebernd, in einem Anfall von Raserei, ging auf Beppo los und hielt ihm seine beiden Hände mit den krampfhaft gespreizten Fingern vor die Augen.
»Das sind meine Krallen, die da!«
In diesem Augenblick war er wirklich furchtbar. Im allgemeinen war er, wenn auch ab und zu eine elementare Wut durch seine Worte blitzte, doch der Mann, wie wir ihn geschildert haben: voll Reserve, voll Selbstbeherrschung, selten geneigt, die ganze furchtbare Bestie, die in ihm wohnte, zu offenbaren.
In diesem Augenblick aber kannte er nichts anderes als die furchtbare Mut, die in ihm wütete.
Trotzdem Beppo mehrere Jahre hindurch der Schüler dieses Mannes gewesen war, trotz seiner tiefen Perversität, war er noch nicht so weit wie sein Meister, denn er sagte zu Calmus, ohne irgendwie dessen Wut zu beachten:
»Du hattest mir versprochen, sein Leben zu schonen; du hast mir versichert, daß du imstande wärest, ihm die Summe zu nehmen, ohne daß er aufwachen würde.«
Calmus hatte sich wieder beruhigt, der Anfall war verflogen. Mit einem Gleichmut, der vielleicht noch grauenvoller berührte als der Wutausbruch, erwiderte er:
»Ich habe dir bereits einmal geraten, dir Gewissensbisse zu ersparen, da du immer noch blöd genug bist, solche zu empfinden. Ich wollte sie dir ersparen, da du trotz meines Beispiels immer noch an dieser Kinderkrankheit leidest.«
»Hier handelt es sich nicht um Gewissensbisse und Skrupel,« entgegnete Beppo mit einer gewissen falschen Scham. »Wie aber, wenn man dich entdeckt?«
»Dann werde ich eben das Verbrechen mit meinem Leben büßen.«
»Und ich, dein Mitschuldiger?«
»Mein Mitschuldiger …« lachte Calmus voll mitleidiger Verachtung. »Du bist es so wenig … hast nicht einmal am Morde teilgenommen. Du hast dir naiverweise eingebildet, daß es sich bloß um einen Raub handelte. Deine ganze Mittäterschaft besteht darin, daß du einer Aufwartefrau den Schlüssel wegeskamotiert, einem öden Hause einen nächtlichen Besuch abgestattet und mir deine Schultern geliehen hast, damit ich mich über das Treppengeländer des oberen Stockwerkes schwingen konnte.
Vor allem muß man dich erst verhaften und verurteilen. Wer aber würde in dem Mann von 50 Jahren, mit dem grauen Bart und grauen Haar, der die Kleidung eines einfachen Arbeiters trug, den schönen Jüngling, der du bist, vermuten?
Wer kennt dich hier in Berlin, wo du dich – meinem Rat zufolge – alle Augenblicke in einer neuen Verkleidung zeigst, bald brünett, bald blond, bald rothaarig, heute kahlköpfig, wie ein alter Lebemann, morgen mit einem gebrannten Lockenkopf wie ein Barbier? Ah, du verstehst es, dich zu verkleiden! Unter Umständen könntest du ein erstklassiger Schauspieler werden! Und das freut mich wegen der Projekte, die ich mit dir vorhabe und die ich dir sofort mitteilen werde.«
»Jetzt? Weshalb?« fragte Beppo.
»Weil man nicht genau weiß, wer lebt, wer stirbt, wer verhaftet wird.«
»Du fürchtest also eine Verhaftung?« fragte der junge Mann erbleichend.
»Ich weiß es nicht,« erwiderte Calmus mit unerschütterlicher Ruhe. »Wenn du ein guter Schauspieler bist, bin ich meinerseits ein guter, geschickter Regisseur. Ich kann ein Stück in großen Umrissen inszenieren, doch im Detail und in der Ausführung kann mir doch irgendein Fehler unterlaufen. Man ist eben nicht unfehlbar. Es ist nicht unmöglich, daß ich irgendein Versehen begangen habe, welches auf unsere Köpfe zurückfallen könnte, d. h.: unsere Köpfe fallen lassen könnte. Deshalb beeilen wir uns.«
Er erhob sich, trat abermals an das Fenster, um noch einmal aus demselben hinauszusehen, schloß dasselbe und lehnte sich an das Fensterkreuz.
»Wenn du Buchstabe für Buchstabe alles das befolgst, was ich dir vorschreibe, wenn du alle die Notizen und Dokumente verwendest, die ich für dich gesammelt habe – mit einem Wort, wenn du mir blindlings folgst, so kannst du kolossal reich werden. Ohne irgendeine Position in der Welt, ohne irgendein Grundkapital wirst du nie zu einem großen Kapital kommen. Eine Position in der Gesellschaft habe ich dir vorbereitet. Die Papiere, die ich dir übergeben werde, sichern dir dieselbe. Du bekommst dadurch einen Titel und einen Namen. An dir wird es liegen, weitere Verbindungen anzuknüpfen. Rosa hat schon einige; du wirst sie ergänzen, und euer Salon wird binnen kurzem einer der gesuchtesten in Berlin sein. Was das Geld anbelangt, so habe ich 500 000 Mark hier in meiner Tasche. Es fehlen 30 000 Mark. Ich habe dieselben gebraucht … Oh, nicht etwa für mich, sondern nur für dich, um die Sache zu lancieren.
Mir wird sie alles verdanken; du wirst ihr nichts mitbringen, nichts! Ich bin es, der dich zu etwas macht, der dich emporhebt aus dem Staube. Ich war ja dazu gezwungen. Dich zum Guten anzuleiten, das lag mir nicht; dazu fehlte mir jede Fähigkeit. Deshalb zog ich vor, dir Waffen in die Hände zu geben, dich instand zu setzen, die Menschen auszusaugen und auszunutzen.«
Nach den letzten Worten setzte er sich vor den Tisch, auf dem die Lampe stand, und entnahm seiner Brusttasche drei in Papier eingeschlagene, dicke Kuverts. Das erste enthielt eine Menge fein gekritzelter Notizen, von seiner eigenen Hand geschrieben.
»Da sind die Dokumente,« sagte der Verbrecher, sie Beppo einhändigend.
Im zweiten Kuvert befanden sich ein Geburtsschein, ein Totenschein, ein Heiratskontrakt – kurz und gut alle jene Urkunden, welche nötig sind, den Zivilstand eines Individuums, seine Abstammung, seine Legitimation darzutun.
Ohne die geringste Erregung öffnete Calmus das dritte Kuvert und entnahm diesem die rote Brieftasche, in welche Hauptmann Meinert das ihm von Doktor Herbert übergebene Geld eingeschlossen hatte.
Calmus nahm die Banknoten, legte sie auf den Tisch, ging auf den Ofen zu und warf die Brieftasche ins Feuer.
Darauf kehrte er zum Tisch zurück und zeigte Beppo das Geld.
»Nimm diese Papierfetzen; ich mache mir daraus nichts. Ich nahm sie nur um meines Kindes willen.«
Da er Beppo bleich und zitternd zögern sah, sagte er:
»Du hast Angst, daß man die Banknoten in deiner Hand etwa erkennen könnte, oder daß sie den Schuldigen verraten könnten? Beruhige dich, ich habe eine nach der anderen mit der Lupe sondiert und an keiner etwas Auffälliges bemerkt. Sie sind genau so wie alle anderen. Nimm das Geld, sonst werf' ich's ebenso ins Feuer, wie die rote Brieftasche – das bedeutet dann sowohl für dich als auch für sie so viel wie: Elend und Verzweiflung.«
Da Beppo noch immer zögerte, neigte er sich an Beppos Ohr, ihm zuflüsternd:
»Das bedeutet auch endlich über kurz oder lang einen Bruch mit Rosa. Sie, mit ihren luxuriösen Neigungen, an das Wohlleben gewöhnt, wäre doch trotz aller Liebe nicht imstande, die Armut für alle Zeit mit dir zu teilen.«
Mit einem nervösen Griff packte Beppo das Geld und schloß es in den Schreibtisch ein.
Calmus verstand es vortrefflich, bei einem Menschen die letzten Gewissensregungen zu töten. Eine gemeinschaftliche Leidenschaft für ein und dasselbe Geschöpf verband beide Verbrecher.
Nachdem Beppo den Schreibtisch abgeschlossen hatte, fuhr Calmus fort: »Ich wollte das alles heute abend in Ordnung bringen, weil ich nicht weiß, ob ich euch noch einmal sehen werde.«
»Sie verlassen Berlin?« fragte Beppo lebhaft.
»Na, so dumm! Ich verlasse weder Berlin noch die Wohnung, in der ich wohne, noch die Stellung, die ich einnehme. Das sichert mich davor, in Verdacht zu geraten; seine Gewohnheiten zu ändern, ist ein Fehler, den ich nicht mehr begehe. Aber wenn meine Flucht gefährlich ist, so ist es vielleicht mein Bleiben in Berlin nicht minder. Um weder dich noch Rosa in Mitleidenschaft zu ziehen, dürfen wir uns von heute ab nicht mehr Wiedersehen. Alle unsere Verbindungen seien mit heute abgebrochen, das steht nun einmal fest.«
Langsam, wie um seinen Worten mehr Gewicht beizulegen, fügte er hinzu:
»In dem Falle, daß ich verhaftet werden sollte, darfst weder du noch Rosa durch irgend etwas, was es auch sei, verraten, daß ihr mich jemals gekannt habt. Meinen Namen Calmus werde ich niemals nennen, und weder die Polizei noch die hohe Justiz wird ihn herausbringen können. Was meinen anderen Namen anbetrifft, unter dem ich vermutlich vor die Staatsanwaltschaft komme, in dem unwahrscheinlichen Falle, daß man mich verhaftet, so kennst du ihn allerdings, aber Rosa darf ihn nie kennen. Das ist mein fester Wille, vergiß es nicht. Gesetzt den Fall, ich würde verhaftet oder zum Tode verurteilt, so darf sie nie wissen, daß es sich um mich handelt.«
Er hob die Lampenglocke etwas in die Höhe, um nach der Wanduhr zu sehen, worauf er sagte:
»In fünf Minuten muß sie hier sein. Noch ein letztes Wort.«
Er rückte ganz dicht an Beppo heran und sah ihm scharf in die Augen:
»Du brauchst nichts zu fürchten. Ich will nicht, daß du vor etwas Angst hast: denn wenn sie irgendwie Angst an dir entdeckt, könnte sie darunter leiden. Als ich dir das Geld gab, gab ich dir einen Beweis meines Vertrauens zu dir, das heißt, zu deiner Liebe zu Rosa. Denn ihr allein wirst du das Geld geben und es allein für sie ausgeben, dessen bin ich sicher. Deine Leidenschaft für sie steht mir dafür. Dagegen kannst du dich auch auf mich verlassen: Man kann mich in Stücke hacken, ohne daß ich dich jemals verraten würde, solange du sie und solange sie dich liebt. Aber wehe, wenn sie jemals um deinetwillen leiden sollte! Denn dann – nur dann, aber dann auch sicher … dann soll man erfahren, daß du mein Mitschuldiger bist. Bedenke das wohl! Ich hätte dich ja bei dem ganzen Verbrechen in Wilmersdorf drüben gar nicht gebraucht. Wenn ich deine Hilfe in Anspruch genommen habe, hatte ich dabei nur den einen Zweck: dich in Händen zu halten … Wenn ich nicht rede, wird dich kein Mensch im Verdacht haben … Wenn ich aber rede, bist du verloren … Still! Ich höre sie kommen!«
Kaum hatte er die letzten Worte gesprochen, als draußen die Tür geöffnet wurde. Denn Rosa hatte genau ebenso einen Drücker und Hausschlüssel wie ihr Vater.
Als Beppo ihre Schritte hörte, stürzte er ihr ins Vorzimmer entgegen, während Calmus ruhig und unbeweglich vor dem Ofen auf sie wartete.
Sobald sie eintrat, erfüllte sich die Stube für ihn mit strahlendem Licht. Sie ging zu ihrem Vater und reichte ihm ihre Stirn, auf welche er ihr einen einzigen flüchtigen und kalten Kuß drückte. Doch hätte man sehen können, wie sein Blick aufleuchtete, als sie sich Beppo zuwendete. Dann wandte er sich an Rosa, welche an der Seite Beppos saß.
»Ich habe mit dir zu reden.«
»Du hast dich nicht getäuscht: seit heute nachmittag werde ich beobachtet. Meine Spionin hat sich bei mir als Kammermädchen eingemietet, und ich muß offen gestehen, daß ich nicht verstehe, was sie eigentlich bei mir soll,« fiel ihm Rosa ins Wort.
»Das ist doch ziemlich einfach,« erwiderte Calmus in seiner gleichgültigen Sprechweise, »und du hättest das erwarten können. Vor einigen Tagen ist in Wilmersdorf ein Verbrechen begangen worden: Hauptmann Meinert wurde ermordet aufgefunden, einige Stunden, nachdem er die Erbschaft seines Bruders angetreten hatte. Bis jetzt ist der Mörder noch nicht gefunden worden, und die Polizei beschränkt sich einstweilen auf Vermutungen und Voraussetzungen. Jedenfalls hat der Rechtsanwalt erklärt, daß jene Summe, die dir seit längerer Zeit hätte ausgefolgt werden müssen, ursprünglich dir durch Testament bestimmt gewesen war, infolge der Wiederaufnahme des Prozesses dir aber vorenthalten wurde. Da ist es leicht möglich, daß man auf den Gedanken verfiel, du könntest irgendwie an dem Verbrechen beteiligt sein.«
»Ich?« sagte Rosa geringschätzig. »Welch alberner Scherz.«
»Gott, das sind bloß Mutmaßungen.«
»Wahrhaftig, man muß wirklich schon verrückt sein, um auch nur annehmen zu können, daß ich …«
»Du, du … Bilde dir nur nichts ein! Ich habe Zeit meines Lebens damit zugebracht, deine Einbildungen und Illusionen zu vernichten, dir die Sachen so zu zeigen, wie sie liegen, und nicht, wie wir sie wünschen. Für die Gerichtsbehörden ist eben deine Stellung eine völlig unklare. Du kommst, man weiß nicht woher. Du bist die Tochter einer Fremden, welche schon seit langer Zeit tot ist, und eines gewissen Calmus, einer Art von Abenteurer, der plötzlich verschwunden ist, man weiß nicht wann und weiß nicht wie … Du führst eine geheimnisvolle Existenz, lebst in einem gewissen Luxus, ohne daß jemand die Quellen kennt, aus denen du ihn bestreitest … Allerdings bist du umgeben von reichen und einflußreichen Leuten: aber laß einen nach dem andern unter dem Eid seine Aussage machen, und jeder wird beschwören müssen, daß er dir auch nicht einen Pfennig gegeben hat. Das stimmt doch?«
»Ob das stimmt!« erwiderte Rosa, stolz ihren Kopf zurückwerfend.
»Dank meinen Vorsichtsmaßregeln, die ich in eurem beiderseitigen Interesse angewendet habe, ahnt niemand deine Beziehungen zu Beppo. Also, wie lebst du?
Die Polizei weiß es nicht, sie wird auch nie erfahren, daß der Abenteurer Calmus, anstatt seine Haut in Afrika gelassen zu haben, mit einer ganz hübschen Summe nach Europa zurückgekehrt ist, einer Summe, die du glücklicherweise verbraucht hast … Demnach darfst du dir nicht verheimlichen, liebes Kind, daß deine Position nichts weniger als klar ist, und ich habe mir gleich gesagt, daß man dir irgendeinen Spion oder einen Polizeispitzel zuteilen wird.«
»Es ist eine Polizeispitzelin,« erwiderte Rosa.
»Um so schlimmer. Wenn sich Weiber mit Polizeisachen abgeben, so ist das ein Zeichen, daß sie ziemlich gerissen sind. Bist du sicher, daß dir niemand gefolgt ist?«
»Vollkommen. Ich bin mit all den Vorsichtsmaßregeln gekommen, die du mir anempfohlen hast. Doch wenn ich für die Vergangenheit stehen kann, kann ich nicht für die Zukunft stehen. Morgen, zum Beispiel, wenn ich wiederkommen müßte …«
Mit fester Stimme unterbrach er sie da:
»Du wirst nicht mehr wiederkommen müssen, weder morgen noch sonst wann.«
Sie wandte sich lebhaft Beppo zu und rief beinahe erschreckt aus:
»Was sagt er? Ich soll euch nicht mehr wiedersehen?«
Doch bereits hatte Calmus wieder das Wort ergriffen:
»Davon kann keine Rede sein. Habe ich etwa davon gesprochen, euch zu trennen? Ich weiß doch, daß das unmöglich ist. Ich will euch nur eine Zeitlang voneinander fern halten. Eure eigensten Interessen erfordern es dringend. Die Existenz, die ihr bis jetzt geführt habt, kann nicht länger andauern. Der Augenblick ist gekommen, da ihr euch vor aller Welt lieben dürft und kein Hehl mehr von eurer Liebe zu machen braucht.«
»Ist das wahr?« fragte Rosa strahlend. »Was soll geschehen?«
Calmus näherte sich seiner Tochter und sagte, sich dicht vor sie hinstellend und ihr in die Augen sehend:
»Beppo ist nicht nur der schöne Mann, als den du ihn kennst, er hat auch einen Namen, einen Titel und Vermögen. Gewisse Familienrücksichten hatten ihn genötigt, bis heute darüber zu schweigen, sich sogar dir gegenüber gewissermaßen in ein Inkognito zu hüllen. Heute aber hat er keinen Grund mehr zu schweigen, und er hat mir eben erklärt, daß er dir seinen Namen und seinen Rang in der Gesellschaft als seinem Weibe geben will.«
Mit einem verwunderten Blick betrachtete sie ihren Bräutigam. Mit einem Kopfnicken schien er die Worte des Vaters zu bestätigen.
»Aber, wie gesagt, ihr müßt damit anfangen, euch einige Zeit nicht zu sehen und euch zu trennen.«
»Wie lange?« fragte sie voll Bangen.
»Vierzehn Tage, drei Wochen, vielleicht auch einen Monat,« erwiderte er.
»Das ist recht lange,« seufzte Rosa.
»Du vergißt,« erwiderte Calmus, in dessen Stimme sich etwas Bitterkeit mischte, »daß euch dann das ganze Leben bleibt, miteinander zu leben und euch zu lieben. – Beppo wird also alles vorbereiten, um imstande zu sein, auf die erwarteten Depeschen hin sofort abzureisen.« Und zu Beppo gewendet, fuhr er fort: »Du wirst also so rasch wie möglich reisen; deine Abwesenheit darf nicht zu lange währen. Du weißt ja, was du zu tun hast; alle deine weiteren Schritte sind dir vorgezeichnet, und deine Rückkehr ist genau so geregelt wie deine Abreise.«
»Und die ganze Zeit über soll ich ohne Nachricht bleiben?« fragte Rosa beinahe düster.
»Nicht doch: er wird dir aus Italien schreiben, und du kannst sogar deine Briefe deinen Freunden zeigen und sie darauf vorbereiten, daß sie ihn bald kennen lernen würden … Du kannst ihnen ja folgende Geschichte zum besten geben: Du hättest vor Jahren Beppo in Venedig kennen gelernt, er hätte dir stark den Hof gemacht; da du aber arm gewesen wärest, hätte sich seine Familie gegen eine Heirat gesträubt … er hätte dich nie vergessen und dir immer seine Liebe bewahrt. Beweis dessen sei schon die Tatsache, daß er seit vier Jahren für deinen Unterhalt sorgt. Du konntest das ganz ruhig von ihm annehmen, da er doch fest entschlossen war, dich in dem Augenblick zu heiraten, da er in den Besitz seines Vermögens käme … Dies wäre jetzt endlich eingetreten, nachdem nun sein Vater gestorben sei … Deshalb beeilte er sich auch, so rasch wie möglich nach Berlin zu kommen, wo du ihn täglich erwartetest … Auf diese Art ist das Geheimnisvolle deiner Existenz wenigstens einigermaßen erklärt.«
Calmus setzte sich Rosa gegenüber und fügte festen Tones hinzu:
»Das also habe ich über deine Zukunft mit Beppo beschlossen. Suche nicht weiter in meine Gründe einzudringen und die Schleier zu lüften, welche dich immer noch einhüllen. Laß dich von mir leiten, fahre fort, so zu leben, wie du bisher gelebt hast, ohne dich um irgend etwas zu sorgen, voll Vertrauens in die Zukunft, da du weißt, daß ich über dich wache … Ich glaube, du hast bis heute dein Vertrauen noch nicht zu bereuen gehabt. Deine Existenz ist keine unglückliche gewesen, das wirst du mir wohl zugeben.«
»Gewiß, Vater,« erwiderte sie ruhig, beinahe gleichgültig.
»Gut. Ich habe meinen Lohn und verlange keinen anderen. Jetzt kann ich wenigstens in Ruhe gehen.«
»Wie? Auch du willst von mir gehen?«
»Natürlich; bisher haben wir uns hier getroffen; morgen aber wird uns diese Wohnung nicht mehr gehören. Von heute ab soll jeder Mensch deine Existenz, deine Wege sehen können. Uebrigens habe auch ich die Absicht zu verreisen. Du hast mir viel Geld gekostet. Ich war gezwungen, meine Ausgaben deinetwegen zu vergrößern, so daß mir nichts mehr übrig bleibt … ich muß von neuem verdienen …«
»Ich werde dich doch noch einmal sehen vor deiner Abreise?«
»Das weiß ich noch nicht. Für jetzt sage ich dir Lebewohl, den es ist schon spät und wir haben uns nichts mehr zu sagen. Bleibe nur des einen eingedenk, daß ich immer über dich wachen werde! Namentlich du, Beppo, vergiß das nicht. Adieu!«
Er reichte Beppo die Hand und gab Rosa denselben kühlen, beinahe gleichgültigen Kuß wie bei der Begrüßung, ohne daß Rosa, gewohnt, ihm in allem zu folgen, gewagt hätte, gegen seine Bestimmungen irgendwelche Einwendungen zu machen. Er war eben im Begriff, mit leichtem Kopfnicken das Zimmer zu verlassen, als er sich noch einmal umwandte und gleich einer wilden Bestie auf sein Kind losstürzte, Rosas Kopf zwischen seine Hände nahm und Stirn, Mund und Augen mit glühenden Küssen bedeckte. Darauf stieß er sie von sich und verließ die Wohnung, ohne sich noch einmal umzublicken.