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Lulu war außer sich und derart erregt, als ob das Gesagte nicht bloß Toni Meinert, sondern sie selbst anginge. Wie, nicht genug, daß Konrad es wagte, kurz vor seiner Hochzeit noch ein unerlaubtes Verhältnis zu haben – war noch dazu die Erwählte seines Herzens die größte und einzige Feindin Tonis, jene Frau, die sie damals um die Erbschaft ihres Onkels gebracht hatte? Und nicht nur das allein: sie war auch schuld am Tode des Hauptmanns. Und das wußte alles Konrad Arnheim. Wie oft hatte der Falsche in ihrer Gegenwart jene Rosa Calmus für alle nachträglichen Ereignisse verantwortlich gemacht! Und während er in ihrer Gegenwart jene Person beschuldigte, verkehrte er mit ihr heimlich als ihr Geliebter. O pfui über diese Schande, über diese ordinären Männer!
Doch – war auch dieser Frau von Essern zu trauen? Woher kam sie? Wer war sie? Allerdings – was für einen Grund sollte sie haben, Konrad Arnheim derart zu verleumden? Und sagte sie denn nicht, daß diese Tatsache bereits aller Welt bekannt sei? Wenn sie angegeben hätte, es allein zu wissen, dann hätte man ihr vielleicht mißtrauen können, obwohl diese Dame durchaus respektabel aussah und wirklich eine Sympathie für Toni zu haben schien.
Auch fielen Lulu nun mit einem Male verschiedene Einzelheiten ein, denen sie früher keine rechte Beachtung geschenkt hatte. Seit drei Monaten, während Konrad sonst täglich oft drei-, viermal zu ihnen kam, ließ er sich jetzt nur noch selten sehen. Er war freilich immer noch der ergebene Freund, der hilfsbereite Verwandte, aber doch mehr der Freund als der Verliebte. Auch Toni hatte diese Abkühlung bemerkt und schien darunter zu leiden. Sie hatten dies damit motiviert, daß Konrad in letzter Zeit zu viel zu tun hätte. Jetzt allerdings sah Lulu die Sachlage in anderem Licht.
Lulu, die selbst unter normalen Verhältnissen stets aufgeregt und exaltiert war, hatte nun ganz und gar den Kopf verloren. Wie eine Tobsüchtige rannte sie im Zimmer auf und ab, die Arme gegen die Decke emporwerfend, und rief ununterbrochen: »So eine Gemeinheit! Mich so hintergangen zu haben!« Denn in diesem Augenblick identifizierte sie sich vollkommen mit Toni. Sie war sogar schon so weit, auf ihre eigene Rechnung auf Rosa eifersüchtig zu sein. Wenn sie ihn jetzt so vor sich gehabt hätte, sie würde ihm die Augen ausgekratzt haben.
Da kam ihr plötzlich ein Gedanke: Wie – wenn sie sich jetzt zu ihm begäbe? Es war gerade die Zeit, zu der er heimzukommen pflegte. Sie wollte mit ihm reden; denn abends, falls er kam, konnte sie doch nicht darüber sprechen, weil Toni da war. Und die sollte einstweilen nichts davon wissen. Ja, sie wollte ihn zur Rede stellen. Und wenn er schuldlos war, dann sollte er sich verteidigen. Aber wenn er schuldig war – dann gnade ihm Gott. Bei ihm wenigstens konnte dann die Szene niemand hören, und Toni würde niemals etwas davon erfahren. Wenn er sie nicht mehr liebte, dann sollte er sie auch nicht heiraten.
Gesagt, getan. Sie schlüpfte rasch in ihr Jackett und eilte nach Konrads Wohnung. Unterwegs überlegte sie, heftig gestikulierend, in einem lauten Selbstgespräch, wie sie ihn anreden würde, und fuchtelte so lebhaft mit ihren Aermchen umher, daß die Leute ihr verwundert nachblickten.
Vor seinem Hause angekommen, fragte sie den Portier, ob hier Herr Arnheim wohne. Man wies sie zwei Treppen höher. Sie klingelte.
Auf ihre Frage, ob Herr Arnheim zu Haus sei, antwortete seine Wirtin etwas verlegen, daß ihr Mieter eben nach Hause gekommen sei, schwerlich aber jemand empfangen werde, da er bereits Besuch habe.
»Besuch? Besuch?« rief Lulu heftig und fügte naiv hinzu: »Das ist doch kein Grund, einen nicht zu empfangen.«
Die Wirtin lächelte eigentümlich: »Das hängt davon ab. Vielleicht wünscht die Person, die ihren Besuch macht, nicht gesehen zu werden.«
Diese Worte frappierten Lulu. Seit einigen Stunden traute sie Konrad jede Schlechtigkeit zu. Aber Rosa? Sollte diese Person die Schamlosigkeit so weit treiben, Konrad in seiner eigenen Wohnung zu besuchen? Sollte sie jetzt etwa gerade bei ihm sein? Wie sollte sie das herausbekommen?
Da der Wirtin jedenfalls die Unentschlossenheit Lulus zu lange dauerte, ließ sie die kleine Person stehen und eilte in die Küche zurück, aus der man das Prasseln der Butter in der Pfanne hörte. Lulu schnüffelte und brummte als sachkundige Köchin: »'n Beefsteak!« Dann eilte sie rasch entschlossen auf die Tür Konrads zu, klopfte ein-, zwei-, dreimal, ohne daß ihr geöffnet wurde. Sie drückte an der Klinke – die Tür war verschlossen.
Von Wut gepackt, begann sie nun derart an der Tür zu bullern und einen solchen Heidenspektakel zu machen, daß sich eine Tür nebenan öffnete und in ihr ein Student mit wutgerötetem Gesicht erschien, der ihr zurief: »Nanu! Nanu! Es wohnen noch andere Leute hier. Verrückte alte Schachtel!«
Bums – war die Türe wieder zu.
Lulu war das Weinen nahe. In ohnmächtiger Wut und kleinlaut schlich sie von dannen, jedoch nicht, um nach Hause zu gehen, sondern um unten zu warten. »Sie ist bei ihm! Jedenfalls. Deshalb hat der Kerl auch nicht aufgemacht! Oh, diese Männer, diese Rabenbrut! Aber – ich will sie sehen, ich werde sie sehen. Ich will Gewißheit haben.«
Sie brauchte nicht lange zu warten. Sie sah vom jenseitigen Trottoir aus eine Dame das Haus Konrads verlassen und erkannte in ihr sofort Rosa Calmus, der sie früher einmal bei Doktor Herbert begegnet war.
Wäre Rosa nicht so groß und imposant gewesen, hätte die kleine Löckchen-Lulu zweifelsohne einen Skandal provoziert; denn sie hatte große Lust, ihrer Feindin mit dem Schirm ins Gesicht zu schlagen. Aber kleinen, schwächlichen Leuten, so mutig sie auch sein können, imponieren doch immer mehr oder weniger diese robusten Kolosse. Andererseits war Lulu eine viel zu streng erzogene kleine Person, als daß sie nicht gefürchtet hätte, sich durch irgendeine Gemeinschaft mit einer »solchen« Dame zu kompromittieren.
Gewiß war, daß sie noch wütender nach Hause kam, als sie gegangen war. Jedes Löckchen zitterte an ihr vor Erregung. Ihre Aermchen kreisten wie ein paar Windmühlenflügel, was bei ihr ein Zeichen hochgradigster Aufregung bedeutete.
Auf der Treppe versuchte sie gewaltsam, ihre Wut etwas zu meistern und eine möglichst unbefangene Miene aufzustecken, damit Toni ja nichts merkte. Freilich rechnete sie dabei nicht mit der Intensität ihrer Erregung, die bei ihr immer stärker war als der gute Wille selbst.
Sobald sie eingetreten war und Toni Lulus roten Kopf, die verrutschte Krawatte, die sie nach Herrenart trug, und die zerzauste Frisur bemerkte, fragte sie die Freundin:
»Was hast du denn? Was ist dir denn zugestoßen?«
»Nichts,« versicherte Lulu, noch ganz außer Atem, und ließ sich in einen Stuhl fallen. »Nichts. Gar nichts. Wirklich nichts.«
»Aber du bist ja …«
»Was soll ich denn haben?« kreischte Lulu ungeduldig auf.
»Das weiß ich nicht,« erwiderte Toni in gewohnter Ruhe und sanft. »Ich bemerke nur, daß du sehr aufgeregt aussiehst.«
»Da irrst du dich eben,« schnitt ihr Lulu das Wort ab und kehrte Toni den Rücken zu, damit sie von ihr nicht gesehen würde. Toni war viel zu diskret und viel zu wenig neugierig, als daß sie auf ihrem Fragen weiter bestanden hätte.
Unglücklicherweise fragte sie, da sie eben immer an ihren Verlobten dachte:
»Konrad hat uns doch versprochen, vor Tisch herzukommen. Warum er wohl nicht gekommen ist? Ob er vielleicht krank ist?«
Lulu gab einen verächtlichen, hohen Fistelton von sich, der wie ein beißendes Auflachen klang: »Hi! Der und krank! Jawohl!«
Toni, überrascht über den Ton Lulus, näherte sich ihrer Freundin: »Was hast du denn? Warum sprichst du denn in diesem Tone über Konrad? Hat er dir etwas getan? Bist du deshalb vielleicht so aufgeregt?«
»Ich bin nicht aufgeregt,« schnauzte der kleine Giftmolch.
»So sieh dich doch nur einmal an,« erwiderte Toni und brachte ihr den Handspiegel; doch Lulu hielt es für vernünftiger, sich nicht anzusehen, denn sie wußte, daß sie in solchen Momenten scheußlich aussah. Um jedoch ihre Wut an jemand auszulassen, fuhr sie keifend herum, um den Blicken Tonis zu entgehen, und rief:
»Laß mich doch zufrieden! – Laß mich doch in Ruh'! Wirklich unausstehlich, wenn man so gequält wird! Man tut das nicht! Man versucht es nicht, den Leuten ihre Geheimnisse zu entreißen.«
»Geheimnisse?« wiederholte Toni erstaunt. »Du hast Geheimnisse vor mir, deiner Freundin, deiner Schwester – deinem Kind?« Sie schmiegte ihr süßes Gesichtchen an das runzelige Lulus, die diesen weichen Tönen, selbst wenn sie ihre ganze Kaltblütigkeit beisammen hatte, nie hätte widerstehen können, geschweige denn bei dem erregten Zustand ihrer Nerven.
»So sage mir doch, Luluchen!« schmeichelte die Jüngere, sich neben Lulu auf die Erde hockend. »Ist es nicht ausgemacht zwischen uns, daß wir uns alles sagen – daß keiner vor dem anderen was verbirgt? Haben wir uns das nicht heilig gelobt?«
»Ja, ja,« gab Lulu weinerlich zu, die fühlte, wie sie immer schwächer wurde.
»Geh', es fällt dir ja so schwer, die Zurückhaltende zu spielen. Du brennst ja darauf, dein Herz auszuschütten. Worum handelt es sich denn? Wäre es etwas Gutes gewesen, du hättest es mir ja längst schon gesagt. Es ist also etwas, das dir Kummer macht, gelt? Du kannst mir's ruhig gestehen. Ich bin gewohnt, Trauriges zu erfahren und zu ertragen.«
Lulu wurde nun vollkommen kopflos, und ohne sich daran zu erinnern, was sie selbst gelobt hatte, gerührt von Tonis Bitten, stieß sie unter einem Seufzer hervor:
»Ach, du wirst noch viel zu leiden haben, armes Kind!«
Mit einem Satz stand Toni wieder auf den Beinen und fragte, jäh erbleichend, die Hand auf ihr Herz gepreßt: »Also handelt es sich doch um Konrad?« Da Lulu schwieg, ihren eben begangenen Fehler erkennend, fügte Toni energisch hinzu: »Du hast schon zu viel gesagt, um nicht vollenden zu müssen. Sprich jetzt. Ich will es wissen. Ich will.«
Lulu sah ein, daß sie nicht länger schweigen durfte. Und wozu auch? Toni mußte es ja doch erfahren. Um nicht gleich mit der Tür ins Haus zu fallen, erzählte sie erst von dem Besuch jener Frau von Essern und von allem, was sie in betreff Konrads gesagt hatte.
Doch gleich nach den ersten Worten schrie Toni empört auf: »Das ist nicht wahr! Das ist eine gemeine Verleumdung!«
Trotzdem aber konnte sie sich banger Zweifel nicht erwehren. Die Freundschaft hätte geglaubt; die Liebe aber ist furchtsamer als die Freundschaft. Was jene verwirft, läßt diese oft gelten. Zweifel und Eifersucht sind Kinder der Liebe; die Freundschaft glaubt, Liebe jedoch fürchtet.
Sie entsann sich des veränderten Benehmens Konrads, seiner selteneren und kürzeren Besuche; sie erinnerte sich, daß er nicht mehr die Abende damit zubrachte, Aug' in Auge, Hand in Hand sich mit ihr etwas zu erzählen. Unbewußt hatte sie das alles empfunden, ohne sich Rechenschaft darüber zu geben, ohne nach den Gründen zu forschen. Jetzt glaubte sie sie zu erraten.
Von neuem überhäufte sie Lulu mit Fragen, worauf ihr schließlich Lulu ihr ganzes Gespräch mit Frau von Essern wiederholte und ihr auch von dem Schritt erzählte, den sie unternommen, wie sie die Gräfin Ostia hatte aus dem Hause Konrads treten sehen, nachdem er ihr, Lulu, auf ihr Klopfen nicht geöffnet hatte.
Die lang verhaltene Wut Lulus machte sich nun in einem Monolog Luft, indem sie die Gegenwart Tonis vollkommen vergaß. Sie schalt auf die Feigheit der Männer, die erst ein junges Mädchen betören, mit Versprechungen sicher machen und dann sitzen lassen. Es war kein Reden mehr, sondern eine Philippika wildester Schmähungen.
Erst als sie gewahr wurde, daß sich Toni auf das Sofa geworfen hatte und bitterlich weinte, erkannte Lulu, was sie getan und angerichtet hatte. Sie hockte sich an die Seite des trostlosen Kindes, küßte sein Haar, seine Augen, seine Hände und flehte in sinnloser Angst:
»Weine nicht, Liebling – weine nicht! Du regst dich zu sehr auf!«
Da aber dies alles nichts half, brach ihre Wut von neuem los; diesmal aber richtete sich diese wider sie selbst. »Ich bin doch zu dumm! Eine dumme, herzlose, ordinäre Plaudergans bin ich! Ich hatte mir doch geschworen, zu schweigen. Und doch – und doch – die Zunge sollte man mir ausreißen! Ja, das habe ich verdient. Das hätte man mir schon als Kind tun sollen, dann hätte ich nicht so viel Dummheiten gemacht. So was Miserables wie mich gibt's nicht mehr! Nein, das gibt's nicht mehr!« schrie sie wütend, als ob ihr jemand widersprochen hätte und sie das letzte Wort haben wollte.
Mit ihrer spontanen Lebhaftigkeit unterbrach sie ihr wütendes Auf- und Abrennen und kniete neben Toni nieder, ihr Haar streichelnd.
»Wirst du mir verzeihen? Ja? Ach, ich bin ja so dumm!« bat sie.
Toni, die sich etwas gesammelt hatte, antwortete ihr mit traurigem Lächeln, das unschöne Gesicht der kleinen Alten zwischen die Hände nehmend:
»Ich hätte es doch früher oder später erfahren. Ach, ich habe es schon lange gefühlt. Er hat schon längst nicht mehr die Absicht, mich zu heiraten. Er hätte es mir ja doch sagen müssen. Und es ist mir lieber, es durch dich zu erfahren.«
Nach diesen Worten brach sie von neuem in heiße Tränen aus, worauf Lulu, die sie um jeden Preis trösten wollte und nicht mehr wußte, was sie sprach, versicherte:
»Jetzt übertreibst du, Kind! Er wird dich ganz sicher heiraten. Nur …«
»Nur liebt er eine andere,« ergänzte Toni mit Bitterkeit.
»Ach was! Glaube doch so etwas nicht! Kann man denn solche Weiber lieben?«
»Warum nicht? Sie ist doch blendend schön, diese Gräfin.«
»Sie kann dir aber nicht das Wasser reichen.«
»Jedenfalls gefällt sie ihm besser, weil er mich um ihretwillen im Stiche läßt.«
»Gott, er wird schon wiederkommen,« rief Lulu schon ganz kopflos.
Toni Meinert erhob sich, trocknete ihre Tränen und sagte, stolz den Kopf zurückwerfend, sich gerade aufrichtend, in hochmütigem Tone:
»Er wird wiederkommen, meinst du? – Er wird die Gnade haben wiederzukommen? Ja, du hast recht. Er hat vielleicht die Absicht, mich aus Barmherzigkeit, aus Mitleid zu heiraten, um eine eingebildete Pflicht einer Verwandten gegenüber zu erfüllen, einer Waise gegenüber. Er wird mich dann mit sich nach der Südsee, in menschenverödete Länder führen, nachdem er ein Jahr in Berlin zugebracht hat an der Seite einer …«
Sie unterbrach sich voll Ekel und stolzen Widerwillens, um dann weiter fortzufahren: »Nein … dafür danke ich. Ich will weder ein Opfer noch einen solchen Edelmut. Ich gebe ihm sein Wort zurück. Er soll ohne mich dahin zurückkehren. Ich werde allein bleiben. – Mein schöner Traum ist zu Ende.«
Ein Schluchzen erstickte ihre Stimme, und der Schmerz überwältigte ihren Stolz. Lulu, die alle Gefühlsphasen mit ihrer Freundin gleichzeitig durchgemacht hatte, begann nun ebenfalls bitterlich zu weinen. Doch Toni weinte nicht lange. Entschlossen und energisch, jeder Tatsache mutig die Stirne bietend, hatte sie sich wiedergefunden.
»Ich will ihn nicht mehr wiedersehen,« rief sie plötzlich. »Vielleicht aus Furcht, mir Schmerz zu bereiten, würde er mich täuschen und belügen. Und ich will in ihm doch wenigstens noch den Freund und Verwandten achten. Er darf uns hier nicht mehr finden.«
»Was? Du willst weg von hier?« fragte Lulu zu Tode erschreckt.
»Ja, auf der Stelle. Denn er wird erst abends herkommen.«
»Und wohin?«
»Das weiß ich noch nicht. Wohin uns der Weg führt.«
»Schön! Dann reisen wir!« rief Lulu, ebenso rasch entschlossen wie ihre Freundin. Sie erhob sich und ging nach dem Schlafzimmer, von dem – wie wir wissen – eine maskierte, durch einen Schrank verstellte Tapetentür in das Nachbarhaus der Kurfürstenstraße führte.
»Wohin willst du?« fragte Toni.
»Frau Müller den Auftrag geben, unseren Koffer zu packen.«
»Frau Müller ist nicht da. Ich habe sie weggeschickt.«
»Sie muß aber schon wieder zurück sein,« versetzte Lulu, »denn ich habe eben im Schlafzimmer noch Geräusch gehört.«
Lulu öffnete die Türe zum Schlafzimmer, suchte überall, sowohl dort als auch in der Küche und im Vorzimmer, ohne Frau Müller zu finden. Achselzuckend trat sie in den Salon.
»Du hast recht. Sie ist noch nicht da. Das ist doch eigentümlich. Ich hätte darauf geschworen, daß nebenan jemand gegangen wäre. Jedenfalls in der Wohnung nebenan. Die Mauern in diesen neuen Häusern sind ja dünn wie Pappe … Du willst schreiben?«
»Ja,« erwiderte Toni, die sich an den kleinen Schreibtisch setzte. »Ich will nicht so verschwinden, ohne ihn davon zu verständigen. Ich will ihm sein Wort, seine Freiheit wiedergeben. Die Braut hätte vielleicht das Recht, zu verschwinden, ohne ihm eine Aufklärung zu geben; als Verwandte aber schulde ich ihm doch ein Abschiedswort.«
Während Lulu sich entfernte, den Koffer zu packen und alles für die Abreise vorzubereiten, schrieb Toni hastig ein Abschiedswort an Konrad.
Kaum hatte sie den Brief beendet, als Lulu wieder eintrat:
»Alles ist bereit. Ich habe auch im Kursbuch nachgesehen. Der nächste Zug nach Hamburg geht um sieben Uhr zwanzig. Wollen wir nach Hamburg fahren?«
»Meinetwegen auch nach Hamburg,« erwiderte Toni teilnahmslos. »Nur weg, weg, weg von hier!«
Gerade war Frau Müller heimgekehrt. Lulu teilte ihr mit, daß sie mit Toni plötzlich geschäftlich verreisen müßte. Einige Tage wenigstens. Sie solle inzwischen wohl das Haus hüten, und falls sonst noch was wäre, würden sie ihr schreiben.
»Ach Jotte nee! Nu so janz alleene hier in die Wohnung!« klagte Frau Müller, die um Erlaubnis bat, die Damen nach der Bahn bringen zu dürfen, was ihr auch gestattet wurde. Doch Toni trug ihr auf, dann unverzüglich zurückzukehren, um Herrn Arnheim persönlich den Brief zu übergeben, den sie auf den Salontisch gelegt hatte.
Darauf verließen sie alle drei die Wohnung, nachdem Toni noch einen langen Blick in jene Räume geworfen hatte, in denen sie sich geliebt geglaubt und in denen sie so heiß, so innig geliebt hatte.